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Gespräch N° 39 | Kultur

Cecily Corti

„Wir sind zu einer Gesellschaft von Zuschauern geworden“

Cecily Corti betreibt als Obfrau des Vereins „Vinzenzgemeinschaft St. Stephan“ mehrere niederschwellige Notschlafstellen und Wohnprojekte für Obdachlose, wie etwa die VinziRast-Gemeinschaft in Wien. „Ich tue nichts Außergewöhnliches. Ich tue, was zu tun ist, nicht mehr“, sagt die 77-jährige. Denn: „Jeder von uns trägt für den Zustand in der Welt Mitverantwortung.“ Was die mit adeligen Wurzeln geborene Steirerin dazu bewegt hat, Ihr Leben dem Einsatz für Obdachlose zu widmen, warum der Staat nicht lieben kann und warum sie die Begriffe Erfolg und Misserfolg aus ihrem Wortschatz gestrichen hat, sagt Corti im Gespräch mit Muamer Bećirović.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 24. Juli 2017, fotografiert hat Julius Hirtzberger.
Muamer Bećirović
Sie sprechen im Hinblick auf ihre obdachlosen Gäste von bedingungsloser Akzeptanz. Ich habe diesen Gedanken weitergeführt und mir die Frage gestellt, wie man auf diese Idee kommt – selbst wenn man diesen Willen der Veränderung als persönliches Motto verinnerlicht. Sie haben das Heft des Handelns in die Hand genommen und beschlossen, sich für Obdachlose zu engagieren. Können Sie das erklären?
Cecily Corti
Dieser Gedanke ist über Jahre gereift. Das hatte sowohl mit einer inneren Sehnsucht wie auch mit äußeren Konstellationen zu tun. Mein Mann war gestorben, meine drei Söhne waren erwachsen. Ich musste auch kein Geld verdienen, da ich eine Witwenpension hatte. So war ein Freiraum entstanden, den ich sinnvoll nutzen wollte. Über viele Jahre hatte mich schon interessiert, was es wirklich heißt, Mensch zu sein. Was macht den Unterschied, wenn ich mir das bewusst mache? Meine Überzeugung, dass jeder von uns für den Zustand in der Welt Mitverantwortung trägt, war sehr stark ausgeprägt. Mir ist das Jammern auf die Nerven gegangen, immer ist jemand an irgendetwas schuld – natürlich in erster Linie Politiker und Organisationen. So sind wir zu einer Gesellschaft von Zuschauern geworden und ohne es zu merken, beschädigt das unsere Würde. Ja, die Politiker haben Verantwortung für vieles, aber für mich ist klar, dass jeder, jede von uns Anteil hat, sowohl an der Zerstörung als auch an der Weiterentwicklung unserer Welt. So wollte ich das mir Mögliche tun, um meiner Sehnsucht zu folgen, für eine Welt, in der ich leben möchte.
Muamer Bećirović
Was diesen Bereich angeht, sind Sie wohl einzigartig. Mir sind nur wenige Personen bekannt, die in Ihrer Sache so viel bewirken.
Cecily Corti
Das höre ich gerne. Aber wissen Sie, mir ist das nicht bewusst. Ich habe auch nie gedacht, dass sich aus den Anfängen der „VinziRast“ (so heißt Frau Cortis Einrichtung; Anm.) so viel entwickeln könnte. Ich denke, ich habe ein gewisses Organisationstalent mitbekommen. Aber entscheidender war sicherlich, mein Wille durch meinen gelebten Alltag dem Ausdruck zu geben, woran ich tief in mir glaube: an Wahrheit, an Solidarität, an Schönheit und – auch wenn es pathetisch klingt – an die Liebe. Als ich als junges Mädchen erstmals ein Buch mit Fotos eines Konzentrationslagers mit riesigen Leichenbergen sah – das ist mir noch immer ganz präsent –, da wusste ich von den beiden Möglichkeiten in uns: Leben zu zerstören oder Leben zu fördern, hervorzubringen und zu begleiten. Wie kann ich verhindern, der Zerstörung von Leben beizutragen? Es geht um Lebendigkeit! Um Anteilnahme, um Empathie! Wie viele Menschen haben aufgegeben? Ich sehe es an ihren Gesichtern, an ihren Bewegungen. Das Leben ist nicht so gelaufen, wie sie sich das vorgestellt haben.
Muamer Bećirović
Sie meinen, dass sich diese Menschen mit dem Zustand unserer Welt abgefunden haben.
Cecily Corti
Ja, oder vielmehr mit ihrem Leben. Das macht mich traurig. Vielleicht täusche ich mich, aber besonders oft sehe ich das bei Frauen.
Muamer Bećirović
Das ist interessant.

