Strahlt ein Anzug Geradlinigkeit und Kompetenz aus, oder doch eher Arroganz? Gibt es noch „richtige“ Maßschneider in Österreich? Warum sieht Christian Kern im Anzug so „knackig“ aus? Über die Fingernägel des chinesischen Kaisers, den österreichischen Neidfaktor und den Butterfly-Effekt des Schicksals spricht der Wiener Herrenausstatter Martin Sturm mit Muamer Bećirović.
Muamer Bećirović
Herr Sturm, wie ist es, wenn man sich sein ganzes Leben lang nur mit Anzügen beschäftigt? Das muss doch echt mühsam sein! Erzähl mir, wie war’s bei dir? Wann hast du dich dafür entschieden, diesen Weg einzuschlagen?
Martin Sturm
Wir sind eigentlich wie die Jungfrau zum Kind zu der ganzen Sache gekommen. Mein Papa war früher ja auch schon aktiv – gemeinsam mit seinem Companion hat er schon damals 27-28 G’schäft’ln gehabt. Die hat er dann im Jahr ’99 verkauft, der Papa – er war zu jung, um in Pension zu gehen, und ist dann mit 56 Jahren in so ein kleines Loch gefallen. Ihm war fad, er hat keine Hobbys gehabt. Aber, wie der Teufel es wollte, habe ich damals einen lieben Freund gehabt, der Russe war, und wegen seines Vaters zurück nach Moskau musste. Er hat beschlossen, seine besten Freunde mitzunehmen und ihnen dort bestimmte Aufgabengebiete zuzuteilen. Ich war dann – gemeinsam mit meinem Papa – für die Textilien zuständig. Das heißt: Restposten aufkaufen, Überproduktionen nach Moskau bringen und dort weiterverkaufen. Wir waren alle 22-23 Jahre alt und haben uns schon in den Milliarden gesehen – hat natürlich nicht funktioniert. Nun standen wir da – mit hunderten Teilen, die wir für Moskau eingekauft haben, aber nun in Wien herumkugelten. Da haben wir beschlossen: „Wir verkaufen das!“ Begonnen hat das Ganze in einer Art Pop-Up-Store am Julius-Tandler-Platz, den wir für drei bis sechs Monate bekamen. Nach einigen Wochen hat sich dann herauskristallisiert, dass die ganze Sache eigentlich Spaß macht – der Vater natürlich in seinem Metier, er hatte seine Aufgabe, eine Beschäftigung, er steht auf, trifft Leute macht was. Ich war damals 22-23 Jahre alt, und das BWL-Studium war nicht so unbedingt meins. Also haben wir beschlossen: „Vergess‘ ma das, und mach ma das!“ Über die Jahre hinweg haben wir dann alles Mögliche ausprobiert, und nach ein paar Jahren haben wir gesagt: „Wir spezialisieren uns auf die Burschen, auf die Herren!“ Die Idee hat sich damals aus folgender Frage entwickelt: Wenn du einen Anzug brauchst – wo gehst du hin? Du kannst zum Peek & Cloppenburg oder zum Kleiderbauer gehen – oder du gehst zu den Hochpreisigen. Mein Papa und ich haben uns zusammengesetzt und gesagt: „Wir hätten das gerne: Schöne Stoffe, schöne Produktion – bis 400 Euro.“ Nun funktioniert das Ganze – bis heute.
Muamer Bećirović
Es war also Zufall?
Martin Sturm
Kompletter Zufall! Es war in keinster Weise geplant. Mein Vater hat mich damals gefragt, ob ich seine Geschäfte übernehmen möchte, bevor er sie verkauft. Ich war damals 16 – und mit 16 hast du wirklich andere Sorgen. Arbeit – um Gottes Willen, nur nicht arbeiten! Nein, es war wirklich nicht geplant. Wenn das mit Moskau nicht passiert wäre, hätte ich wohl BWL oder Jus studiert. Da studierst halt einmal deine fünf, sechs, sieben Jahre, und dann schaust einmal, was passiert. Keine Ahnung, wo ich heut sitzen würd‘ – aber ich glaube, es geht jedem so, oder? Wenn du diesen einen Entschluss nicht gefasst hättest, oder diese eine Person nicht kennengelernt hättest, dann wär‘ dein Leben ganz anders verlaufen – Butterfly-Effekt, im Großen und Ganzen.
