„Lernen S' a bisserl Geschichte, Herr Reporter!“, zischte Bruno Kreisky einmal recht schnippisch zu einem Reporter. Wahrlich kann man sich ihr nicht entziehen, dieser Geschichte. Geschichte, ob nun episch oder historisch erzählt, hat die Vergangenheit geprägt. Doch auch dorthin, wo wir heute stehen, hat uns die Geschichte geführt. Zu meinen, ihren Fängen nicht unterworfen zu sein, kann wohl nur von manifester Verweigerung des Realen zeugen. Im Gespräch mit Muamer Bećirović zeigt Ex-Diplomat und nunmehriger niederösterreichischer Landesrat für Wohnbau, Arbeitsmarkt und internationale Beziehungen Martin Eichtinger auf, wie bedeutsam Geschichte für die Diplomatie ist, erklärt, warum die Briten so „special“ sind, weshalb Botschafter vor Ort auch mit vermeintlich dekadenten Kulturveranstaltungen einen wichtigen außenpolitischen Dienst leisten und die Hintergründe, wieso Verträge manchmal Gegenstand eines sprichwörtlichen Schrilltons sind.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 24. Juni 2020, fotografiert hat Samuel Erik Colombo.
Muamer Bećirović
Sind Sie Jurist?
Martin Eichtinger
Ja, bin ich.
Muamer Bećirović
Bereuen Sie es?
Martin Eichtinger
Nein, Jurist zu sein ist, finde ich, eine unglaublich umfassende Ausbildung, und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, dass man den Einblick kriegt, wie unser Staatswesen wirklich funktioniert. Es ist auch ein vielfältiger Beruf, den ich aber nie vorhatte auszuüben. Ich habe deshalb in Graz auch Russisch studiert, weil ich seit meiner Gymnasiumszeit Diplomat werden wollte. Das hat sich später auch als richtig herausgestellt, weil man bei der Aufnahmeprüfung in das Außenministerium für jede zusätzliche Sprache Extrapunkte bekommen konnte, also je mehr Sprachen, desto besser. Ich glaube, dass das Jus-Studium eine perfekte Basis ist, auf die man sehr viele Berufe aufsetzen kann, weil man sehr strukturiert denken lernt und weil man letztlich weiß, wie der Staat funktioniert.
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(…) man braucht für die Diplomatie ein großes Geschichtswissen, (…)Martin Eichtinger über die Bedeutung der Geschichte
Muamer Bećirović
Wenn man sich die Bediensteten im Staatsdienst ansieht, dann sind das zumeist Juristen. Es sind kaum Geisteswissenschaftler wie Historiker dabei. Ist die Kritik denn nicht richtig, dass man Nationen nur dann verstehen kann, wenn man ihre Geschichte kennt?
Martin Eichtinger
Nein, man braucht für die Diplomatie ein großes Geschichtswissen, und darauf wird auch in Österreich Wert gelegt. Man kann die Diplomatenprüfung in Österreich nicht bestehen, wenn man nicht ein gutes Wissen in Geschichte hat. Das gefürchtete Buch der Diplomatenprüfung war „Historie diplomatique de 1919 à nos jours“ von Jean-Baptiste Duroselle. Das ist die Diplomatiegeschichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. Das Buch hat 850 Seiten, ist also ein ordentlicher Wälzer, den man durcharbeiten muss, ehe man bei der Diplomatenprüfung antritt. Wenn man ihn erarbeitet hat, sodass man ihn auch wiederholen beziehungsweise erläutern und erklären kann, dann hat man zumindest im 20. Jahrhundert ein sehr gutes Geschichtswissen. Auch bei der mündlichen Diplomatenprüfung werden historische Fragen gestellt – die Entwicklung des Nahost-Konflikts seit der Balfour-Erklärung zum Beispiel. Als Diplomat muss man in der Geschichte bewandert sein. Wenn man als Botschafter in ein anderes Land geht, ist das erste, was man tut, die Geschichte des Landes zu lesen, weil sich unglaublich viel aus dem Land nur über seine Geschichte erklärt. Es gibt viele Besonderheiten in Ländern, die absolut unlogisch wären, wenn man sie nicht aus der Geschichte heraus betrachten würde.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Aber trotzdem scheint das Geschichtsstudium ja eher ein „Lernt man so nebenbei“-Studium zu sein. Warum ist das der Fall? Warum wird zum Beispiel Jus wertvoller angesehen als Geschichte?
Martin Eichtinger
Naja, wenn ich Geschichte alleine studiere, dann sind meine Berufsmöglichkeiten natürlich limitierter. Ich kann einerseits ins Lehramt gehen. Man kann Archivar in einem Museum werden oder an der Universität als historischer Forscher arbeiten. Aber natürlich ist das Jus-Studium viel anwendungsfreundlicher, weil es eine Vielzahl von Berufsmöglichkeiten eröffnet. Aber ich glaube, dass letztlich kein Beruf an historischem Wissen vorbeigeht. Selbst wenn ich Techniker bin, muss ich die Geschichte der technischen Entwicklungen zurückverfolgen, sonst kann ich mir nicht erklären, wie es dazu gekommen ist. Dieser Spruch „Wenn ich die Geschichte nicht kenne, dann weiß ich auch nicht, wohin ich gehe“, weil du die Entwicklung nicht verfolgen kannst, ist für jede Berufssparte gleichermaßen zutreffend. Vor allem eines möchte ich noch dazusagen: Ich glaube, dass es gerade heute unglaublich viele Historiker gibt, die enorm populär sind, die in der Lage sind, die Leute mit ihren historischen Romanen – aber durchaus auch auf wissenschaftlicher Basis – so zu faszinieren, dass die Geschichte eigentlich zu einer spannenden Literaturgattung geworden ist. Was war der ganz große Bestseller vor vier Jahren?
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(…) ich glaube, dass letztlich kein Beruf an historischem Wissen vorbeigeht. Selbst wenn ich Techniker bin, muss ich die Geschichte der technischen Entwicklungen zurückverfolgen, sonst kann ich mir nicht erklären, wie es dazu gekommen ist.Martin Eichtinger über die Relevanz von Geschichte im Berufsleben
Muamer Bećirović
„Die Schlafwandler“?
