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Gespräch N° 41 | Kabinett

Robert Misik

„Die Politik ist ein Vertreibungsapparat von Geistigfähigen“

„Wer würde sich denn heute zutrauen, mit einer sozialliberalen Botschaft, welche das auch immer sein mag, eine Nationalratswahl zu gewinnen?“ – diese Worte muten ein wenig seltsam, wenn man sich vor Augen hält, dass noch vor nicht allzu langer Zeit, haushohe Wahlsiege mit linker Politik eingefahren wurden. Über den vermeintlichen Niedergang der Sozialdemokratie, die intellektuelle Ausgedünntheit in der Politik und warum die SPÖ das Entstehen von sozialliberalen Parteien in Österreich verhindert hat, sprach Muamer Bećirović mit Robert Misik, einem engen Freund und Vertrauten von Bundeskanzler Christian Kern.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 25. August 2017, fotografiert hat Benjamin Thomes.

Podcast

Kopf um Krone – zum Zuhören.
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Robert Misik: „Die Politik ist ein Vertreibungsapparat von Geistigfähigen“
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Muamer Bećirović
Robert, du hast mir das Du-Wort schon angeboten. Das freut mich sehr. Ich möchte mit dir über die Sozialdemokratie und deren Geschichte reden, sozusagen eine Vogelperspektive schaffen. Wenn wir uns heute umschauen, ist die Linke eigentlich ein bisschen weit von der Macht entfernt. Hollande hat als französischer Präsident krachend abgedankt und auch nichts – auch nicht mit linker Politik – zustande gebracht. Corbyn ist weit davon entfernt, Premierminister zu werden – trotz einer schwachen May. Ohne Kern ist die SPÖ eine Ruine, Schulz ist 15 Prozent hinter Angela Merkel. Es scheint kein gutes Jahrhundert für die Sozialdemokraten zu sein.
Robert Misik
Naja, zunächst einmal ist das ein einseitiges Bild, das du zeichnest. Nehmen wir jetzt die Sozialdemokratie, sozialdemokratische Reformen und Ideen innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft, mit denen du dich gewissermaßen von allen anderen rechts und links abgrenzt, können wir auch Parteien wie die (griechische; Anm.) Syriza und andere dazuzählen. Es gibt sozialdemokratisch-geführte Regierungen in Schweden, Portugal, Griechenland. Das heißt, dass das Bild nicht ganz so einseitig aussieht, wie du es zeichnest, aber in der Gesamtbetrachtung hast du natürlich Recht. Ich würde aber auch bei Corbyn ein wenig vorsichtig sein. 40 Prozent hat ihm vor zwei, drei Monaten niemand zugetraut, und wir wissen nicht, ob er in sechs oder zwölf Monaten doch Premierminister wird – was für einen derart positionierten, sozialdemokratischen Politiker doch einigermaßen überraschend ist. An dieser Geschichte interessiert mich aber weniger Corbyn selbst, sondern viel eher die Energien hinter ihm, also die Bewegung der jungen Leute, das Momentum, die politischen Kräfte jenseits des Parteiensystems, die hier mitgemischt haben, um eine Kampagne zu führen, die tatsächlich ein Wahlkampf war und diesen Typen dann tatsächlich auf 40 Prozent getragen hat. Und das finde ich durchaus interessant. Im Gesamtbild ist es nicht wahnsinnig überraschend, wenn es manchmal auf und ab geht – das ist immer so in der Politik. Der Kern des Problems ist – das wovon ich glaube, das du ansprichst –, dass sozialdemokratische oder progressive Parteien – es müssen ja nicht nur sozialdemokratische sein –, die eine gewisse Tradition haben, heutzutage sehr gefährdet sind, so dramatisch an Glaubwürdigkeit zu verlieren, dass sie nicht nur Wahlen verlieren, sondern auch, dass sie untergehen.
Muamer Bećirović
Ernsthaft? Woran machst du das fest? Wieso verlieren sie an Glaubwürdigkeit? Diesen Eindruck habe ich nicht.
Robert Misik
An Glaubwürdigkeit verlieren? Naja, die französischen Sozialisten haben so an Glaubwürdigkeit verloren, dass sie untergegangen sind. Die holländischen Sozialdemokraten haben so an Glaubwürdigkeit, dass sie de facto verschwunden sind.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Aber nehmen wir einmal Hollande als Beispiel: Er hat während seiner Amtszeit sozialdemokratische Politik gemacht.
Robert Misik
Naja, Hollande hat wahrscheinlich keine sozialdemokratische Politik gemacht, sondern vielleicht von sozialdemokratischer Politik geredet. Und außerdem muss man da sehr ins Detail gehen und sich anschauen, wie Hollande regiert hat, welche Persönlichkeit er selbst war, was die Sozialistische Partei in Frankreich ist. Ja, die ist ein bisschen klassische Sozialdemokratie, aber wenn du dir anschaust, wer die sozialistische Rolle, die in der Geschichte normalerweise von der Sozialdemokratie erfüllt wurde, gespielt hat, nämlich die einfachen, normalen Leute, die Arbeiter, zu organisieren, dann war das in Frankreich die Kommunistische Partei, während die Sozialistische Partei – sagen wir einmal – immer so eine kleinbürgerliche Intellektuellenelitenpartei war. Das ist etwas ganz anderes als die SPD oder SPÖ.