 

 

© Julius Hirtzberger

Cecily Corti
Das Leben bietet so viel. Mich hat immer interessiert, zu lernen, zu wachsen. Unser Dasein ist von so kurzer Dauer – was mir natürlich noch bewusster wird, je älter ich werde. Was ist die Essenz des Lebens? Was heißt dieses Leben für mich? Ich weiß, wovon ich spreche, habe es ja erlebt in einer Phase meines Lebens, in der ich kurz davor war, aufzugeben. Ich war am tiefsten Grund angekommen – da habe ich Gott sei Dank doch noch ein Fünkchen Lebendigkeit in mir gespürt.
Muamer Bećirović
War es Hoffnung oder Lebendigkeit?
Cecily Corti
Sehnsucht nach Leben, nach wirklicher Lebendigkeit. Da waren Zeichen, die mich an Freude erinnert haben. Das konnte z.B. eine Sendung im Radio sein, die ein plötzliches Interesse geweckt hat. Da habe ich Leben gespürt.
Muamer Bećirović
Erlauben Sie mir, das kurz umzumünzen. Der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt wurde einmal gefragt, wieso er eigentlich Politik mache. Er meinte, es stecke im Bewusstsein, für das Allgemeinwohl tätig zu sein, eine Passion innerer Zufriedenheit. Jetzt würde mich interessieren, ob sie in Bezug auf Ihre Tätigkeit ähnlich denken: Gibt die Passion, für das Allgemeinwohl tätig zu sein, Zufriedenheit?
Cecily Corti
Ich würde es nicht so ausdrücken. Ich würde eher sagen, dass es mir gut geht, wenn ich dem Leben diene. Das klingt ziemlich abgehoben. Ich meine, das was Leben fördert, was lebendig macht, macht mich gleichzeitig lebendig. Ich habe ja Glück, ich habe mit so vielen Menschen Kontakt, bin mit Menschen und Schicksalen konfrontiert, die mich berühren und mich bis an meine Grenzen fordern. Natürlich kann das belasten, es schafft aber auch Erfahrungsräume, Einsichten, auch eine gewissen Freiheit. Ich tue nichts Außergewöhnliches. Ich tue, was zu tun ist, nicht mehr. In der Regel verschaffen wir den Menschen keine Wohnung, keine Arbeit, oder zumindest nur selten. Wir bemühen uns eher um eine Atmosphäre der Solidarität, der Zusammengehörigkeit, ohne Urteil, ohne Vorurteil. Natürlich haben die letzten Jahre mein Leben verändert. Das sind langsame Prozesse, die fast unbemerkt vor sich gehen. Irgendwann merkt man zum Beispiel, wie eng das eigene Leben verläuft, wenn man Menschen in Schubladen steckt.
Muamer Bećirović
Ja, natürlich.
Cecily Corti
Die vielen Vorurteile, die uns begleiten, die Erwartungen, die wir haben; sie engen uns ein. Warum scheitern Beziehungen so oft? Wie oft enden sie in Hass und Krieg? So ist die Qualität der Beziehung an sich für mich immer wichtiger geworden. Für mich sind bessere Beziehungen die Basis für eine bessere Gesellschaft.
Muamer Bećirović
Das hört sich bei Ihnen nach mehreren Faktoren an. Ich zum Beispiel bin politisch tätig und tue es mit dem Bewusstsein, dass es dem Allgemeinwohl dient – etwas Größerem, als ich es bin. Es erfüllt mich mit einer inneren Zufriedenheit, dass ich für das Allgemeinwohl tätig bin. Es macht mich, wenn Sie so wollen, eine Spur glücklich.