Martin Eichtinger
„Die Schlafwandler“, Christopher Clark. Jeder hat „The Sleepwalkers“ (englischer Originaltitel des vorhin genannten Buches; Anm.) gelesen. Plötzlich hat man diskutiert, wie es zum Ersten Weltkrieg kam. Unglaublich toll!
Muamer Bećirović
Aber hätten die Leute damals gewusst, welche Auswirkungen ihre Aktionen haben könnten, hätten sie es ja auch nicht gemacht.
Martin Eichtinger
Da gibt es ein Zitat von Ingeborg Bachmann: „Die Geschichte lehrt ständig, aber sie findet keine Schüler.“ Das hat etwas für sich, weil wir auch im 20. Jahrhundert, und auch jetzt, zyklisch immer wieder die gleichen Problemsituationen wiederholen, und sehr oft begehen wir auch die Fehler der Vergangenheit. Ich meine, wenn man sich zum Beispiel die internationale Handelspolitik ansieht: Sanktionen, Gegensanktionen, Eskalation der Sanktionen und Nachteile für die Volkswirtschaft. Wir wissen, jede Sanktion, jede Handelsbeschränkung, bedeutet schlussendlich einen Wohlstandsverlust. Das haben wir alles durchgespielt. Das geht zurück bis zu den Sanktionen gegen Serbien in der Monarchie und den Schweinekrieg. Wir haben das alles über die Jahrhunderte immer wieder gesehen, aber wir begehen trotzdem zyklisch immer wieder dieselben Fehler.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Weil es zu wenig Historiker im Staatsdienst gibt? Ich habe den Eindruck, dass es die einzige Disziplin ist, die alle Disziplinen umfasst wie Militärgeschichte, Diplomatiegeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte. Mir ist keine Wissenschaft bekannt, die derart versucht, alle Variablen, die eine Nation bewegt, zu umfassen.
Martin Eichtinger
Absolut. Aber es gibt auch keinen, der letztlich geschichtsfern etwas weiterentwickeln kann. Was macht jeder, der eine weitere Entwicklung in einem Bereich vorantreiben will? Er erkundigt sich einmal, wie es dazu gekommen ist.
Muamer Bećirović
Ja, aber anscheinend nicht im Staatsdienst. Die meisten Leute im Staatsdienst sind Juristen. Diese spezialisieren sich innerhalb der Bürokratie sehr stark. Es fehlt allerdings an Menschen, die den Überblick und eine geistige Tiefe mitbringen.
Martin Eichtinger
Jetzt bringe ich ein Gegenbeispiel. Gehen Sie auf irgendeine Website eines österreichischen Unternehmens. Der erste Abschnitt lautet „Über uns“, „Über unsere Geschichte“. Und dann geht es zurück bis zum Ursprung des Unternehmens, wie es entstanden ist und wer es gegründet hat, wie es groß geworden ist. Es gibt nicht ein Unternehmen, das diesen Rückblick nicht unternimmt, wo es doch zumeist viel stärker an Profit und der Jetzt-Zeit orientiert ist. Jedes Unternehmen schaut auf seine Geschichte, weil diese Entwicklung einen Eigenwert hat und die Basis für weitere Entwicklungen ist.
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Es gibt viele österreichische Politiker, die ein enormes Geschichtswissen haben.Martin Eichtinger über die Geschichtskenntnisse österreichischer Politiker
Muamer Bećirović
Warum ist das bei der Politik dann gerade anders?
Martin Eichtinger
Ist es nicht.
Muamer Bećirović
Ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die an der Macht sind, Systemanalyse betreiben. Aber das ist zu wenig. Ökonomen, Politikwissenschaftler und Juristen sind vor allem Systemanalysten. Aber Geschichte ist wesentlich komplexer. Sie können Geschichte nicht prognostizieren. Alle anderen Wissenschaften versuchen das allerdings.
Martin Eichtinger
Also ich kenne von den österreichischen Top-Politikern, von denen ich mit einzelnen auch arbeiten durfte, keinen, der sich nicht enorm für Geschichte interessiert hätte. Es gibt einige herausragende, Wolfgang Schüssel, der ein brillanter Historiker ist, Alois Mock, der die französische Geschichte in so einem Detail gekannt hat, dass er allein schon in französischer Geschichte promovieren hätte können, einen enorm geschichtlich bewanderten Franz Fischler. Es gibt viele österreichische Politiker, die ein enormes Geschichtswissen haben.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Nehmen wir ein Beispiel wie eine Nation mit Geschichte umgeht: Der Brexit. Das ist doch ein enormer Machtverlust. Aber die Briten machen es trotzdem.
Martin Eichtinger
Es ist ein Machtverlust. Aber jetzt könnte man genau umgekehrt argumentieren. Diese Gegenargumentation ist aus der britischen Geschichte heraus zu erklären. Denn das Hauptargument der Brexiteers ist: „British Law for British Citizens. Wir haben das älteste Parlament der Welt. Warum sollten uns die Europäische Union, das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof sagen, was wir zu tun haben, wo wir doch das älteste Parlament haben, wo wir doch in Wahrheit die parlamentarische Demokratie erfunden haben?“ Also fußt der ganze Brexit-Gedanke und die Frage der Rückgewinnung der Souveränität von Großbritannien eigentlich auf einem Geschichtsbewusstsein, dass man eine so überlegene Art der parlamentarischen Demokratie hat, dass es einen Verlust für Großbritannien bedeutet, wenn man sich souveränitätsmäßig in Europa unterordnet.
Muamer Bećirović
… aber zugleich wissend, dass man kein Imperium mehr ist, das man einmal vor hundert Jahren war, aber trotzdem aus einem Imperium aussteigt. Ich würde die Europäische Union als Imperium bezeichnen. Was für sie ausschließlich Machtverlust bedeutet, ist irrational und für niemanden, der in Großbritannien nationale Interessen verfolgt, nachvollziehbar.