Muamer Bećirović
(einwerfend) Ihre Funktionäre, ihre Funktionäre …
Robert Misik
Was heißt da „ihre Funktionäre“? Es hat die proletarische Basis der PS (Parti socialiste; „Sozialistische Partei“ in Frankreich; Anm.) nie gegeben. Es ist bei der SPÖ und SPD, wie auch bei der (britischen; Anm.) Labour, hingegen etwas ganz anderes.
Muamer Bećirović
Ja, da stimme ich Ihnen zu. Ein Tony Blair hätte gewonnen.
Robert Misik
Ja, ein Tony Blair hätte gewonnen – im Jahr 1997.
Muamer Bećirović
Er würde auch heute gewinnen.
Robert Misik
Ein Tony Blair würde in diesem Jahr nicht gewinnen, glaube ich.
Muamer Bećirović
Woran machst du das fest?
Robert Misik
Die Zeit des Blair-Sozialismus ist meiner Meinung nach vorbei. Ich glaube, dass man auch sagen muss, dass es in jedem Land anders ist. Ich glaube, jetzt ist die Zeit, in der wir in die Mitte gehen, in der wir ununterscheidbar von den anderen werden. Ja, die Christdemokratie geht in Richtung Mitte, die Sozialdemokratie geht in Richtung Mitte und dann kannst du Sozialdemokraten und Christdemokraten nicht mehr unterscheiden. Diese Zeit (in der Sozial- und Christdemokratie noch unterscheidbar waren; Anm.) ist in den allermeisten Ländern vorbei.
Diese Zeit ist in den allermeisten Ländern vorbei.Robert Misik meint, dass die Parteien eine Tendenz zur Mitte hätten
Muamer Bećirović
Aber damals haben sie die Wahlerfolge eingefahren. Es gab nie wieder so große Wahlerfolge wie zu diesen Zeiten.
Robert Misik
Das Jahr 2017 ist nicht das Jahr 1997. Wir haben eine Geschichte dazwischen, wir haben eine Geschichte von neoliberaler Deregulierung, wir haben die Geschichte von der Idee „Wir müssen die Wirtschaft entfesseln, dann steigt das Wachstum und die Wachstumsgewinne werden zu allen durchtröpfeln und alle Schiffe werden gehoben“. Diese Geschichte, die ja völlig unglaubwürdig ist, hat man den Leuten 1997 erzählt und sie hat sich dann in den letzten 20 Jahren als Vollholler herausgestellt. Ich glaube, dieses Märchen kannst du den Leuten nicht mehr erzählen, da sie wissen, das es nicht stimmt. Somit haben sozialdemokratische Parteien, vor allem wenn sie diese Geschichte hinter sich haben, ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Das ist in anderen Ländern, in denen sie diese Geschichte nicht hinter sich haben, also in denen weder neoliberale Reformen noch eine Öffnung geschehen sind, wie in Frankreich, durchaus anders. Dort kannst du mit einer Macron-Politik, die vielleicht nicht sehr viel anders ist als die Blair-Politik, gewinnen. Wobei: Da würde ich vielleicht auch nochmals einen Unterschied machen. Mit einer Macron-Politik innerhalb der PS hätte Macron nie etwas gewonnen. Seine Glaubwürdigkeit ist ja durch den Umstand gegeben gewesen, dass er die Partei verlassen hatte, dass er ein Risiko eingegangen war, dass er gesagt hatte: „Ich spiele nicht auf Sicherheit, sondern riskiere auch etwas“. Das hat ihm Glaubwürdigkeit verliehen. Als Parteiapparatschik, sage ich jetzt einmal, der sozusagen den Blair oder den Schröder spielt, hätte er nie gewonnen. Außerdem ist der Erfolg Macrons nicht wahnsinnig groß, wenn du dir die Präsidentschaftswahl anschaust. Er hat im ersten Durchgang 22 Prozent gehabt und war einer der wenigen Kandidaten, bei denen die Hälfte der Wähler nicht gesagt hat: „Ich wähle den, weil ich den gut finde, sondern aus taktischen Gründen.“ Bei den anderen im ersten Durchgang war ja sowas wie eine Überzeugung dahinter. Le Pen-Wähler haben für Le Pen gestimmt. Die Hälfte der Macron-Wähler hat für Macron gestimmt, während der Rest bloß gegen Le Pen gestimmt hat.
Muamer Bećirović
Ich finde gerade diesen Ansatz spannend, wenn man sich anschaut, wie aus den prekären Arbeitsverhältnissen zu Beginn der Industrialisierung am Ende der Industriellen Revolution eine Arbeiterbewegung entstanden ist, die sich dann politischen Einfluss erkämpft hat, und dann in eine Partei gemündet ist. Vergleicht man aber die SPÖ zum Beispiel mit der ÖVP, dann ist die ÖVP ein Abbild von mehreren Interessengruppen, die in einer Art Gleichgewicht zueinanderstehen, während dies in der SPÖ nicht der Fall ist.
Robert Misik
Wir würdest du sagen, ist das Kräfteparallelogramm der Sozialdemokratie?
Muamer Bećirović
Es ist keines da.
Robert Misik
So ist es nicht.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Das würde ich schon sagen. Sie hat, wenn du dir anschaust, sehr starke Gewerkschaften; die Arbeitnehmer sind sehr stark, während die Arbeitgebervertreter in der SPÖ kaum zu finden sind. Das ist schon ein interessantes Detail. Wenn du dir die ÖVP anschaut, hast du weitaus mehr – wenn du so willst – Gleichgewicht.