 

Cecily Corti
Toll. Doch wie messen Sie, dass sie dem Allgemeinwohl etwas Gutes tun? Woran merken Sie das?
Muamer Bećirović
Es beginnt damit, dass ich mich mit dem Allgemeinwohl auseinandersetze.
Cecily Corti
Mit dem Zustand der Welt, sozusagen.
Muamer Bećirović
Genau, also in dem Rahmen der Welt, in der ich mich bewege – ob es nun beispielsweise mein Bezirk ist, der ein Jugendzentrum braucht, oder nicht. Und es erfüllt mich dann schon so mit Zufriedenheit, wenn Sie so wollen, dass ich es plötzlich mit meiner Aktivität dazu bringen kann, dass vielleicht ein Jugendzentrum gebaut und eröffnet wird. Und der Zufriedenheitsgedanke kommt daher, dass durch dieses Wirken, genau durch dieses Jugendzentrum, junge Menschen morgen vielleicht von der Straße wegkommen, und einen neuen Weg einschlagen. Vielleicht ist gerade das Jugendzentrum ausschlaggebend dafür, dass sich bei ihnen etwas im Leben zum Positiven verändert. Und diese Arbeit macht mich innerlich zufrieden. Da gibt es ein beeindruckendes Zitat von Willy Brandt: „Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht dazu da ist, den Menschen das Leben etwas leichter zu machen.“
Cecily Corti
Da haben Sie vollkommen Recht. Sie bewirken auf Ihrer Ebene vielleicht Ähnliches wie ich auf meiner.
Muamer Bećirović
Aber ich möchte Ihre Motivation herausfinden, das ist es! Ich kann mir meine ja erklären.
Cecily Corti
Ich habe vor 30 Jahren die Praxis der Meditation kennengelernt. So bin ich mit der Stille vertraut geworden. Sie wurde zu einem wesentlichen Faktor meines Alltags. In der Stille erlebe ich eine tiefe Verbundenheit mit der Welt, mit allem was lebt. Natürlich hat das auch zu mehr Sensibilität geführt, Sensibilität der Natur, der Tierwelt gegenüber. Leider bin ich da immer noch viel zu wenig konsequent, aber das Bewusstsein ist geschärft. Ich neige grundsätzlich nicht zu Radikalität.

 