Muamer Bećirović
Kann man wohl so sagen. Ist es ein schöner Beruf – der Beruf des Anzugverkäufers?
Martin Sturm
Ja, es macht immer noch irrsinnig viel Spaß! Besonders schön ist es, meinem Vater zuzuschauen, der die ganze Sache ja schließlich gelernt hat. Der Beruf des Verkäufers ist heutzutage leider Gottes unterm Regalschlichter angesiedelt – du brauchst halt nur noch einen, der die Leiberl zusammenlegt, die am Boden liegen. Auch Beratung wird eher angefeindet als gewünscht – nach dem Motto: „Der will mir doch eh nur einreden, dass ich das kaufen soll!“ Ich will jetzt nicht raunzen, aber gerade beim Anzugkauf ist es wichtig, dass der Verkäufer auch eine gewisse Ahnung hat und den Kunden auch entsprechend beraten kann – nur so kommt der Kunde zum perfekten Anzug.
Muamer Bećirović
Ein perfekter Anzug – glaubst du, dass so etwas Macht ausstrahlt?
Martin Sturm
Hm. Macht eher weniger, ich glaube eher, er strahlt große Seriosität aus. Macht ist für mich negativ belastet.
Muamer Bećirović
(verwundert): Wirklich!?
Martin Sturm
Ja, für mich ist Macht negativ belastet. Denn wozu benutzt man Macht? Um für sich selbst einen gewissen Nutzen herbeizuführen, glaube ich. Ich glaube deshalb eher, ein Anzug signalisiert eine gewisse Art von Geradlinigkeit, von Seriosität – aber Macht? Nein, Macht ist es nicht. Höchstens etwas Arroganz.
Muamer Bećirović
Was denkst du, wieso er das tut? Arroganz ausstrahlen, oder Seriosität? Wenn man über Politiker redet, sagt oft jemand: „Der Anzugträger hat doch keine Ahnung, was los ist!“ und dergleichen.
Martin Sturm
Vielleicht hat das ja einen geschichtlichen Hintergrund. Es war halt nicht für jedermann leistbar, einen Anzug zu haben oder zu tragen. Vielleicht wurden Anzüge deshalb einfach mit einer reichen, vielfach beneideten Oberschicht assoziiert.
Muamer Bećirović
Und heute?
Martin Sturm
Heute? Nun, unter Umständen haben viele Menschen noch immer ein gewisses Bild von Machthabern vor ihrem geistigen Auge. Man denkt oft, dass diese Machthaber mit ihrem Outfit signalisieren oder ausstrahlen wollen, gesellschaftlich höher positioniert zu sein. Jeder weiß: Beim Spar brauchst du keinen Anzug, auch nicht als Installateur – wenn man einen Anzug trägt, signalisiert das: Ah, der ist im Bankensektor! Oder vielleicht im Rechtswesen. Aber auf alle Fälle in einer angesehenen Position. So kommt das vielleicht rüber.
Jeff Mangione (Fotograf)
Der Anzug signalisiert: Du musst nicht körperlich arbeiten. Geistige Arbeit ist in unserer Gesellschaft höher bewertet als körperliche Arbeit. Die langen Fingernägel der Frauen zeigen zum Beispiel, dass sie nicht körperlich arbeiten müssen. Dass sich diese Sache jetzt gerade radikal ändert, ist mir klar. Aber die Tatsache, nicht körperlich arbeiten zu müssen – das ist eine Auszeichnung. Der chinesische Kaiser hatte unglaublich lange Fingernägel – er hat nie etwas berührt. Nicht körperlich arbeiten zu müssen – das war ein Zeichen der Macht.
Martin Sturm
Dazu sagt man auch „Noblesse“. Wenn man am Feld gearbeitet hat, war man logischerweise immer im Bauerngewand unterwegs. Die Noblesse hingegen hat sich geschminkt, und damit den Eindruck erweckt, nicht arbeiten zu müssen und demnach höher gestellt zu sein. Vielleicht wirkt das ja bis heute nach: Ein Anzug wird eben als teures Kleidungsstück angesehen. Natürlich, ein guter Anzug kostet ja gleich einmal mindestens 1.000 bis 5.000 Euro! Wenn man sich die heutigen Durchschnittsgehälter ansieht, dann stellt man schnell fest, dass das ziemlich viel Geld ist. Der Anzugkäufer drückt aus: Er kann sich das leisten. Er trägt mehr oder weniger die Hälfte meines Monatsgehalts – einfach so. Um das zu veranschaulichen: Ein Filialleiter beim Media-Markt verdient 1.800 Euro netto im Monat – ein Filialleiter beim Billa verdient 1.300 Euro. Das heißt, dass Anzugträger mehr Geld haben, und daher auch mächtiger sind – oder zumindest so scheinen.