Robert Misik
Du hast die Bauern, den Wirtschaftsbund und den Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund, wenn man sich’s grob anschaut. Wenn du es dir genauer anschauen würdest, was du wahrscheinlich besser weißt als ich, sind sie ja auch alle Apparate, sind sie nur Funktionäre und keine Unternehmen, sind sie nur Funktionäre und keine Bauern, sind sie nur Funktionäre und keine Arbeitnehmer. So schaut es in der ÖVP aus. Schauen wir uns das Gleiche in der SPÖ an: Bei der SPÖ ist es traditionell so, dass man sagt, dass sie die Partei der Arbeiterklasse und Arbeitnehmer sei. Das war ja schon in der Vergangenheit nicht so ganz richtig, weil sie gerade unter den österreichischen Bedingungen ein Bündnis aus der Arbeiterbewegung war – also ganz grob gesagt: den einfachen Leuten ging es um eine gewisse materielle Absicherung und Sicherheit, um Anteile am Wohlstandswachstum und um eine faire, gerechte Verteilung. Das war die soziale Frage. Dann hattest du immer ganz wichtige Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie, die halt nicht in Bünden organisiert waren, die halt nicht so viel Gewicht hatten. Das waren die städtischen Bürger und Intellektuellen. Das hat natürlich sehr viel mit österreichischer Geschichte zu tun, weil die Sozialdemokratie hier die Kraft war, die die Meinungsfreiheit, Demokratie, bürgerliche Freiheiten durchgesetzt hat. Das war in den USA und in Großbritannien etwas anders. Dadurch hast du eine starke Allianz – wie ich sie nenne – zwischen klassischer Arbeiterklasse und den städtischen, liberalen, zum Teil jüdischen, Mittelschichten gehabt. Das war alles das sozialdemokratische Spektrum. Ansonsten hätte die Sozialdemokratie nie so stark werden können; sonst hättest du nie das Experiment mit dem Roten Wien mit den besten Architekten gehabt, wenn nicht sozusagen die fortschrittliche Intelligenz innerhalb der Sozialdemokratie vorhanden gewesen wäre.
Muamer Bećirović
Ich verstehe, was du meinst, aber die Sozialdemokratie ist nicht in Machtstrukturen gebündelt. Das ist halt der Unterschied. In der ÖVP hat der Arbeitnehmerbund durchaus eine gewichte Stimme – zum Beispiel ist Sobotka als niederösterreichischer ÖAAB-Chef (Österreichischer Arbeiternehmerinnen- und Arbeiternehmerbund; Teilorganisation der ÖVP; Anm.) Innenminister oder Mikl-Leitner Chefin (sprich: Landeshauptfrau; Anm.) Niederösterreichs. Das hast du bei den Sozialdemokraten nicht.
Robert Misik
Na gut, da könnte ich jetzt sagen: Was ist so gut daran, wenn wir alles in verknöcherten Strukturen organisieren?
Muamer Bećirović
Es geht mir um das Gleichgewicht der Macht, um das Gleichgewicht der Interessen.
Robert Misik
Ich will jetzt gar nicht so über die ÖVP reden, weil man es so oder auch anders machen kann. Das ist eine eigene historische Geschichte …
Muamer Bećirović
Ja klar, aber ich versuche es, zu erfassen.
Robert Misik
Wenn ich dein Argument so weiterdenke, dann gibt es in der Sozialdemokratie eine gewisse Fluidität, die ich nicht als den größten Nachteil der Sozialdemokratie halten würde. Ich würde eher sagen, dass das die Bürokratisierung und Verknöcherung der Apparate selbst ist.
Muamer Bećirović
Da muss ich einhaken. Wo ist da Fluidität, wenn es in der SPÖ keinen Gerhard Schröder, keinen Tony Blair geben kann, weil die schon von Anfang an vernichtet worden wären?
Robert Misik
Das glaube ich nicht, weil es in der SPÖ – und ich bin jetzt kein „Blairist“ oder „Schröderist“, weil das etwas ist, das ich mir nicht unbedingt aneignen wollen würde – einen Franz Vranitzky gab, der im gewissen Sinne ein Schröder war. Du hast in der Sozialdemokratie die Möglichkeit, dass einer wie Christian Kern von außen kommend, also von relativ außen kommend, mit einer relativ eigenständigen Agenda, die Partei übernimmt. Das sollen andere Sozialdemokratien mal nachmachen, denn da sind viele in solch einer Situation mit einer Apparatschik-Figur an die Wand gefahren – und untergegangen, muss man sagen. Die Sozialdemokratie hat den U-Turn gemacht – mal sehen, wie gut der performt. Auf jeden Fall bräuchte sie den Kampf, der die nächsten Monate jetzt vor ihr steht, mit Faymann erst gar nicht aufnehmen. Mit Kern hat sie eine gute Möglichkeit, den zu gewinnen. Das sollte man nicht vergessen.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Weißt du, was Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“ getan hat? Das wäre in Österreich nicht möglich …
Robert Misik
Die Frage ist, ob das so gut ist, wenn die Sozialdemokratie ihre gewerkschaftlichen und arbeitnehmerischen Interessen wegschneidet. Denn de facto würde das bedeuten, dass die ganze Politik ihre Arbeitnehmer und Gewerkschaft wegschneidet. Die „Agenda 2010“ ist ja kein großer Erfolg. Sie war in gewissen Bereichen ein Erfolg und in bestimmten Bereichen ist sie eine Katastrophe gewesen. Das Schaffen eines 22-prozentigen Niedriglohnsektors in Deutschland bedeutet makroökonomisch, dass die Binnennachfrage wegfällt. Du kannst natürlich sagen: „Super, wir haben die niedrigsten Produktionskosten und sind Exportweltmeister!“ – mit dem Ergebnis, dass sie nur exportieren, weil sich die eigenen Leute das Zeug nicht mehr leisten können und dadurch die Balancen innerhalb der Eurozone so radikalisiert werden, womit man Europa eigentlich zerreißt. Da frage ich mich, wie man sagen kann, dass das ein Erfolg gewesen sei. Jetzt werfe ich das dem Schröder nicht vor, weil er ja kurz nach Einführung der „Agenda 2010“ zurückgetreten ist. Bestimmte Fehler, die mit der „Agenda 2010“ entstanden sind, hätte er wahrscheinlich hinterher korrigiert – muss man ja sagen. Wir tun ja immer so, als wäre Politik etwas, dass … naja, du kannst schon Fehler machen, du kannst Experimente machen, dann siehst du, was funktioniert und was nicht funktioniert, und was nicht funktioniert, korrigierst du …
Muamer Bećirović
Genau.