Martin Eichtinger
Es ist für sie ein wirtschaftlicher Verlust. Die absolut überzeugten Austrittsbefürwortern sagen aber: „Die Rückgewinnung der Souveränität muss uns etwas wert sein und wir müssen den Verlust dafür in Kauf nehmen“, wissend, dass sie wirtschaftlich geschwächt werden und dass sie tatsächlich einen Schaden davontragen. Dass man einen Machtverlust erleidet, ist schon nicht mehr die allgemeine Meinung in Großbritannien. In Großbritannien geht man davon aus, dass Europa eine der Optionen der Briten ist. Eine andere Option ist die englischsprachige Welt. Die Briten sagen: „Ihr klammert euch an die Europäische Union, denn ihr habt nichts anderes. Aber wir, wir haben unsere Freunde in der Welt, wir haben die Amerikaner, die Kanadier, die Australier, die Neuseeländer. Wir haben die englischsprachige Welt, die uns ganz nahe liegt, der wir oftmals verwandtschaftlich verbunden sind. Wir haben eine politisch zwar nicht sehr schlagkräftige, aber doch bedeutende internationale Organisation mit dem Commonwealth of Nations, und wir sehen das Friedensprojekt Europa anders, weil wir Briten es jedes Mal waren, die nach Europa gekommen sind und Europa von Diktatoren befreit haben, und sichergestellt haben, dass Europa weiterhin eine demokratische Zukunft hat. Was für euch die Friedensgeschichte Europas ist, ist für uns die Heldengeschichte unserer beiden Weltkriege.“ Damit tauschen sie den Gedanken des Verlusts einer Macht im „Imperium Europa“ gegen den Gedanken einer Völkerfamilie, die ihnen auch nahesteht. „Europa? Ja, steht uns nahe, aber ist für uns nicht die einzige Lösung. Für euch in Europa ist es für viele die einzige Lösung, aber wir haben auch andere Optionen.“
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In Großbritannien geht man davon aus, dass Europa eine der Optionen der Briten ist. Eine andere Option ist die englischsprachige Welt.Martin Eichtinger über das britische Selbstverständnis
Muamer Bećirović
Als weiterer Bundesstaat der Vereinigten Staaten wird das nicht funktionieren.
Martin Eichtinger
Nein, das wäre vollkommen ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil, im Vereinigten Königreich ist auch eine Gegenbewegung entstanden. Das war auch dem Eintritt Großbritanniens in den Irak-Krieg 2003 geschuldet, als Tony Blair auf den bloßen Hinweis der Amerikaner, dass es Massenvernichtungswaffen im Irak gäbe, mit in den Krieg gegangen ist. Da gab es damals den Vorwurf, die Briten seien der Pudel der Amerikaner und kämen einfach überall hin mit. Da hat es dann eine große Zurückhaltung gegeben: „Bei Abenteuern der Amerikaner werden wir nicht mehr dabei sein“. „Special Relationship? – Yes“, aber nur bis zu einem Punkt. Man hat hier durchaus mit einer gewissen Distanzierung begonnen, und diese Distanzierung ist derzeit sicher auch gegeben, weil Großbritannien sich zu vielen außenpolitischen Themen anders entschieden hat, als sich Donald Trump es gewünscht hätte. Als Beispiel nenne ich die Iran-Sanktionen. Die Russland-Sanktionen zählen nicht dazu. Aber auch die britische Haltung bei den Zöllen und der US-amerikanischen Androhung von Zöllen auf Autos aus Europa. Natürlich hat sich Großbritannien auf die Seite der Europäischen Union gestellt und in den Verhandlungen den Amerikanern gesagt, dass sie keine Zölle einführen könnten, weil das Eskalation bedeuten würde. Also die Briten waren da bei manchen Themen ganz auf der europäischen Seite und in Gegnerschaft zu den Amerikanern – trotz ihrer „Special Relationship“, und obwohl sie durch den Brexit wussten, dass sie die engen Beziehungen zu Amerika in Zukunft brauchen würden, haben sie dennoch bei einigen für Trump wichtigen Themen die Seite Europas gewählt.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Aber sie verlieren Einfluss auf europäischem Boden. Massiv.
Martin Eichtinger
Sie verlieren auf europäischem Boden Einfluss. Aber sagen wir es so: Es wird enorm davon abhängen, wie sich die Situation ab dem Austrittszeitpunkt entwickelt (Diese Passage wurde leicht angepasst, da das Gespräch ursprünglich im Herbst 2019 geführt wurde; Anm.). Es wird ganz davon abhängen, wie Großbritannien beabsichtigt, sein künftiges Verhältnis mit der Europäischen Union zu gestalten. Denn Großbritannien möchte im Sicherheitsbereich, also im polizeilichen und im militärischen, im Wissenschaftsbereich, im Wirtschaftsbereich ganz eng mit Europa kooperieren. Zudem dürfen wir nicht vergessen: Großbritannien hat die zweitgrößte Armee in der NATO, hat einen globalen militärischen und sicherheitspolitischen Anspruch. Mit der zweitgrößten Armee der NATO hat es auch die Hardware, um viele ihrer außenpolitischen Positionen entsprechend zu untermauern. Für Europa muss man sagen, wenn sich Großbritannien von Europa zur Gänze abwendet, ist die europäische Sicherheit insgesamt auch reduziert. Es ist für uns ein Nachteil, weil Großbritannien als sicherheitspolitischen Faktor der Europäischen Union weltweit eine enorme Geltung verschafft hat.
Muamer Bećirović
Es mag zwar sein, dass sie in ihren Entscheidungen autonomer werden, aber nehmen wir als Beispiel die Europäische Integration in außenpolitischen und militärischen Fragen. Angenommen sie vervollständigte sich und ein deutscher Kanzler und ein französischer Präsident schafften es, zumindest ein gewisses europäisches, einsatzbereites Truppenkontingent zu schaffen. Großbritannien bliebe bei dieser Entscheidung außen vor. Angenommen, Europa verträte seine Interessen militärisch.