Jeff Mangione (Fotograf)
Wobei – auch da gibt’s große Unterschiede. Es gibt einen Unterschied zwischen dem schlapprigen, billigen Anzug, den sehr viele tragen und dem James Bond-Anzug, der sitzt wie eine Eins.
Muamer Bećirović
Vielleicht ist das generell eine Art Unterscheidungsmerkmal. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Lehrer für Mathematik im Gymnasium einen auffallend schlechten Geschmack für Anzüge hatten. Lehrer für geisteswissenschaftliche Fächer hingegen waren um einiges besser gekleidet.
Martin Sturm
Es gibt unter Herren diesen Code. Die Inder sagen dazu „Kasten“: Wie lang muss ein Sakko sein? Ist das ein offenes Knopfloch? Welche Krawatte wird getragen? Das wird in bestimmten Kreisen besprochen und festgelegt. Das heißt: Wenn du einen Betrag X verdienst, dann bist du im Kreis Y unterwegs – dort darfst du nichts Anderes tragen als einen Kittel. Auch, wenn du sagst, du brauchst keinen Kittel: Du musst du ihn trotzdem tragen. Und dabei geht es oft um Details. Etwa, ob jemand ein offenes Knopfloch trägt oder nicht. Details, die oft nur unbewusst wahrgenommen werden – aber viel darüber aussagen, wo ein Mensch gesellschaftlich oder in einer bestimmten Gruppe steht.
Muamer Bećirović
Neigt man dazu, Anzugträgern mehr zu vertrauen als léger gekleideten Menschen?
Martin Sturm
Das ist vermutlich auch wieder eine unbewusste Sache. Man sieht eine Person im teuren Anzug und konkludiert: „Aha! Diese Person ist wohl in einer hohen Position, weil sie sich leisten kann, diesen Anzug zu tragen. Das heißt, diese Person muss erfolgreich sein. Das heißt, diese Person ist wohl intelligent oder schlau und weiß, wovon sie spricht. Damit geht vielleicht das Vertrauen einher, das man Anzugträgern entgegenbringt. Na gut, in Wien mag das vielleicht anders sein: Da denkt man: Jeder, der viel verdient, hat das wahrscheinlich irgendwie gestohlen. (lacht) Hab ich das laut gesagt? Aber ich glaube schon, dass bei uns in Österreich ein gewisser Neidfaktor mitspielt. In Amerika fragt man: „How much do you make?“ und das Gegenüber sagt dir auf den Cent genau, was er oder sie verdient. Wenn ich dich jetzt frage: „Was verdienst du im Monat?“, dann heißt es wahrscheinlich: „Das weiß ich jetzt gar nicht.“ Obwohl du es auf den Cent genau weißt. Jeder weiß das. Man möchte sich nur nicht dazu bekennen. Aber ich schweife ab …
Muamer Bećirović
Nein, nein, das ist völlig in Ordnung!
Martin Sturm
Ein Anzug ist jedenfalls kein Freibrief für Vertrauen. Er ist ja genau genommen nur eine Verkleidung, eine Uniform, die man trägt. Trotzdem kann er, wie schon beschrieben, Kompetenz und Seriosität ausstrahlen – aber das alleine reicht nicht. Um als kompetent wahrgenommen zu werden, muss man auch redegewandt sein. Und vielleicht auch ein wenig manipulativ.
Muamer Bećirović
Ich fand den Input mit der „Neidgesellschaft“ sehr spannend.
Martin Sturm
(lacht) Ui, da hab‘ ich mir jetzt was angetan!
Muamer Bećirović
Woher kommt diese “österreichische“ Mentalität, aufeinander neidisch zu sein?