Robert Misik
Das Problem in Deutschland ist, dass man das, was zehn Jahre lang nicht funktioniert hat, nicht korrigiert hat.
Muamer Bećirović
Es scheint aber so, als ob Angela Merkel von der „Agenda 2010“ profitiert hat, immerhin sitzt sie noch immer bei 40 Prozent.
Robert Misik
Na klar hat Deutschland davon – unter Anführungszeichen – „profitiert“, während es Europa zerrissen hat. Daher frage ich mich, was „profitieren“ wirklich bedeutet. Wie definieren wir „profitieren“?
Muamer Bećirović
Ich glaube, wir sollten das Thema vertiefen, weil ich es unglaublich spannend finde, auch weil ich es mir selbst schwer erklären kann. Nichtsdestotrotz muss ich ehrlicherweise gestehen, dass ich ein Schröder-Fan bin. Wenn man sich anschaut, wieso er das gemacht hat, als ein Mann aus einfachsten Verhältnissen, als jemand, der bitterarm aufgewachsen ist. So jemand verlässt sozialdemokratische Ideale doch nicht einfach so. Er hat ja Arbeitnehmer und Arbeitgeber an einen Tisch gesetzt und gesagt: „Macht’s! Macht’s!“. Herausgekommen ist dabei nichts – von beiden Seiten nicht. Genauso ist es auch bei uns heute. Er hingegen hat das Heft des Handelns in die Hand genommen und es durchgezogen. Ich weiß nicht, ob das falsch war, aber letzten Endes stimme ich dir zu, dass damit ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Aber es wurde auch die Arbeitslosigkeit reduziert, das Haushaltdefizit gekürzt und das Wirtschaftswachstum ist gestiegen. Die positiven Sachen überwiegen.
Robert Misik
Ich widerspreche dir überhaupt nicht. Ich bin nicht jemand, der, wie viele andere, sagt, dass die „Agenda 2010“ und „Hartz 4“ – sozusagen – das große Teufelszeug seien, denn sonst übersieht man ja die Ausgangsposition, die Schröder von Kohl fünf Millionen Arbeitslose übernommen hatte, und trotz seines Versprechens nach einer Legislaturperiode daran scheiterte, diese signifikant zu reduzieren. Deutschland war der „kranke Mann“ Europas. Die Haushaltsdefizite wurden durch hohe Arbeitslosigkeit getriggert, weil diese ja hohe Kosten für die sozialen Netze nach sich zieht. Ohne Zweifel musste Schröder etwas tun und hat auch etwas getan, das wahrscheinlich zu 50 Prozent gut und zu 50 Prozent schlecht war. Und die schlechten Dinge wurden dann hinterher nicht korrigiert, wie gesagt.
Und die schlechten Dinge wurden dann hinterher nicht korrigiert, wie gesagt.Robert Misik meint, dass nicht alles an Gerhard Schröders „Hartz 4“-Reform schlecht gewesen sei
Muamer Bećirović
Ich möchte hier ein wenig ins Detail gehen. Du hast den Niedriglohnsektor erwähnt, und da habe ich mir die Frage stellt: Was wäre denn die Alternative gewesen? Die Alternative wäre gewesen, dass die Menschen in Arbeitslosigkeit versinken. Subventioniere ich nun Arbeit, also in dem Fall mithilfe von Aufstockung durch den Staat, da im Niedriglohnsektor wenig verdient wird, oder subventioniere ich Arbeitslosigkeit? Ich glaube, es ist eine Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen.