Cecily Corti

© Julius Hirtzberger

Muamer Bećirović
Aber das hört sich bei Ihnen so an, als wäre Ihre Motivation auch eine Art Selbstfindung.
Cecily Corti
Ich denke, das lässt sich da nicht vermeiden – ist ja auch kein Schaden.
Muamer Bećirović
Aber auch der Wille, zu helfen, scheint bei Ihnen eine sehr große Rolle zu spielen. Ich habe in einem Artikel eine Dachüberschrift gelesen, in der Sie meinten, Sie wollten unbedingt ein Zahnrädchen verändern.
Cecily Corti
Ein was?
Muamer Bećirović
Ein Zahnrädchen im großen Uhrwerk verändern.
Cecily Corti
Das ist ein Irrtum. Ich habe nie an Großes gedacht. Ich wollte, wie gesagt, einfach tun, was zu tun ist, und klein anfangen. Ja, als ich sehr jung war, da hatte ich so Ideen: Ich wollte eine Spur hinterlassen.
Muamer Bećirović
Genau!
Cecily Corti
Das vergeht sehr schnell, ich wollte dann sehr bald nur das Leben meistern – so wie es daherkommt. Aber geblieben ist mir wohl immer ganz wesentlich: Die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält. Da spielt auch die Zeit, die es braucht, keine Rolle, solange ich das Gefühl habe, dass es Sinn macht. Gut gefällt mir das Zitat von Vaclav Havel: „Hoffnung meint nicht der Glaube, dass das, was du tust, gut ausgeht, sondern die Überzeugung, dass das, was du tust, Sinn macht – egal, wie es ausgeht.“ Wir sind total auf Erfolg orientiert; alles muss ein Ziel haben, das es zu erreichen gilt. Wenn es nicht klappt, ist es ein Misserfolg.
Muamer Bećirović
Ja …
Cecily Corti
Ich mache immer mehr die Erfahrung, dass meine Gedanken und Gefühle, vor allem aber meine klaren und voll bewussten Absichten meine Zukunft beeinflussen. Je klarer meine Intentionen, umso eher richten sich die Kräfte und Möglichkeiten aus und werden Wirklichkeit. Natürlich hat das zur Voraussetzung, dass ich herausfinde, was ich eigentlich will. Was ist meine Wahrheit?
Muamer Bećirović
Mir fällt auf, dass sie eine sehr … philosophische Ader haben, wenn Sie so wollen.
Cecily Corti
Das beschäftigt mich natürlich. Das hat mein Leben mit sich gebracht, dass ich mich mit diesen Fragen auseinandersetze. Dabei hat mich nie die Theorie der Philosophie interessiert, vielmehr das, was sich aus der Erfahrung ergibt.
Muamer Bećirović
Ja, das ist schon interessant. Aber was glauben Sie: Leben wir, aus Ihrer Sicht, weil Sie ja auch Notfallstellen für Obdachlose anbieten, in einer hilfsbereiten oder gar gerechten Gesellschaft?
Cecily Corti
Das kann ich Ihnen so nicht beantworten. Ich kenne nicht die Statistiken. Was wir definitiv wissen ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter  auseinandergeht. Wir wissen auch, dass es viele Menschen gibt, die ganz selbstverständlich helfen, wenn sie unmittelbar mit einer akuten Not konfrontiert sind. Ich denke, wir sind als Menschen auf Kooperation angelegt, das liegt in unserer Natur. Das haben wir auch auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise erlebt. Trotzdem habe ich ein Problem mit dem Wort „helfen“. In unserer Notschlafstelle bekommen die Menschen für die Nacht ein sauberes Bett, ein gutes Abendessen, Bekleidung, sie können duschen. Ja, das mag in diesem Augenblick, für diese eine Nacht helfen. Aber hilft ihnen das, ihre Probleme zu lösen, ihr Leben zu meistern? In der Notschlafstelle „VinziRast“ bemühen wir uns vor allem um Offenheit, Respekt, um eine Atmosphäre ohne Urteil, ohne Vorurteil. Die Würde des Menschen hat doch vor allem auch damit zu tun.

 

 