Martin Sturm
Ich glaube, das ist nicht nur ein österreichisches Problem. Aber es mag daran liegen, dass Erfolg bei uns nicht so wertschätzt wird, wie es in anderen Ländern vielleicht der Fall ist. Es tut mir im Herzen weh, wenn jemand sagt: „Der hat’s ja leicht gehabt.“ Es ist sehr ungerecht, zu sagen, dass jemand einfach so in den Erfolg „hineingeboren“ wurde. Da spielt viel Neid mit. Es ist auch eine Art Machtkampf, nach dem Motto: „Wenn‘s mir gut geht, darf’s dir auch gut gehen! Aber wenn’s mir schlecht geht, darf’s dir nicht besser gehen!“, oder etwa: „Du darfst keine schönere Frau haben als ich!“ Warum das so ist? Das kann ich dir nicht sagen. Was sagst du dazu?
Jeff Mangione (Fotograf)
Es gibt ein Wirtschaftsspiel, das sehr cool ist. Es ist so: Das Spiel wird nur einmal gespielt, und du hast nur eine Möglichkeit, für die du dich entscheiden kannst. Die erste Möglichkeit ist folgende: Du bekommst zehn Euro, und alle anderen in der Gruppe bekommen fünf Euro. Oder: Du kriegst 20 Euro, und alle anderen bekommen 50 Euro. Die meisten Menschen entscheiden sich tatsächlich für die zehn Euro, damit alle anderen weniger haben, anstatt sich für die 20 Euro zu entscheiden, weil die anderen dann mehr haben. Menschen müssen sich immer mit anderen Menschen vergleichen – es geht nicht darum, wie viel du hast. Es geht darum, dass du mehr hast als die anderen. Und das geht hoch bis in die höchsten Ebenen des Managements – globale, multinationale Konzerne. Auch dort werden Entscheidungen so getroffen, weil Menschen immer vergleichen: Hauptsache, der Konkurrenz geht‘s noch schlechter! Das ist auch eine Art Tröstungsfaktor. Und genau das ist der Irrwitz an der ganzen Geschichte. Anstatt zu sagen: „Es geht uns so scheiße! Wir müssen Gas geben! Wir müssen den Umsatz erhöhen!“, sagen wir nur: „Uns geht’s schlecht, aber der Konkurrenz geht’s noch schlechter! Haha!“
Martin Sturm
Das ist wie in der Schule. Man kommt nach Hause, und die Mama fragt: „Was hast du eigentlich?“, und du sagst: „Einen Fünfer! Aber die anderen haben ja auch einen Fünfer.“ Oder: Warum funktionieren Fernsehformate wie „Raus aus den Schulden“? Weil wir es lieben, dass es anderen Menschen schlechter geht als uns! Aber wehe, es kommt jemand, dem es besser geht. Ein reicher Vollidiot! Der hat bestimmt gestohlen oder betrogen! Aber, um Gottes Willen, ich möchte mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber was du sagst, ist sehr richtig – man sehnt sich nach dem Trostfaktor. Es gibt immer einen, dem es schlechter geht.
Muamer Bećirović
Ich habe das Gefühl, dass vielen der Erfolg einfach nicht gegönnt wird. Selbst dann, wenn man sich ganz klassisch hocharbeitet. Wenn man zum Beispiel an Didi Mateschitz denkt, oder an Christian Kern …
Jeff Mangione (Fotograf)
… da gibt es einen großen Unterschied. Mateschitz ist ein schlechtes Beispiel, weil er Zahnpasta in Südostasien verkauft hat und dann zufälligerweise auf dieses Ding gestoßen ist, dass es in Südostasien schon vor langer, langer Zeit gab – Energy Drinks. Es gab exakt dieses Rezept in Thailand – er hat überhaupt nichts daran verändert. Er ist ein klassischer Händler. Die Leistung ist okay, die Leistung ist solide. Aber …
Martin Sturm
… aber da sind wir ja wieder beim selben Punkt: „Er hat es ja leicht gehabt! Das Produkt war ja schon da! Er musste ja gar nichts mehr tun!“
Jeff Mangione (Fotograf)
Naja, im Wesentlichen ist es eine Marketing-Leistung, die er vollbracht hat …
Martin Sturm
… ja, und die muss man erst einmal erbringen!
Jeff Mangione (Fotograf)
… er produziert ja nicht einmal selbst. Das ist ein Franchise.
Martin Sturm
Das ist ja noch großartiger!
Muamer Bećirović
Es wird einem einfach nicht gegönnt.