Robert Misik
Naja, so grob gesprochen ist die Wahrheit nun auch wieder nicht, da muss man sehr ins Detail gehen. Wenn du Arbeitslosigkeit hast, musst du den Leuten Jobs bringen. Wenn du die Überlegung hast, dass sie nur deswegen in der Arbeitslosigkeit sind, weil diese hochsubventioniert ist, und nicht weil es zu wenige Jobs gibt, dann reduzierst du deren Einkommen, also deren Transfereinkommen, um die Daumenschrauben und noch viele andere Schrauben zu setzen, womit die Leute für niedrigere Entlohnung Jobs annehmen müssen. Wenn du damit erstmal beginnst – und das war der große Fehler der Schröder-Regierung –, reduzierst du nicht nur das Einkommen der bisherigen Arbeitslosen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, du reduzierst natürlich auch die Einkommen von allen, weil, wenn du einen Niedriglohnsektor etablierst, du einen Abwärtsdruck für alle anderen Einkommen etablierst. Dazu kommen noch viele andere Details hinzu. Das ist ja nicht alles, was „Hartz 4“ betrifft, denn du hast auch die Leiharbeit ausgebaut. Du hast das zum Normalfall gemacht, bei dem früher gesagt wurde, dass man das erst im Extremfall machen solle. Du hast Leiharbeiter, die seit zehn Jahren am Band bei BMW neben den „normalen“ Arbeitnehmern stehen, obwohl erstere ursprünglich eigentlich nur für Hochauftragsphasen von drei, vier Monaten gedacht waren. Das System wurde pervertiert und in Wirklichkeit wurden über diesen Weg die Löhne reduziert. Und weil du die „Aufstockung“ nennst: Wir werden das zwar nicht in diesem Gespräch lösen, aber klar kann man sagen, dass man die Markteinkommen reduziere und dann aufstocke, um Armut zu verhindern. Damit verzerrt man dann aber auch auf dramatische Art und Weise die Marktwirtschaft. Warum wird in der einen Branche der Arbeitnehmer subventioniert und in der anderen nicht? Vielleicht zahlt der Staat sogar in der gleichen Branche einem Unternehmen einen Teil des Einkommens der Arbeitnehmer und beim konkurrierenden Unternehmen zahlt er es nicht? Dieses konkurrierende Unternehmen wird sich zurecht sehr aufregen. Daher muss man sich all diese Dinge, die intendierten Neben- und auch Hauptfolgen, sehr genau überlegen. Das muss man bei allen Dingen, die man macht.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Das Gegenargument der anderen ist, dass wir das Problem nicht unter den Griff bekämen, wenn wir einen Mindestlohn einführten, da wir dadurch in Jobs verlören.
Robert Misik
Das ist ein Gegenargument, das von keiner Empirie getragen wird.
Muamer Bećirović
(sehr bestimmt) Es wird von Fakten getragen.
Robert Misik
Von welchen?
Muamer Bećirović
Von vielen. Du hast Studien, die sagen …
Robert Misik
Du hast ganz viele Studien, die das Gegenteil sagen.
Muamer Bećirović
Das stimmt.
Robert Misik
Es gibt zwei Narrative dazu, zwei Narrative der jeweiligen Studien.
Muamer Bećirović
Zum Niedriglohnsektor?
Robert Misik
Ja. Wir können aber auch sagen, dass, wenn es Studien für die eine und für die andere Seite gibt, wir uns nicht auf diese verlassen können. Die Narrative dahinter sind folgende: Wenn in einer bestimmten Branche, in der die Einkünfte der Unternehmen bestimmte Löhne nicht hergeben, die Löhne durch einen Mindestlohn erhöht werden, werden Jobs verschwinden. Das zweite Narrativ ist: Wenn ich in einer gesamten Volkswirtschaft einen Mindestlohn einführe, steigere ich dadurch natürlich nicht nur die Einkommen der Beschäftigten, sondern auch die Konsumnachfrage und damit die Einkünfte der Unternehmen. Studien, die keine Jobverluste sondern sogar Jobgewinne aufgrund der Einführung von Mindestlöhnen beweisen, oder glauben dies beweisen zu können, gehen davon aus, dass die Leute, die bisher in diesen Niedriglohnsektoren gearbeitet haben – das schließt jetzt nicht nur die Automobilindustrie sondern auch relativ lokale Dienstleistungsunternehmen ein –, das, was sie dazugewinnen, wieder ausgeben. Ganz simplifiziert: Was die „Anker“-Verkäuferin durch einen Mindestlohn gewinnt, gibt sie beim Friseur mehr aus, und vice versa. Sowohl der Friseur als auch der Anker haben dadurch mehr Einkünfte durch mehr Geschäftsauskommen, wodurch sie auch diese Mindestlöhne zahlen können. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit ein bisschen in der Mitte – mal ist es so, mal ist es anders, in der einen Branche ist es so, in der anderen anders –, aber grosso modo hat die Einführung von Mindestlöhnen makroökonomisch positive Auswirkungen. Dass das eine oder andere Unternehmen vielleicht krächzen wird, kann man nicht ausschließen.