Cecily Corti

© Julius Hirtzberger

Muamer Bećirović
Wenn ich Ihnen einen Vergleich anbieten darf: Wenn man Österreich als Staat, als Gesellschaft mit den USA vergleicht, werden Sie in den Vereinigten Staaten durchaus häufiger Menschen auf den Straßen schlafen sehen – und zwar nicht wenige. Interessanterweise ist dieses Phänomen in Österreich deutlich seltener. Bei uns geht es dem Durchschnittsbürger – womöglich – durchaus besser als einem Durchschnittsbürger in den USA.
Cecily Corti
Da haben Sie sicher Recht. Wir in Österreich haben ein sehr effizientes Sozialsystem. Trotzdem haben wir keine „gerechte“ Gesellschaft – und die USA noch viel weniger. Wir wissen aber auch, dass in Afrika jetzt Millionen Menschen weniger hungern als noch vor 20 Jahren. Die Welt ist also grundsätzlich in einem viel besseren Zustand als vor einigen Jahrzehnten. Und doch, wir können, wir müssen noch viel mehr tun. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, wie es in der Welt weitergeht. Wir müssen nur wollen.
Muamer Bećirović
Interessant ist auch, dass Sie so ein positives Bild haben, besonders weil Sie es mit so vielen Menschen zu tun haben, die fast gar nichts besitzen und es sehr schwer haben. Im Verhältnis zu Ihrem positiven Bild kenne ich einige, die auf einem höheren Level des Wohlstands leben, sich aber die ganze Zeit beschweren. Sind wir ein Land der Suderer?
Cecily Corti
Das sieht so aus. Es wird viel gejammert. Es ist einfach nicht meins. Ich bin noch nie auf Demonstrationen gegangen. Ich für mich habe das Gefühl, damit nichts verändern zu können. Ich erlebe dabei auch oft viel aggressive Energie.
Muamer Bećirović
Wenn man sich unter den Meinungsmachern in Österreich umhört, sagen viele, dass wir in einer zu wenig solidarischen Gesellschaft leben, wobei andere dann behaupten, dass jeder bis zu einem gewissen Grad seines eigenen Glückes Schmied ist. Diese Welten kollidieren miteinander, aber das Spannende daran ist meiner Meinung nach, dass in Österreich niemand eine Notschlafstelle aufsuchen muss.
Cecily Corti
Muss niemand?
Muamer Bećirović
Ich denke nicht.
Cecily Corti
Doch, natürlich!
Muamer Bećirović
Das soziale Netz ist bei uns doch sehr ausgeprägt, es wundert mich nur …
Cecily Corti
Trotzdem gibt es viele, auch österreichische Obdachlose, die auf der Straße leben. Aber vor allem die vielen Menschen, die jetzt aus den osteuropäischen Ländern kommen. Diese Menschen meinen, die Obdachlosigkeit hier in Österreich sei mit der in der Slowakei, in Ungarn oder Polen überhaupt nicht zu vergleichen. Das stimmt sicherlich. Es gibt im Winter erheblich mehr Schlafplätze. Jedes Jahr werden von der Stadt Wien und der Caritas 400 Schlafplätze mehr geschaffen, damit niemand erfriert. Trotzdem müssen wir oft Menschen wegschicken, weil wir kein freies Bett mehr haben und wir auch sonst nirgends eines auftreiben können.