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Die Diplomatie ist unglaublich transparent geworden. Die Diplomatie ist heute etwas, wo jede Bürgerin und jeder Bürger mitlesen kann.Martin Eichtinger über den Wandel der Diplomatie
Martin Eichtinger
Nichts ist endgültig. Bei den Römer Verträgen in den 1950er-Jahren war Großbritannien mit einer Delegation bei den Verhandlungen vertreten. Kurz vor dem Abschluss, als die sechs Gründungsstaaten – Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten – die Römer Verträge unterschrieben haben, ist die britische Delegation abgereist. Es gibt Zitate, die aber nicht ganz wissenschaftlich belegt sind, die dem Delegationsleiter der Briten zugeschrieben werden:
„Meine Herren, was Sie hier machen, wird nie funktionieren. Wenn es aber funktioniert, dann will Großbritannien nicht dabei sein.“ Das entspricht aber auch dem, was Winston Churchill in seiner berühmten Rede im Jahre 1946 gesagt hatte: Er sehe die Vereinigten Staaten von Europa, aber Großbritannien werde nicht dabei sein. Es werde Geburtshelfer sein, aber
nicht dabei sein. Und trotzdem, weil Europa so ein großes Erfolgsprojekt war, konnte Großbritannien in den 1970er-Jahren nicht daran vorbeigehen, den Europäischen Gemeinschaften beizutreten. Großbritannien sucht jetzt nach einem Alleingang, der auch eine Momentaufnahme ist, nämlich der Moment des Brexit-Referendums, an dem eine große Zahl von Briten von der innereuropäischen Migration überfordert war, an dem vor allem ältere Menschen auch vielleicht in Rückbesinnung auf eine frühere Größe gesagt haben:
„We can do it alone“, und an dem jetzt Großbritannien sagt, sie schauen sich an, wie sie das alleine machen können.
Und dennoch, alles ist im Fluss! Wenn sich Europa so entwickelt, wie Sie das gerade gesagt haben, und wir zu mehr Einheit kommen, schlagkräftig in der Außenpolitik werden, wettbewerbsfähig auf globaler Ebene werden, glaube ich fest daran, dass in zehn bis 15 Jahren eine neue Generation von Briten sagt: „Das ist ein Erfolgsprojekt, da müssen wir wieder dabei sein“, und wieder in die Europäische Union zurückkommt.
Muamer Bećirović
Das glaube ich auch.
Martin Eichtinger
Ja! Weil schon jetzt ist die Jugend in Großbritannien extrem pro-europäisch. Jüngst gab es eine Untersuchung – ich weiß nicht, wie wissenschaftlich diese war – die nahelegt, dass bis zu drei Millionen der 17 Millionen, die für den Brexit gestimmt haben, mittlerweile gar nicht mehr wählen könnten. Denn der Anteil der sehr betagten Briten war sehr hoch! Diese sind zu 60 Prozent zur Abstimmung hingegangen und haben zu 80 Prozent für den Brexit gestimmt. Die Jugend ist zu 20 Prozent hingegangen und hat überwiegend für „Remain“ gestimmt. Aber es ist absolut nicht ausgeschlossen, dass die Briten nach einer Versuchsperiode sagen, dass die EU so erfolgreich ist und wirtschaftlich so von Interesse, wie in den 1970er-Jahren, dass sie dann zu uns zurückkehren. Denn letztlich gilt: „Never say never.“
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Jetzt waren wir bei praktischen Dingen. Was mich jetzt interessieren würde: Sind Diplomaten heute eigentlich zu einer Art Event-Organisatoren geworden? Im Vergleich: Im 19. Jahrhundert hatten Diplomaten ziemlich viel Autonomie und Entscheidungsgewalt. Wenn man sich das im Zeitalter der Echtzeit-Kommunikation ansieht, ist das wohl anders, weil wahrscheinlich jeder Diplomat am Telefon hängt, um Entscheidungen seines Bosses weiterzuleiten, oder?
Martin Eichtinger
Der Beruf des Diplomaten hat sich dramatisch verändert, keine Frage. Wenn wir in das 19. Jahrhundert zurückgehen: Es war Geheimdiplomatie, es war eine Diplomatie der Kabinette – wenn man „The Sleepwalkers“ liest, waren das die diplomatischen Verstrickungen, Vereinbarungen, Abkommen, die so ineinander verwoben waren, dass sie letztlich zum Ersten Weltkrieg geführt haben. Damals geschah alles natürlich ohne moderne Kommunikationsmittel. Eine Depesche aus Sankt Petersburg an den Hof in Wien war gut und gerne 14 Tage, manchmal drei Wochen unterwegs, das heißt, die diplomatischen Berichte waren nie zeitaktuell. Das war aber auch nicht erforderlich, weil auch die Entscheidungen nicht so schnell getroffen wurden. Damals war es eine Diplomatie, die eigentlich überhaupt keine Transparenz gekannt hatte, und das war dann letztlich auch ein wesentlicher Grund, dass es zum Ersten Weltkrieg kommen konnte.
Der entscheidende Wendepunkt, an den denken vielleicht nicht so viele, war das Jahr 1928: Der Briand-Kellogg-Pakt. Das war ein internationales Abkommen, ein Pakt, der den Krieg als Mittel der Diplomatie geächtet hat. Das hat im Völkerbund lange gebraucht, bis man auf die Idee gekommen ist, dass eigentlich der Krieg – im 19. Jahrhundert Königgrätz, der Deutsch-Französische Krieg, später der Erste Weltkrieg – als Mittel der Diplomatie nicht zulässig sein darf. Mit dem Jahr 1928 ist der Krieg als Mittel der Diplomatie geächtet worden. Ab damals konnte sich auch ein Herrscher nicht mehr darauf berufen, er habe jetzt die Kriegserklärung abgegeben, weil das die nächste Stufe der Diplomatie sei. Stattdessen hat man begonnen, nach der Verantwortung für die Opfer des Krieges zu suchen, was von den Nürnberger Prozessen bis zum Internationalen Strafgerichtshof geführt hat, wo man heute für die Verantwortung für einen Krieg letztlich strafrechtlich verurteilt werden kann. Das heißt, wir sind von einem 19. Jahrhundert, in dem es in der Obliegenheit eines Herrschers war, zu sagen, er führe Krieg, zum heutigen Tag gekommen, an dem der Krieg völkerrechtlich geächtet ist und jemand, der einen Krieg vom Zaun bricht, und das Verbrechen des Krieges und Verbrechen im Krieg herbeiführt, dafür auch verurteilt werden kann und ins Gefängnis geht. Wir haben einen großen Wandel durchgemacht in der Frage der Diplomatie, weil Krieg heute kein Mittel der Diplomatie mehr ist.