Martin Sturm
Ein Beispiel aus deinem Leben, Muamer: Du bekommst ein Gespräch mit Sebastian Kurz. Du hast viele Journalistenfreunde, die diesen Big Player seit Ewigkeiten wollten, aber nie bekommen haben. Wie viele davon werden dir aus reiner Freundlichkeit und Herzlichkeit gratulieren? Vielleicht deine engsten Freunde. Die anderen aber werden neidisch sein.
Muamer Bećirović
(lacht) Dazu gibt’s ne Story, aber die darf ich öffentlich definitiv nicht erzählen. Aber wenn wir schon bei Sebastian Kurz sind: Kann man die Persönlichkeit eines Menschen eigentlich anhand seines Anzugs deuten? Kurz trägt einen Anzug mit gespreiztem großen Haifischkragen. Sein Sakko-Ärmel ist immer ein paar Centimeter kürzer, als die Ärmellänge des Hemdes. Zudem all seine Hemden für Österreich sehr unüblich, zwei Knopflöcher am Ärmel haben. Der ist wirklich aus einem Guss – es ist Perfektion. Man sieht diese Art von Perfektion in Österreich sehr selten. Ich glaube, dass Sebastian Kurz ein Perfektionist ist. Verstehst du, worauf ich hinauswill?
Martin Sturm
Absolut! Es ist oft nicht das große Ganze, sondern die kleinen Einzelheiten, die sehr viel verraten. Welche Art Krawatte trägt er, welches Hemd? Ist es wirklich gebügelt? Ist das Fischbein drin? Steht der Kragen weg? Passt die Armlänge? Menschen, die eine Liebe zum Detail haben, achten sehr viel auf solche Sachen. Das betrifft nicht nur den Kleidungsstil, das kann man auch beim Einrichten einer Wohnung beobachten. Das alles spiegelt die Persönlichkeit eines Menschen wider – daran glaube ich ganz, ganz fest.
Muamer Bećirović
Es hat ja auch einen Grund, wieso jemand eine gemusterte Krawatte trägt oder ein spitzes Revers hat.
Martin Sturm
Gut, da sind die Geschmäcker verschieden. Und der eigene Geschmack wird auch sehr stark von der Modewelt getrieben. Besonders jüngere Männer kommen oft zu mir, um sich beraten zu lassen, nachdem sie etwa auf Pinterest unterwegs waren. Ältere Männer hingegen sagen oft: „Das habe ich immer schon so getragen – das trage ich weiterhin so!“ Nur nicht mutig werden, nur nicht auffallen, nur nicht verkleiden – einkleiden ja, aber nur nicht verkleiden! Im Mainstream mitschwimmen.
Muamer Bećirović
Genau darauf wollte ich hinaus! Wieso ist Österreich, was Anzüge angeht, so konservativ? Wenn man sich in Italien oder England umschaut – dort werden Anzüge doch längst ganz anders getragen.
Martin Sturm
Es gibt Skandinavien und Italien – das sind die beiden Extreme. Italiener tragen alles schön eng, aber ein breites Revers. Die Skandinavier tragen das eher schmalere Revers. Warum die Österreicher nicht auch einmal Mut zum Stil beweisen? Das ist schwer zu beantworten – ich kann es dir nicht sagen.
Muamer Bećirović
Ecken wir vielleicht ungern an?
Martin Sturm
Ja, das auf alle Fälle. Das merkt man auch bei Diskussionen in Social Media. Es gibt sehr viele Menschen, die keinen Kommentar mehr abgeben, weil sie Angst haben, dass sie von anderen mit Fakten bloßgestellt werden.
Muamer Bećirović
Ist das bei Kleidung auch so? Ich habe mir von Italienern sagen lassen, dass sie sich beim Ausgehen so kleiden, als würden sie eine Hochzeit besuchen.
Martin Sturm
Absolut. Schau‘ dir die Mädels an! Die Mädels putzen sich dort auf, als wären sie auf der Suche nach ihrem Prinzen. Auch die Burschen – die haben ein Gespür dafür, ziehen sich schick an, mit Stecktüchern und Krawatten, und zelebrieren Mode. Bei uns das anders – bei uns ist der Anzug ein Mittel zum Zweck. In der Arbeit wird Anzug getragen – und das war’s. Man ist froh, ihn am Wochenende nicht tragen zu müssen. Man müsste es genau umgekehrt sehen: Man sollte froh darüber sein, dass man als Mann ein solches Kleidungsstück tragen darf – ein Kleidungsstück, mit dem man sich spielen kann; ein Kleidungsstück, mit dem man seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen kann!