Muamer Bećirović
Ich meine das aus dem Blickwinkel heraus, dass die Meinungsmacher jeweils die Meinung vertreten, dass wir zu wenig solidarisch seien, oder eben solidarisch genug, selbst in Hinblick auf die Schwächsten der Gesellschaft. Mich würde Ihre Meinung dazu interessieren.
Cecily Corti
Ich habe vor einiger Zeit einmal einen Satz gelesen – so oder so ähnlich: „Unser soziales System ist sehr ausgeprägt. Trotzdem: der Staat kann immer noch mehr tun. Nur eines kann er nicht: Er kann nicht lieben”. Das bleibt also für uns Menschen zu tun. Wir haben dieses Potential in reichlichem Ausmaß. Wir müssen endlich aufhören zu fragen, was wir dafür bekommen. Was meint die Frage, ob wir zu wenig oder zu sehr solidarisch sind? Kann man zu sehr solidarisch sein? Hängt das von der Höhe des Spendenbetrags ab? Der eine gibt zwei Euro, der andere 200.000 – wir wissen ja, wie unterschiedlich die Vermögensverhältnisse sind. Außerdem gibt es viele Leute, die meinen, sie würden ja schließlich Steuern zahlen, also sei der Staat dafür zuständig.
Muamer Bećirović
Genau, ja! Was sagen Sie denen?
Cecily Corti
Es wird immer Menschen geben, denen es nicht gut geht, die Unterstützung brauchen. Aus vielen, vielen Gründen ist die seelische Not oft viel schlimmer als die materielle Not. Die kann man mit Geld nicht beheben. Und wir sind eine Gemeinschaft, wir sind füreinander da!
Muamer Bećirović
Leiden Ihre Gäste mehr an materieller oder an seelischer Not?
Cecily Corti
Sicherlich erst einmal an materieller Not. Diese muss als erstes behoben sein. Ich kann mich erinnern, als ich Mitte der 90er Jahre nach Indien gefahren bin, da war ich in den ersten Tagen auf einem Empfang der Universität in Benares (heute offiziell „Varanasi“ genannt; Anm.). Einer der Professoren fragte mich, was denn nun so mein Eindruck von diesem Land sei. Mich hat die so sichtbare Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit der Menschen bewegt, trotz der vorhandenen Not. Aber irgendwo hatte ich das Gefühl, dass die Leute dort dem Leben näher waren, dass Erfolg nicht das zentrale Interesse war. Eine gewisse Gelassenheit war spürbar, fand ich – auch Zufriedenheit, nicht vordergründiger Neid. Alle Menschen, denen ich begegnet war, schienen einverstanden mit ihrer Situation. Natürlich war mir bewusst, dass dies ein sehr oberflächlicher Eindruck war, aber es fiel mir auf. Er meinte dann, ob es nicht wichtiger sei, dass die Menschen erst einmal etwas zu essen hätten? Der Professor hatte Recht, zunächst muss die physische Not gelöst werden. Die Menschen dürfen nicht an Hunger leiden. Es muss immer zuerst eine materielle Basis sichergestellt sein.
Muamer Bećirović
Was sagen Sie zu der Ansicht, dass der Staat und die Gesellschaft gar nicht die Verpflichtung hätten, solidarisch zu sein?
Cecily Corti
Doch, selbstverständlich.