Aber was ganz entscheidend ist: Die Diplomatie ist unglaublich transparent geworden. Die Diplomatie ist heute etwas, wo jede Bürgerin und jeder Bürger mitlesen kann. Denn alles, was in der Diplomatie passiert, jede Vertragsverhandlung, jeder Vertragsabschluss, zum Beispiel die Debatte über CETA, alle diplomatischen Aktionen sind heute mitlesbar, sind ein Teil der Demokratie und sind nachvollziehbar. Das ist der wesentliche Unterschied. Ein Botschafter in einer diplomatischen Mission ist zunächst einmal ein Manager, weil er mit seinem Personal und seinen Ressourcen bestmögliche Erfolge erzielen muss. Was sind die Erfolge? Die Interessen des Staates bestmöglich zu vertreten. Das ist aber ein ganzes Bündel an Interessen. Es gibt die landläufige Idee, dass der Diplomat am Abend bei einem Empfang steht, mit einem Sektglas in der Hand, und horcht, ob er irgendetwas Spannendes erfährt. Der Job des heutigen Diplomaten ist das Wahrnehmen der Interessen seiner Staatsbürger, wie zum Beispiel im Falle des Brexit dafür zu sorgen, dass die Rechte der Österreicherinnen und Österreicher im Vereinigten Königreich gewahrt werden, dass sie in dem Prozess des Brexits nicht benachteiligt werden, weil sie in Zeiten der EU-Mitgliedschaft die gleichen Rechte wie britische Bürger hatten und nach einem Austritt diese Rechte nicht verlieren dürfen, dass man sich um jeden einzelnen Staatsbürger kümmert, wenn es einen Terroranschlag gibt, dass man schaut, wo die Österreicher sind und ob jemand zu Schaden gekommen ist, oder dass man hilft, einen Österreicher, der in Haft ist, zu besuchen, anwaltlichen Beistand zu organisieren, und vieles mehr.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Ein gewisser Gestaltungsspielraum.
Martin Eichtinger
Das eine ist die konsularische Tätigkeit, die sehr wichtig für die Anerkennung der Diplomaten ist. Interessanterweise hat auch die Europäische Union die konsularischen Tätigkeiten noch nicht vergemeinschaftet. Warum? Es wäre doch logisch, dass in einer Hauptstadt wie Buenos Aires nicht mehr 28 EU-Botschaften eine Konsularabteilung haben, sondern es eine EU-Konsularstelle gibt, die sich um die Konsularangelegenheiten aller EU-Bürger kümmert. Warum ist es nicht dazu gekommen? Bei den Verhandlungen über den Vertrag von Lissabon hat Österreich genau das vorgeschlagen, ganz intensiv unterstützt vom damaligen Generalsekretär Hans Kyrle, der leider nicht mehr lebt. Er hat sich damals intensiv dafür eingesetzt hat, dass die EU einen konsularischen Dienst bekommt. Das war vielen Staaten in der EU nicht recht, weil sie gemeint haben, das sei der Moment, wo ich als Staat mit meinen Bürgerinnen und Bürgern in persönlichen Kontakt trete und meinen Bürgern beweisen kann, dass mein auswärtiges Netz eine Hilfestellung geben kann. Wenn ich diese direkte Kontaktmöglichkeit mit meinen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr habe, bin ich auf die Fragen der Außenpolitik reduziert, bei der sich die Bürger oft fragen, wozu man dieses diplomatische Netz überhaupt noch braucht.
Aber sprechen wir über die anderen Punkte: Das reicht von der Kulturdiplomatie, Wissenschaftsdiplomatie, Wirtschaftsdiplomatie bis zur politischen Diplomatie. Alle diese Bereiche haben eine enorme Bedeutung. Ich gebe nur ein Beispiel: Als österreichischer Botschafter in Bukarest war ich jede Woche mit einem Generaldirektor oder einem Unternehmensvertreter bei einem Staatssekretär oder einem Minister, weil es darum gegangen ist, entsprechende Bescheide oder Genehmigungen herbeizuführen, die alle langsam gegangen sind, zu beschleunigen, nachzufragen, zu unterstützen, wenn es Probleme gegeben hat. Viel in der Wirtschaft ist Kontaktpflege, ist Netzwerken, ist Anlaufstellen schaffen. Der Botschafter hat da eine sehr große Mittlerfunktion, und kann den Unternehmen seines Landes eine enorme Hilfe sein, um sie in den jeweiligen Markt einzuführen und die entsprechenden Kontakte herzustellen, oder auch um Business Opportunities zu erkennen.
Wissenschaftsdiplomatie: Die Förderung des wissenschaftlichen Austausches ist ein ganz großes, zentrales Element. Wir haben zum Beispiel im Außenministerium zwei Offices of Science and Technology. Eines in Washington, eines in Peking. Das sind Schaltstellen oder Drehscheiben, die den Austausch zwischen den Ländern fördern und die sehr präzise wissen, wer im anderen Land welche Forschungen betreibt, wo zum Beispiel in den USA Österreicher in den Forschungsinstituten sitzen und wo man Kooperationen schaffen kann. Das sind diese Mittlerfunktionen. Letztlich ist jeder Botschafter ein permanenter Brückenbauer.