(…) die Einführung von Mindestlöhnen [hat] makroökonomisch positive Auswirkungen.Robert Misik über den Mindestlohn
Muamer Bećirović
Interessant. Machen wir einen weiteren Schritt in der Geschichte: In den sechs Jahren Opposition von 2000 bis 2006 führte der spätere Kanzler Gusenbauer ja eine Parteireform durch, mit der die SPÖ und die Gewerkschaften in Wien, so wie in den 80er-Jahren in Deutschland, getrennt und die Landesverbände aufgewertet werden sollten. Eines davon hat er erreicht: Die Landesverbände wurden aufgewertet, sonst wäre eine Nissl-FPÖ-Koalition (im Burgenland; Anm.) unmöglich. Aber er hat es nicht geschafft, die Gewerkschaften zurückzudrängen. Da stelle ich mir die Frage: Wenn ich eine Interessenvertretung habe, die ganz gewisse Interessen vertritt, wie ist dann eine Politik für das Allgemeinwohl möglich? Das geht gar nicht …
Robert Misik
Doch, weil die Interessenvertretung ja nicht die Interessenvertretung der Apotheker ist, sondern sie ist die Interessenvertretung der großen Mehrheit der Bevölkerung …
Muamer Bećirović
Das sind aber nicht alle …
Robert Misik
Der Ausgleich findet dann auf Parlaments- und Bezirksebene statt. Wir haben viele Lobbys in diesem Land. Daher ist die Behauptung, dass die Gewerkschaften viel zu stark seien, ein bisschen übertrieben. Sie entspricht nicht der Wahrheit. Die Kleinindustriellenvereinigung und Banken, die sich mit Spendenkohle Parteien kaufen, sind mindestens genauso stark, würde ich sagen. Es ist mir schon recht, dass das Gegenüber ein Gegengewicht darstellt. Zur gusenbauerischen Parteireform habe ich mich – sofern es sie überhaupt gab – nicht so sehr beschäftigt. Soweit ich weiß, ist es auch eine ökonomische Frage gewesen. Die Partei hat wenig Geld gehabt, die ganzen Bezirkssekretäre, die bisher von der Parteizentrale bezahlt worden sind, wurden zum Beispiel an die Landesorganisationen weitergegeben. Diese müssen jetzt zahlen, was positive Auswirkungen auf die Finanzen der Bundespartei hatte, für den Zusammenhalt der Partei aber eher schlechte. Ich bin da jedoch kein großer Experte. Unter Kreisky war es so, dass, wenn ein lokaler Bezirksfürst nicht gespurt hatte, der Zentralsekretär angerufen und gesagt hat: „Geh bitte, kann man das anders machen?“ Wenn heute der Zentralsekretär anruft, sagt der Bezirksfürst: „Entschuldigung, was interessiert mich, was du sagst?“ Das ist für eine durchaus schlagkräftigte Bundespartei wahrscheinlich nicht so gut. Aber das sind Dinge, die du jemanden anderen fragen musst, ich bin da kein Experte – Gott sei Dank. Das sind Niederungen der Apparatschikpolitik, mit denen ich nichts zu tun haben will.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Der einzige, der es gewagt hat, zumindest die Rolle der Gewerkschaften in der Politik zu hinterfragen …
Robert Misik
Was hast du gegen Gewerkschaften? (herunterspielend) Als wären die so mächtig in diesem Land … Sind wir doch froh, dass wir sie haben! Ich wünsche mir, dass sie stärker sind.
Muamer Bećirović
Ja, das hättest du wohl gerne. Aber sie haben ihre Errungenschaften – zweifellos.
Robert Misik
Ja, und sie sollten mehr Errungenschaften haben. In den letzten 20 Jahren sind sie in eine Krise gestürzt.
Muamer Bećirović
Krise? Sie haben sich immer mehr in den Staat gefressen!
Robert Misik
„In den Staat hineingefressen“? Ja wo denn?
Muamer Bećirović
Sie sind aus der Arbeiterbewegung entstanden, sind in eine politische Partei gemündet, haben Macht bekommen …
Robert Misik
Das war ja schon im Jahr 1945 der Fall. Von da an hatten wir natürlich sehr starke Gewerkschaften, die viel mehr dem Bild, dass ohne sie nichts gehe, entsprechen, das du malst. Das war aber 1945, 1946, 1947, 1948, in den 50er- und 60er-Jahren – also in der Phase des Wirtschaftswunders. So schrecklich können sie wohl nicht gewesen sein, sonst hätte es das Wirtschaftswunder nicht gegeben.
So schrecklich können sie wohl nicht gewesen sein (…)Robert Misik über die Rolle der Gewerkschaften
Muamer Bećirović
Ja, aber …
Robert Misik
Du kennst ja den Witz: „Das Wirtschaftswunder hat es nur in Österreich gegeben, weil die Deutschen wirklich gearbeitet haben.“ (beide lachen) Na gut, das lassen wir aber weg, denn das würden meine Freunde aus der Gewerkschaft nicht gerne hören. (wieder ernster) Also so schlecht war die starke Rolle der Gewerkschaften nicht.
Muamer Bećirović
Kreisky hat immer gesagt, ihm seien ein paar Milliarden wurscht, und dass sie ihm weniger schlaflose Nächte bereiteten als tausend Arbeitslose.
Robert Misik
Erstmals handelt es sich um 100 oder zehn Tausende Arbeitslose und zweitens hatten wir damals den Schilling – das sollte man nicht vergessen. Um die Dimensionen dieses Satzes zu verdeutlichen: Ich würde diesen Satz vollkommen unterschreiben, erstens, weil einige zehn Tausend oder mehr Arbeitslose natürlich sehr viel kosten, die Zahl geht, nicht nur in Schilling sondern auch in Euro, in die – die genaue Zahl habe ich nicht im Kopf – Milliarden. Sie kosten aber auch noch viel mehr, sie kosten das Sicherheitsgefühl für die gesamte Bevölkerung. Wir sprechen hier von Arbeitslosigkeit. Was ist mit der Massenarbeitslosigkeit? Wir haben ja auch sowas wie Massenarbeitslosigkeit. Wir haben ja eine Arbeitslosenquote von acht, neun, zehn Prozent, darunter unfreiwillige Unterbeschäftigung, da Teilzeit auch nicht immer selbstgewählt ist. Das alles betrifft nicht nur mehr die Arbeitslosen, es betrifft sie nicht nur mehr, als dass sie weniger Kohle haben, sondern es betrifft die ganze Gesellschaft. Der Unsicherheit und Zukunftsdepression verfallen sogar diejenigen in der Gesellschaft, die keine Arbeit haben. Wenn du Arbeitslosenquote von vier, fünf, sechs Prozent hast, ist für den Arbeitslosen noch wurscht, für die anderen hat es notwendigerweise noch keine Spill-Over-Effekte. Ab einer Arbeitslosenquote von neun oder zehn Prozent weiß jeder Arbeitnehmer, der nicht unbedingt die „Superskills“ hat, dass er jederzeit durch einen anderen ersetzbar ist, dass es auch ihn immer erwischen kann. Das heißt, man hat hier Spill-Over-Effekte, die das Sicherheitsgefühl beeinflussen, die Kränkung und Respektlosigkeit hervorrufen …
Muamer Bećirović
Das verneint niemand.