 

© Julius Hirtzberger

Muamer Bećirović
Und zu dem Gedanken, dass jeder seines Glückes Schmied sei, und jeder die Eigenverantwortung habe, aus sich selbst etwas zu machen?
Cecily Corti
Nein, da bin ich definitiv nicht einverstanden. Ich halte es für unglaublich wichtig und bin sehr dankbar, dass ich in einem Staat lebe, in dem für das Wichtigste gesorgt ist: eine Krankenversicherung, eine Mindestsicherung, unser soziales System. Und natürlich gibt es auch eine Eigenverantwortung, die aber viele Menschen nicht  wahrnehmen können. Dieses Kapitel überlasse ich lieber der Politik – und da sind wahrscheinlich Leute wie Sie zuständig.
Muamer Bećirović
Aber ich kenne sehr viele normale Bürger, die meinen, jeder habe für sich selbst zu sorgen.
Cecily Corti
Viele Leute können nicht selbst für sich sorgen. Wir wissen doch, welchen Unterschied es macht, wo man hineingeboren wird. Bildung, Sprache, aber vor allem Zugehörigkeit und Geborgenheit, die Art und Weise, wie man zuhause aufwächst, sind ausschlaggebend für die Fähigkeit, mit dem Leben zurecht zu kommen.
Muamer Bećirović
Aber trotzdem sagen manche, dass man im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas aus sich machen könne, ohne dass man hungern oder leiden müsse, und dabei ein Dach über dem Kopf hat.
Cecily Corti
Natürlich kann das trotz widriger Umstände gelingen. Aber das ist nicht die Regel. Wissen Sie, was es bedeutet, nicht in einer Vertrauensbeziehung aufwachsen zu dürfen, sich ungewollt zu fühlen? Das macht einen fundamentalen Unterschied für die Möglichkeiten im Leben aus. Trotzdem gibt es Menschen, die das erlebt haben, und sehr viel aus sich gemacht haben. Es scheint, dass diese Menschen das Glück hatten, eine Beziehung zu jemandem gehabt zu haben, zur Großmutter, zur Lehrerin, zu einem Nachbarn vielleicht, bei dem sie Liebe oder Nähe erfahren haben.
Muamer Bećirović
Können Sie mit dem Begriff „Hilfe zur Selbsthilfe“ etwas anfangen?
Cecily Corti
Ja, natürlich.
Muamer Bećirović
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich habe neun Monate in einem betreuten Wohnheim verbracht. Da waren in 240 kleinen Wohnungen viele Leute untergebracht, unter anderem auch ehemalige Obdachlose. Ich habe die Hausverwaltung gemacht. Die Leute dort, Einheimische, aber eben ehemals obdachlos, haben natürlich Mindestsicherung bekommen. Dabei finde ich ziemlich spannend, dass ich vielen von ihnen einfach Gesellschaft und Hilfe geleistet habe, damit sie wieder auf die Beine kommen und wieder selbst gehen können.
Cecily Corti
Das klingt wunderbar.
Muamer Bećirović
Finde ich auch. Aber viele haben sich auch selbst aufgegeben. Das ist das Problem, das ich dort kennengelernt habe, und das ich nicht verstehe.
Cecily Corti
Wir müssen nicht alles verstehen. Haben wir eine Ahnung, womit Sie oder ich oder sonst jemand im Leben zurechtkommen muss und welche Lebensumstände unseren Charakter geformt haben? Kürzlich hatte ich ein Erlebnis. Ein Bewohner in unserem Haus – er war als Kind über Jahre missbraucht worden – hatte aus verschiedenen Gründen Jahre im Gefängnis verbracht, bevor er zu uns kam. In seiner WG ging anfangs alles gut. Dann kam es aus unverständlichen Gründen zu unlösbaren Konflikten, alle wollten nur sofort eine Trennung. Ich hatte ein langes Gespräch mit diesem Mann, es schien aussichtslos. Und doch wollte ich nicht aufgeben. Ich wusste von seiner Geschichte, ich wusste aber auch, dass er ein Mensch voller Sehnsucht nach Anerkennung und Gemeinschaft ist. Um es kurz zu machen: Im letzten Moment, als ich bereit war, dem Wunsch nach Zimmertausch nachzugeben, wollte er es doch noch einmal versuchen. Als ich ihn wenig später im Stiegenhaus traf – sein Gesicht war ganz verändert –, meinte er: „Ich hab‘s in deinen Augen gesehen, dass du mir das zutraust. Das hat mir Mut gemacht.“ Das hat mich unglaublich berührt, total überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Muamer Bećirović
Cecily Corti
Das Erstaunliche ist, dass das immer noch anhält. Die drei vertragen sich wunderbar in ihrer WG. Sie sehen, wir haben so wenig Kenntnis von dem, was in einem anderen Menschen vorgeht und was eine Wandlung des Gemüts oder auch des Charakters bewirken kann. Und das ist gut so.
Muamer Bećirović
Aber interessant, weil die meisten dort den Kampf ja schon verloren, also aufgegeben, haben. Das ist etwas, das ich nicht verstehe.
Cecily Corti
Wieso wissen Sie, dass die schon aufgegeben, den Kampf verloren haben?
Muamer Bećirović
Wissen Sie, jeder wünscht sich eine Familie und eine gewisse Geborgenheit, aber das ist alles so düster gewesen.

 

 