Und jetzt kommen wir zur Diplomatie im engeren Sinn: Ich glaube, dass der Botschafter in der politischen Diplomatie eine ganz wichtige Rolle hat. Durch die von Ihnen vorher angeführte Informationsschwemme, 24-Stunden-News-Cycle, ununterbrochen neue Nachrichten, riesige Mengen an Publikationen, Social Media, Online-TV, 24-Hour-News-Channels, wird es immer wichtiger, dass es Leute vor Ort gibt, die die entsprechende Nachrichtenflut reduzieren. Man könnte ein bisschen von einer Pfadfinderfunktion sprechen, einem Scouting. Man schaut nach: Was ist für mein Land relevant, wirklich wichtig, und was noch wichtiger ist: Wenn ich in dem Land lebe, bekomme ich ein Verständnis dafür, warum Dinge sich entwickeln und Entscheidungen getroffen werden, wie sie getroffen werden. Für viele Österreicherinnen und Österreicher ist es heute nahezu unvorstellbar, dass trotz der klaren wirtschaftlichen Nachteile, die Großbritannien durch den Brexit hat, es immer noch zwei nahezu gleich große Lager gibt – derer, die bleiben wollten, und derer, die gehen wollen. Jedes Mal, wenn ich einen Brexit-Vortrag halte oder dazu befragt werde, fragen meine Gesprächspartner aus Österreich: „Die haben doch schon gesehen, dass alles schlechter wird. Das Wachstum ist gesunken, der Pfund hat 20 Prozent verloren, Großbritannien hat plötzlich fast 3 Prozent Inflation, vor ein paar Jahren hatten sie noch null, die Investitionen gehen zurück – naja, die werden ja schon eingesehen haben, dass das alles ein Fehler war. Wenn jetzt ein neues Referendum kommt, das geht doch mit einem Ergebnis von 80 Prozent für Remain, 20 Prozent Brexit aus.“ Wenn man dann den Leuten sagt, die Camps seien nach wie vor annähernd gleich groß, dann versteht das keiner. Das kann man nur aus eben der britischen Betrachtungsweise verstehen, die ich nur dort, wenn ich vor Ort lebe, erkennen kann. Das heißt, die Analysefunktion eines Botschafters ist entscheidend, Sie beruht wieder auf dem Kontaktnetzwerk, das er hat. Ein Botschafter sollte im Regelfall eine sehr offene, kommunikative Persönlichkeit sein, denn das Netzwerk ist sehr entscheidend, und für Regierungen ist diese Scouting-Funktion von größter Bedeutung. Wie finde ich in kürzester Zeit aus der Flut an Informationen heraus, was relevant und wichtig ist, und was wirklich stimmt und wie die Entscheidungen vor Ort gesehen werden? Diese Analysefunktion obliegt dem Botschafter und das ist die entscheidende Grundlage für Zuhause.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Ja, aber sie entscheiden nicht. Das ist das Problem.
Martin Eichtinger
Ja, aber es gibt einen guten Spruch: „Ein guter Botschafter schreibt sich die Weisungen selbst.“ (Bećirović lacht) Den hat mein erster Boss im Außenministerium geprägt. Und das stimmt. Denn wenn ich als Botschafter dort in der Analyse die Entscheidungen der österreichischen Außenpolitik so aufbereite, dass ich eine klare Option als beste Option darstelle, dann wird auch diese Option gewählt, weil niemand in der Zentrale glauben wird, dass er es besser weiß als der, der das vor Ort analysieren kann und vor Ort die entsprechenden Kontakte hat. Daher gibt es diese Einflussmöglichkeit.
Muamer Bećirović
Zu den Faktoren, die ein Diplomat oder ein Außenpolitiker bedenken muss, bevor er seine Entscheidungen trifft: Ich denke daran, dass die Deutsche Einigung unter Otto von Bismarck nicht so verlaufen wäre, wenn es beispielsweise eine Atombombe gegeben hätte. Oder ein anderes Beispiel: Früher konnte man anhand der Demografie und der Bevölkerungszahl entscheiden, wie viele Soldaten man einsetzen kann und gegebenenfalls verlieren kann. Heute geht das nicht mehr.
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Ich glaube, dass der Botschafter in der politischen Diplomatie eine ganz wichtige Rolle hat. Durch die (…) Informationsschwemme, 24-Stunden-News-Cycle, ununterbrochen neue Nachrichten, riesige Mengen an Publikationen, Social Media, Online-TV, 24-Hour-News-Channels, wird es immer wichtiger, dass es Leute vor Ort gibt, die die entsprechende Nachrichtenflut reduzieren. Man könnte ein bisschen von einer Pfadfinderfunktion sprechen, einem Scouting.Martin Eichtinger über die Bedeutung von Botschaftern
Martin Eichtinger
Ja, das ist das, was ich vorhin gesagt habe, dass Krieg als Mittel der Diplomatie gar nicht mehr zulässig ist. Aber um auf Bismarck und die Atombombe zurückzukommen: Die Atombombe war bisher, mit Ausnahme von Hiroshima und Nagasaki (Eichtinger klopft auf Holz), eigentlich immer ein Instrument des Gleichgewichts des Schreckens. Es war das Verständnis aller jener, die eine Atombombe besitzen, und all jener, die eine Aktion hätten setzen können, um zu provozieren, dass eine Atombombe nie zum Einsatz kommen darf. Deshalb ist auch diese österreichische Abrüstungsinitiative so spannend, die meint, man solle sämtliche Atombomben auf der Welt einfach radikal beseitigen. Warum? Weil sich jeder bewusst ist, dass ein Einsatz einer Atombombe, mit der entsprechenden Eskalation, die folgen würde, zur Auslöschung der Menschheit führt. Macht es denn Sinn, eine Waffe zu haben, die ich nie verwenden kann, bei der aber auch mein Gegner weiß, dass ich sie nie verwenden kann? Macht das dann überhaupt Sinn? Daher muss man sich fragen, ob es in einer Situation, in der unter Bismarck die deutschen Fürstentümer Atombomben gehabt hätten, es ein Gleichgewicht des Schreckens gegeben hätte. Es hätte wahrscheinlich jeder vom anderen gewusst, dass er sie sowieso nicht einsetzen kann und es wäre wieder zurückgeschwappt auf das Feld der herkömmlichen Diplomatie, der Verhandlungen, und eines Armdrückens hier und dort, weil die Atombombe als solche nicht einsetzbar gewesen wäre.
Muamer Bećirović
Aber ich habe den Eindruck, dass die Tatsache, dass mein Gegner mich vollends auslöschen kann, genauso wie ich ihn vollends auslöschen kann, generell das diplomatische Vorgehen reduziert. Heute würde doch in Wirklichkeit niemand mehr über Territorien streiten, weil ich weiß, was potenziell schief gehen kann, wenn jemand eine Atombombe abfeuert.