Jeff Mangione (Fotograf)
Ich finde, man merkt sehr schnell, wenn jemand einen Anzug trägt, weil er muss. Der ist dann dementsprechend verschlampt.
Martin Sturm
Er ist meistens viel zu groß, oder die Proportionen passen nicht. Ein Anzug muss knackig geschnitten sein, er muss passen. Du musst ihn spüren, du musst sagen „Das ist er!“. Du musst vorm Spiegel stehen und sagen: „Perfekt!“. Ich glaube, wenn du gut angezogen bist, trittst du auch ganz anders auf, weil du auch mehr oder weniger eine Art Schutzschild aufziehst. Du bist selbstbewusster, du gehst auch ganz anders, wenn du dich in deinem Anzug gut fühlst. Du marschierst wie ein Pfau. Du sprichst plötzlich Mädels an. Du wirst auch ganz anders wahrgenommen, du wirst anders behandelt. Probier’s einmal! Geh‘ einmal zum Mercedes-Händler, in der abgefuckten Jeans, und sag‘: „Ich möchte nur schauen“. Binnen zwei Sekunden fliegst du raus. Wenn du aber cool wie James Bond im Anzug vorbeikommst und sagst: „Grüß Gott! Haben Sie den S63 lagernd?“, dann kriegst du sofort einen Kaffee angeboten. Überspitzt gesagt.
Muamer Bećirović
Wenn wir schon bei James Bond sind: Warum kostet ein Anzug von Tom Ford 10.000 Euro?
Martin Sturm
Das kann ich jetzt schwer beurteilen. Aber natürlich, weil es schick ist, Tom Ford zu tragen. Wie schon gesagt: Wenn man in gewissen Kreisen ist, dann muss man gewisse Sachen tragen. Ob er schön ist oder nicht, ist in dem Fall vollkommen wurscht. Aber ich erkenne, ob du ihn trägst oder nicht. Wenn ich ihn trage und du auch, dann weiß ich, wir sind auf einer Ebene. Wir können miteinander kommunizieren. Ich sage: „Du, ich habe mir letztens einen Porsche um 70.000 Euro gekauft“. Du sagst: „Uh, welcher?“ Dann nenne ich dir das Modell. Und du sagst daraufhin: „Uh! Den suche ich schon die ganze Zeit!“ Wenn ich jemandem ohne Tom-Ford-Anzug sage: „Du, ich habe mir letztens einen Porsche um 70.000 Euro gekauft“, dann wirst du merken, dass sich der andere eher zurückziehen wird. Weil er sagt: „Das ist nicht meine Welt!“ Das sind Statussymbole. Jeder weiß, was sie kosten. Warum kauft man sich einen Porsche – die Tatsache, dass das ein super Auto ist, lassen wir mal außen vor. Nun, weil jeder weiß, dass ein Porsche viel Geld kostet! Warum kauft man sich Uhren? Uhren sind Meisterwerke, natürlich. Aber primär geht es darum, dass sie teuer sind! Und das muss man zu erkennen geben.
Muamer Bećirović
Aber was ist der Unterschied zwischen einem Tom Ford und einem Brioni, oder etwa einem Kiton?
Martin Sturm
Brioni und Kiton sind natürlich eine andere Welt als ein Tom Ford, und deshalb gar nicht vergleichbar. Die Herstellung, die Machart, die Stoffe und der Komfort unterscheiden sich hier schon fundamental. Diese Hersteller haben damals ja auch James Bond ausgestattet. Pierce Brosnan hat einen Brioni getragen. Daniel Craig trägt Tom Ford.
Jeff Mangione (Fotograf)
Daniel Craig hat in seinem ersten Bond-Film auch einen Brioni getragen, wenn ich mich recht entsinne.