Cecily Corti

© Julius Hirtzberger

Cecily Corti
So ist es, eine Familie zu haben, ist für viele der größte Wunsch. Das schafft nicht jeder. Wir sind sehr froh, dass wir für einige Menschen, gar nicht so wenige, ein wirkliches Zuhause geworden sind. Sogar die Notschlafstelle empfinden einige unserer Gäste als ihre Heimat, obwohl sie tagsüber raus müssen. Aber da ist Kontinuität für sie, sowohl in den Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die alle ehrenamtlich über Jahre bei uns dabei sind, wie auch im Ablauf. Auch durch Kontinuität in der Atmosphäre kann Vertrauen entstehen. In vielen Häusern für ehemals obdachlose Menschen ist die Aufenthaltsdauer beschränkt, nach einer gewissen Zeit übersiedelt der Betroffene in eine andere Einrichtung und irgendwann bekommt er vielleicht die Gemeindewohnung. Dort ist erst mal alles super, bis die Isolation zu großer Einsamkeit führt, die Einsamkeit wiederum zu Sucht und Krankheit. Das muss nicht so verlaufen, ist aber oft der Fall. Wir in der „VinziRast“ beschränken uns halt vor allem darauf, eine Gemeinschaft, auch das Gefühl von Solidarität zu ermöglichen. Wir bemühen uns auch, bei Konflikten Wege zu Frieden und vor allem zu Versöhnung aufzuzeigen. Jedenfalls erleben wir in den vergangenen Jahren viele Momente, die uns zeigen, dass dies ein guter Weg ist.
Muamer Bećirović
Wenn ich Sie wäre, wäre mein Ziel, glaube ich, die Leute wieder auf die Beine zu bringen und zu schauen, wie Sie weitergehen.
Cecily Corti
Das geschieht ja auch oft. Sie müssen wissen, unsere Notschlafstelle ist das, was man niederschwellig nennt. Das heißt, wir bieten keine professionelle Beratung, das überlassen wir den Sozialarbeitern und den offiziellen Institutionen der Caritas und der Stadt Wien. Unsere Gäste, wie wir die Menschen nennen, die zu uns für die Nacht kommen, stammen in den letzten Jahren vor allem aus dem osteuropäischen Raum, sie suchen Arbeit, oft natürlich auch einen erschwinglichen Wohnplatz. Manchen gelingt es, andere suchen vergeblich. Aber alle erleben in der Zeit, die sie bei uns verbringen, eine menschliche Qualität, die sie sonst meist nicht kennen. Und das gilt natürlich erst recht für obdachlose Menschen, die sehr häufig alkoholkrank sind. Jedenfalls sehen wir es nicht als unsere Aufgabe, die Menschen zu erziehen.
Muamer Bećirović
Aber das ist sehr spannend: Ihr Ziel ist es ja auch nicht, dass sie von selbst wieder aufstehen.
Cecily Corti
Das ist immer ein Geschenk, wenn das gelingt, aber es ist nicht ein Ziel, das wir erreichen wollen. Das können andere besser.
Muamer Bećirović
Buchstäblich also ohne Zielsetzung. Faszinierend.
Cecily Corti
Im Grunde gilt das für alle unsere Einrichtungen: Wir wollen Möglichkeiten schaffen, um Erfahrungen zu machen und dann sehen, was diese Erfahrungen bewirken. Erfolg oder Misserfolg haben wir aus unserem Wortschatz gestrichen.
Muamer Bećirović
Diese Einstellung kannte ich so nicht, finde ich aber sehr interessant. Ich finde das spannend, weil mein Blick so ein anderer ist.
Cecily Corti
Wissen Sie, ich verstehe die „VinziRast“-Einrichtungen auch als Orte der Übung des achtsamen, respektvollen und vorurteilsfreien Umgangs zwischen Menschen. Ich bin sehr dankbar, dass sie sich so erstaunlich entwickelt haben, dass viele Menschen dabei mitwirken, ganz offensichtlich Freude haben und immer wieder erwähnen, wieviel sie für sich und für ihr Leben dabei lernen. Das macht mich glücklich.
Muamer Bećirović
Also die Beschreibung, die Sie immer wieder verwenden, nämlich die bedingungslose Akzeptanz, trifft sehr wohl zu, jetzt so grob gesagt.
Cecily Corti
Wirklich bedingungslose Akzeptanz gelingt nicht, das weiß ich. Wir haben wenige Regeln, die müssen befolgt werden, schon allein um Ruhe und Ordnung zu gewährleisten – aus Rücksicht für alle anderen. Aber ich kann Ihnen sagen, allein schon die Bemühung um „bedingungslose Akzeptanz“ hat gewaltige Veränderungen zur Folge – auch für das eigene Leben.