Martin Eichtinger
Aber warum ist die internationale Gemeinschaft in der Frage der Urananreicherung im Iran so alarmiert? Warum ist die internationale Gemeinschaft bei den Atomversuchen in Nordkorea so alarmiert und warum hat die UNO Sanktionen verhängt?
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Weil gerade bei diesen Ländern unklar ist, wie sie reagieren würden. Russland und die Vereinigten Staaten kennen sich und man weiß ungefähr, wie der andere reagiert. Bei Nordkorea hat man von außen zumindest kaum ein Gefühl für das Denken seiner politischen Klasse.
Martin Eichtinger
Es ist ein Maß an Sicherheit, aber es ist auf der anderen Seite so, dass unter dem Schirm des Gleichgewichts des Schreckens ja die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und Amerika mit äußerster Härte und diplomatischem Geschick geführt wurden und es auf der Ebene darunter, auf der konventionellen Ebene, trotzdem um die Einflusssphären der Sowjetunion in Afrika, in Lateinamerika und Asien ging.
Muamer Bećirović
Und es wurden Stellvertreterkriege geführt.
Martin Eichtinger
Stellvertreterkriege, die aber ganz offen unterstützt waren. Letztlich war es Schachspielen mit einem Weltschach.
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Hätte Amerika eine Atombombe in Zentraleuropa abgeworfen oder gezündet, wenn die Sowjetunion in Deutschland einmarschiert wäre? Nach Hiroshima und Nagasaki?Martin Eichtinger fragt sich, ob die USA auch auf Europa Atombombe abgeworfen hätte
Muamer Bećirović
Aber der Unterschied liegt bei den fundamental wichtigen Interessen. Wäre Russland in Deutschland einmarschiert, hätten die Amerikaner Atombomben eingesetzt, zweifelsfrei. Bei den wichtigsten Dingen, die sie für ihre Kerninteressen gehalten haben, haben sie keinen Fußbreit nachgegeben. Das finde ich interessant! Das gilt auch für die Kuba-Krise.
Martin Eichtinger
Hätte Amerika eine Atombombe in Zentraleuropa abgeworfen oder gezündet, wenn die Sowjetunion in Deutschland einmarschiert wäre? Nach Hiroshima und Nagasaki?
Muamer Bećirović
Ich habe mir Kissingers Biografie durchgelesen. Er hat gemeint, mit dem Schritt wäre es aus gewesen.
Martin Eichtinger
Wissen wir es? (schmunzelt) Wir wissen es nicht.
Muamer Bećirović
Das Interessante ist, wie sehr der Umstand, dass man schlicht so eine Waffe besitzt, den Umfang des Handels eingrenzt. Früher war das Spielen auf dem geopolitischen Schachbrett ein viel spannenderes, ein viel umfangreicheres.
Martin Eichtinger
Unser Argument bei der großen Nuklearabrüstungsinitiative, die Österreich ja mitgestartet hat, ist, dass es diesen Spielraum, diese Einschränkung gar nicht gibt, weil der Einsatz dieser Waffe undenkbar ist, weil er zur Auslöschung der Menschheit führt. Wenn es diese Verwendung der Waffe nicht gibt und geben kann und denkunmöglich ist, ist es so, als wäre sie nicht existent, und man könnte sie dementsprechend auch gleich abschaffen. Es schränkt nicht ein, weil sie nicht anwendbar ist.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Die Frage ist, wie weit man gehen würde. Ein revolutionäres Jahrhundert, wie es das 19. war, in dem die geographische Karte buchstäblich dauernd hin- und hergeschwappt ist, wäre heute im 21. Jahrhundert nicht möglich.
Martin Eichtinger
Nein, aber das haben wir ja auch vertraglich festgelegt. Ich meine, was war der wesentliche Punkt der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; Anm.)? Das war eine Festlegung, dass es keine Grenzverschiebungen in Europa geben darf. Dann war da dieser große Aufschrei als der Beisatz „außer mit friedlichen Mitteln“ kam, nicht wahr? Die Kosovo-Frage: Hier gab es einen großen Aufschrei. Denn man hat eine Grenze in Europa nicht mit friedlichen Mitteln verschoben, was aber eigentlich ausgeschlossen war. Das heißt, diese geografischen Veränderungen hatte man ein für alle Mal beiseitegelegt und hat gesagt, das könne in Europa nicht mehr vorkommen.
Muamer Bećirović
Auf Verträge kann aber gepfiffen werden.
Martin Eichtinger
Ja, wie wir bei der Krim gesehen haben: Auf Verträge kann gepfiffen werden. Natürlich. Deshalb gibt es auch diese große Schwierigkeit im Verhältnis zu Russland, weil es insbesondere für kleine Staaten in Europa einfach nicht akzeptabel sein kann, dass so ein eklatanter Bruch des Völkerrechts irgendwann einmal akzeptiert wird. Das ist jetzt wie eine ständige Wunde in unseren völkerrechtlichen Verträgen und Bestimmungen, dass hier solch eine Annexion passiert ist, und dass damit Fakten geschaffen wurden.
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Oft erwischt man mit Handelsbeschränkungen, Sanktionen und Zöllen die eigenen Unternehmen, die ihre Vorprodukte dringend für die Produktion brauchen und die man mit Sanktionen an den Rand des Konkurses bringt.Martin Eichtinger über Sanktionen
Muamer Bećirović
Denken Sie, dass im Vergleich zum 19. Jahrhundert, in dem die Faktoren, die man mitbedenken musste, relativ überschaubar waren, die Welt um einiges komplexer ist? Ist die Diplomatie dadurch auch komplexer geworden?