Martin Sturm
Qualitativ sind Brioni oder Kiton von der Stange natürlich ein absolutes Highlight. Angeblich brauchen die bei Kiton 20 bis 25 Stunden – nur für die Schulter! Ob das stimmt, weiß ich nicht. Was aber stimmt ist, dass dort alles vererbt wird: Hat der Großvater dort gearbeitet, dann arbeitet der Vater auch dort, und danach der Sohn. So werden etwa Bügeltechniken über Generationen weitergegeben. Ich habe einmal meinen Hersteller gefragt, ob man so etwas nachmachen oder manipulieren kann. Der chinesische Markt funktioniert schließlich so: Man bringt einen Hugo-Boss-Anzug nach China und verlangt ein identes Plagiat – und man bekommt es. Aber die meisten schaffen es nicht, weil sie die Maschinen nicht haben und ihnen das Know-How fehlt. Sie wissen nicht, wie es geht. Sie können es nicht.
Muamer Bećirović
Krass!
Martin Sturm
Es gibt viele Dinge, die können einfach nur wenige Menschen. Probier‘ doch einmal einen Kantschnitt. Wenn du den Außen- mit dem Innenstoff handpikierst, hast du eine gebogene Nadel und einen viel zu langen Faden. Du darfst das nicht zu fest und nicht zu lose machen, sonst zieht’s nicht zusammen. Das kann ja niemand. Es will auch niemand mehr. Vielleicht, weil es schlecht bezahlt ist, vielleicht, weil sich jeder fragt: „Warum soll ich das machen?“ Das sind Dinge, die dann aussterben. Auch wirklich Maßschneider sterben aus. Es gibt ja nur noch wenige. Das kann sich ja auch keiner mehr leisten! So eine Ausbildung dauert drei bis fünf Jahre – erst dann darfst du als Maßschneider arbeiten! Das dauert Ewigkeiten.
Muamer Bećirović
Gibt es in Wien noch krasse Maßschneider?
Martin Sturm
Ja, in Wien gibt’s schon noch ein paar. Der Knize am Graben zum Beispiel. Oder der Niedersuesz. Dann gibt es noch einen im Neunzehnten in der Silbergasse – da habe ich den Namen vergessen. Das sind jedenfalls die letzten wirklichen Maßschneider. Und leider Gottes wird der Maßanzug mit der Maßkonfektion verwechselt – Maßkonfektion ist ja ein Schlupfgröße, die man anpassen und individualisieren kann. Man kann das Innenfutter färben lassen, die Initialen einnähen lassen oder den Stoff aussuchen, aber das Schlupfmaß wird trotzdem industriell hergestellt. Beim Maßschneider hingegen beginnst du bei null.
Muamer Bećirović
Was ich sehr spannend finde: Alle Tageszeitungen, die ein Portrait über den neuen Bundeskanzler Christian Kern verfasst haben, nannten ihn den „Maßschneideranzugträger“. Woran merkt man das eigentlich? Ich habe mir viele Bilder von ihm angeschaut und sehe jetzt keinen großen Unterschied – außer einer zweiten Seitentasche.
Martin Sturm
Man erkennt als Laie wahnsinnig schwer, ob der Anzug qualitativ hochwertig ist oder nicht. Die Passform ist ja keine Frage des Preises. Du erkennst es nur an den Kleinigkeiten. Schau‘ aufs Weberetikett, das ist wichtig. Von wem ist der Anzug? Kannst du das Durchknöpfen? Ist das geklebt oder pikiert? Dann musst du schauen, wie das zusammenheftet ist. Sind das Steinnussknöpfe oder billige Plastikknöpfe? Hast du einen Halbmondriegel? Man werfe einen Blick auf das Innenfutter: Ist das ein Plastikfutter oder nicht? Dann greifst du den Anzug an, tastest ab, wie er sich anfühlt. Wie ist die Hosenform? Gibt es eine Dornenschlaufe beim Gürtel? Im Fall von Christian Kern habe ich festgestellt, dass er sehr gerne die Figur betonende Anzüge trägt. Es schaut alles sehr knackig aus.
Muamer Bećirović
Barack Obama ist für mich ein gutes Beispiel. Bei dem wirkt das ja so, als hätte man den Anzug auf ihn gegossen.
Martin Sturm
Die Amerikaner haben allgemein eine andere Philosophie, was Kleidung angeht. Die tragen die Hosen sehr gerne kurz – die klassische Frank-Sinatra-Linie, also eher der italienische Stil. So sind die Leut‘ halt verschieden in verschiedenen Kulturen.
Muamer Bećirović
Das ist ja eine regelrechte Wissenschaft.
Martin Sturm
Selbstverständlich.