Robert Misik
… und deswegen machen mir Arbeitslose mehr Sorgen als Budgetdefizite.
Muamer Bećirović
Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.
Robert Misik
Arbeitslosigkeit gibt es ja auch nicht ohne Budgetdefizite. Sie ist ja nicht gratis …
Muamer Bećirović
Das stimmt, keine Frage. 20.000 Jobs, die für ältere Arbeitnehmer im städtischen oder staatlichen Bereich geschaffen werden sollen, wie es Kern und Mitterlehner verabschiedet haben, sind nichts weiter als staatlich subventionierte Jobs pur.
Robert Misik
Na und? Den gleichen Leuten müsstest du sonst Arbeitslosengeld zahlen. Die Mindestsicherung gibt ihnen jetzt nicht mehr sehr viel Geld, wahrscheinlich nur ein bisschen mehr, aber man gibt ihnen geregelte Arbeitstage, man gibt ihnen Respekt und Würde, und man gibt ihnen, wenn sie ihre Sache gut machen, die Möglichkeit in den Arbeitsmarkt wieder zurückzukommen.
Muamer Bećirović
Bei 300 Milliarden Schulden?
Robert Misik
Wir haben hier viele, viele Beispiele solcher Maßnahmen. Als ich jung war, gab es die „Aktion 8000“, die sich auf junge Arbeitslose und auch auf Akademiker konzentriert hat. Natürlich hat diese Sache mehr Sinn, weil man damit Leute in den Arbeitsmarkt hineinbringt, die ein ganzes Arbeitsleben vor sich haben. Jetzt stellt sich die Frage, wie gut es noch möglich ist, bei einem 55-Jährigen solche Erfolge zu erzielen, dass ihm mit einer Art Trampolin geholfen wird, damit er zumindest nach oben springen kann.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Ich möchte aber noch zu Kreisky und seinem Ausspruch zurückkehren. Zu seiner Zeit ging das ja noch: Erstens war die Schuldenrate viel kleiner und Österreich befand sich großteils im Aufbau. Wir hatten damals ein BIP-Wachstum von fünf Prozent. Selbst wenn wir heute im gleichen Maße Schulden machen, haben wir trotzdem nicht dieselbe Wachstumsrate wie früher. Wieso nicht? Weil das andere Rahmenbedingungen waren. Heute kriegst du das nicht mehr hin. Das heißt, du musst pragmatischer handeln, weniger ideologisch.
Robert Misik
Es ist eine ganz interessante Frage, die mit dem jetzt gar nichts zu tun hat, aber dafür eine wesentliche Rahmenüberlegung ist: Können wir überhaupt, mit welcher Politik auch immer, vergleichbare Wachstumsraten wie in den dreißig Jahren zwischen ’45 und ’75 erzielen? Dafür gibt es im Wesentlichen drei Antworten, zwei davon stammen von der Linken: Die eine ist, dass du dies hinkriegen könntest, indem du die gleiche makroökonomische Politik machst – sprich: gerechte Verteilung, Gerechtigkeit, Verbreitung des Wohlstands, damit die entsprechenden Nachfrageeffekten gezeitigt werden. Die zweite ist, dass man aufgrund technologischer und institutioneller Veränderungen den Kapitalismus, der nicht mehr der Nachkriegskapitalismus ist, nicht mehr hinbekommt. Wir brauchen uns im Wesentlichen nur die makroökonomischen Faktoren unserer Zeit anschauen: Wir sind in einer Low-Growth-Phase. Es gibt Überlegungen zur Secular Stagnation, also langanhaltender Stagnation, und auch das Produktivitätswachstum ist nach unten gegangen. All das sind natürlich wichtige Fragen, zu denen die wichtigsten Experten unserer Zeit etwas zu sagen haben, aber leider sagen sie nicht alle das Gleiche, was bedeutet, dass man sich nicht sicher sein kann, wer Recht hat. Nichtsdestotrotz sind das auch interessante Fragen. Aber um auf die Staatsschulden zurückzukommen, die kaum ein Problem sind …
Muamer Bećirović
Nicht?
Robert Misik
Wenn du ein BIP-Wachstum von vier bis fünf Prozent hast, hast du dementsprechend auch automatisches Wachstum des Steueraufkommens, wodurch die parallel wachsenden nominalen Staatsschulden kein Problem sind, weil sie sich in Wirklichkeit quasi mithilfe der Einnahmen selbstbegleichen. Das Gute an einem Staat ist ja, dass er, im Unterschied zu Menschen, seine Schulden nie zurückzahlen muss.