Martin Eichtinger
Die Konsequenzen, auch von Handelsstreitigkeiten, sind komplexer geworden. Nehmen wir wieder das Beispiel des Brexits. Ein Brexit ohne ein Abkommen, ein vollständiger Bruch mit der Europäischen Union, hätte und würde unglaubliche wirtschaftliche Konsequenzen entfalten, und zwar nicht nur im bilateralen Verhältnis der Lieferungen. Wir dürfen nicht vergessen, dass in der globalisierten Welt die Unternehmen so miteinander verflochten sind, dass man durch eine einzelne Aktion oft das Gegenteil von dem erreicht, was man bekommen möchte. Oft erwischt man mit Handelsbeschränkungen, Sanktionen und Zöllen die eigenen Unternehmen, die ihre Vorprodukte dringend für die Produktion brauchen und die man mit Sanktionen an den Rand des Konkurses bringt. Das heißt, die Welt ist durch die Globalisierung so komplex geworden, dass oft einzelne Maßnahmen in ihrer vollen Reichweite nicht erkennbar sind. Es ist unglaublich viel schwieriger geworden, weil eigentlich die Basis, auf der man arbeitet, die der internationalen Kooperation ist, einer benevolenten Kooperation, bei der man gemeinsam versucht, für Völker den Wohlstand zu maximieren, bei der man eigentlich in dieser globalisierten Welt, in der alles miteinander verknüpft und verwoben ist, ja nicht davon ausgegangen ist, dass irgendwer einmal das System missbraucht oder in dem System Schranken einführt oder das System zerstört. Die Idee der Vereinten Nationen und aller anderen internationalen Organisationen war die Wohlstandsmaximierung für die gesamte Menschheit, die Menschen aus der Armut zu führen, bei gleichzeitigem Schutz der Umwelt, unseres Klimas und unserer Erde; sehr, sehr positive Ziele, die aber immer die Grundvoraussetzung hatten, dass alle fair daran beteiligt sind und bei dieser internationalen Zusammenarbeit mitspielen.
© Samuel Erik Colombo
Muamer Bećirović
Aber vor dem Ersten Weltkrieg beispielsweise war die wirtschaftliche Vernetzung zwischen Deutschland und England auch sehr eng. Das hat sie trotzdem nicht davon abgehalten, gegeneinander Krieg zu führen.
Martin Eichtinger
Das ist richtig. Aber das waren zum damaligen Zeitpunkt viel mehr bilaterale Warenlieferungen. Supply Chains, wie sie jetzt weltweit funktionieren, gab es damals nicht. Ich meine, was war die Reaktion der Chinesen auf die amerikanische Androhung der Sanktionen? Die Chinesen haben einmal festgestellt, dass die Seltenen Erden, die eigentlich nur in der Zentralafrikanischen Republik und in China vorkommen, auch für die amerikanische Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Das waren in der Zeit des 19. Jahrhunderts natürlich viel klassischere Wirtschaftssanktionen:
„Du lieferst mir das, ich lege Zölle drauf, damit werden deine Produkte teurer und du wirst sie bei mir nicht mehr verkaufen.“ Das war straight-forward.
Mittlerweile sind die Vernetzung und die Verquickung der weltweiten Produktionsprozesse so, dass eine Sanktion, die wirklich gezielt jemanden trifft, fast nicht mehr durchführbar ist. In den meisten Fällen treffen Sanktionen, die ich zum Beispiel gegen ein diktatorisches Regime in Kraft setze, immer die einfache Bevölkerung, weil sich meistens die Potentaten mit ihrer Clique in irgendeiner Weise anders behelfen können oder auf andere Weise zu ihren Notwendigkeiten kommen.
Das Problem, das die Diplomatie leider so oft hat, ist genau die Frage der Sanktionen. Wenn jemand gegen die Regeln der internationalen Gemeinschaft verstößt, was hat man dann für Sanktionsmöglichkeiten? Ich breche die diplomatischen Beziehungen ab. Das ist eine Androhung. Ich führe Sanktionen ein? Das mag sich gegen die Bevölkerung dort richten und die Potentaten in Wahrheit gar nicht treffen. Von dort weg ist die weitere Eskalation dann eigentlich fast nicht mehr möglich. Oft fehlen mir in der internationalen Diplomatie die Mittel, jemanden in die Schranken zu weisen, der sich gegen die internationale Gemeinschaft stellt. Das ist ein echtes Problem. Die Eskalationsstufen sind wenige. Was ist passiert im Fall der Krim?
Muamer Bećirović
Sanktionen.
Martin Eichtinger
Dann noch schwerere Sanktionen. Aus.
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Aber die ursprüngliche Idee der Vereinten Nationen, Krieg zu verhindern, hat man nur einmal versucht umzusetzen, nämlich während des Korea-Krieges, indem eine UNO-Armee in ein Krisengebiert einmarschiert ist, um dort Frieden herzustellen. Das ist damals von einem Mandat des Sicherheitsrates getragen worden (…). Seitdem der Sicherheitsrat nicht mehr funktioniert, ist sozusagen die friedensschaffende Möglichkeit der Vereinten Nationen zurückgedrängt.Martin Eichtinger über das Scheitern der Vereinten Nationen
Muamer Bećirović
Schwierig.
Martin Eichtinger
Warum? Weil letztlich auch das UN-System, wie es ursprünglich konfiguriert wurde, in der Form nicht funktioniert; weil der Sicherheitsrat blockiert ist; weil es dort die Veto-Möglichkeiten gibt; weil letztlich das System des Sicherheitsrates und der permanenten Mitglieder mit ihrer Veto-Möglichkeit auch verhindert haben, dass man den Sicherheitsrat und die Vereinten Nationen reformiert. Das heißt, man hat ein System aus dem Jahr 1945 mit der Veto-Möglichkeit der Großmächte, in dem viele große Mächte dieser Zeit nicht einmal vertreten sind. Aber die ursprüngliche Idee der Vereinten Nationen, Krieg zu verhindern, hat man nur einmal versucht umzusetzen, nämlich während des Korea-Krieges, indem eine UNO-Armee in ein Krisengebiert einmarschiert ist, um dort Frieden herzustellen. Das ist damals von einem Mandat des Sicherheitsrates getragen worden und der Sicherheitsrat hat damals die Befehlshoheit über die UNO gehabt. Seitdem der Sicherheitsrat nicht mehr funktioniert, ist sozusagen die friedensschaffende Möglichkeit der Vereinten Nationen zurückgedrängt. Damals war es die Idee, dass sobald jemand in der internationalen Gemeinschaft gegen das Völkerrecht verstößt, alle anderen Staaten gemeinsam eine Aktion setzen und eine Armee entsenden, um den betreffenden zur Raison bringen. Das wurde ein einziges Mal gewagt und hat dann letztlich doch nicht funktioniert.