Muamer Bećirović
(verdutzt)
Robert Misik
Kein Staat hat jemals Staatschulden zurückgezahlt. Sie sind sozusagen „reicher“ geworden und der Anteil der Staatsschulden am BIP ist gesunken. Schulden, die der Staat aufnimmt, zahlt er praktisch nie zurück, muss er auch nicht. Wenn ich einen Kredit aufnehme, kann ich diesen ja theoretisch gesehen auch mit einem zweiten Kredit zehn Jahre später zurückzahlen, nur wenn ich irgendwann einmal 70 bin, wird die Bank sagen: „Passen Sie auf! Irgendwann mal sterben Sie, daher gebe ich Ihnen jetzt keinen mehr.“ Das passiert bei Staaten halt eher nicht, weil sie in der Regel nicht sterben – außer sie heißen Sowjetunion oder Tschechoslowakei.
Kein Staat hat jemals Staatschulden zurückgezahlt.Robert Misik über die Natur von Staatsschulden
Muamer Bećirović
Da stimme ich dir zu, aber nächste Geschichte: Ich habe mich in dieses Thema eingelesen und muss zugeben, im Hinblick auf die SPD und deren Größen, nicht ganz unbefangen zu sein. Es gab in der SPD eine lange sozialliberale Phase unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Diese gab es in Österreich gar nicht. Das sagt viel über Österreich – oder zumindest die österreichische Sozialdemokratie – aus.
Robert Misik
Es sagt vor allem aus, dass die österreichische Sozialdemokratie immer eine sozialliberale Partei war, dass sie eine Bindungswirkung in diese Milieus hatte und damit die Entstehung sozialliberaler Parteien verhindert hat.
Muamer Bećirović
Wirklich?
Robert Misik
Schau‘ dir die Geschichte des Roten Wiens an! Schau‘ dir an, wer in diesem Land gesagt hat, dass Universitäten frei sein müssten, wer dafür sorgte, dass Zeitungen entstanden sind – du brauchst dir nur die „Arbeiterzeitung“ anschauen! Diese Zeitung wurde sozusagen als Zeitung der Arbeiter von der Partei gegründet, als eine Parteizeitung, über die wir uns fragen sollten, welche Interessen Victor Adler mit ihr verfolgte. Sein Interesse war es, sie so gut zu machen, dass das liberale Bürgertum sagt: „Das ist meine Zeitung!“ Die freiheitlich-gesinnten Burschen im Kaffeehaus haben jeden Tag die „Arbeiterzeitung“ gelesen, weil es in ihren Augen die beste Zeitung im Land gewesen war, und weil sie zumindest wissen wollten, was der Adler schrieb. Das hat gewissermaßen einen liberalen Strang innerhalb der Sozialdemokratie etabliert, der immer dazu geführt hat, dass die Sozialdemokratie in diesem Milieu eine magnetische Wirkung hat. Natürlich war es keine totale Euphorisierung, denn es war stets ein kompliziertes Verhältnis, aber dennoch gut genug, um einen Bildungsweg zu entfalten. Das ist die eine Geschichte, die andere Geschichte ist, dass ein großer Teil dieser liberalen Burschen jüdisch war – und nach 1945 tot war beziehungsweise wurden sie bis dahin ermordet. Seitdem ist dieses sozialdemokratische Spiel ein bisschen weggebrochen.
Muamer Bećirović
Helmut Schmidt hat unzählige Konflikte mit seiner Partei ausgefochten, weil die Partei nach links wollte, er eher in die Mitte. Das ist ein Phänomen, das es in der österreichischen Sozialdemokratie nicht gibt. Du hast hier solche Typen nicht. Du findest sie nirgendwo, nicht einmal im Ansatz.
Robert Misik
Ich weiß jetzt nicht, von wem du redest. Redest du von Brandt oder von Schmidt?
Muamer Bećirović
Von Schmidt.
Robert Misik
Naja, Helmut Schmidt war jetzt kein spannender, intellektueller Politiker. Er war ein guter Machtpolitiker.
Muamer Bećirović
Das würden viele anders sehen!
Robert Misik
Ja, im Vergleich. Wenn man die intellektuelle Ausgedünntheit (von heute; Anm.) im Kopf hat, fand man die Reden von Schmidt, die er in den letzten Jahrzehnten gehalten hatte, intellektuell. Verglichen mit der intellektuellen Spannendheit, die es in den 70er-Jahren in den Sozialdemokratien gab, war Schmidt eher der, der gesagt hat: Was interessiert mich dieses Nachdenken? Das ist etwas für Bücherwürmer und Sesselfurzer! Aber bleiben wir jetzt einmal bei diesen knorrigen Figuren. Willy Brandt war natürlich ein wirklicher Sozialliberaler, auch von seiner ganzen Lebensgeschichte her. Er war ja auch Journalist und nicht die Art von Politiker, die sagt: „Wir müssen unsere Botschaften durchdrücken und die Journalisten sollen nach unserer Pfeife tanzen.“ Das war für Willy Brandt unmöglich, zu sagen. Das ist eine sozialliberale Position. Bruno Kreisky war der gleiche Typus, ein sehr weitläufiger, intellektueller Mann, der engstirnige Parteisoldaten und -funktionäre nicht wirklich mochte. Dennoch hat er sie geschätzt, weil er um die gewisse Bodenständigkeit der Apparatschicks und die Wichtigkeit, die diese in so einer Partei haben, wusste. Ebenso hat er auch gewusst, dass Intellektuelle Offenheit haben, Fenster aufmachen, die Luft hereinlassen. „Wir wollen mehr Demokratie“ war bei Willy Brandt die Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie. Das waren sozialliberale Botschaften, mit denen er damals sogar Wahlen gewonnen hat. Wer würde sich denn heute zutrauen, mit einer sozialliberalen Botschaft, welche das auch immer sein mag, eine Nationalratswahl zu gewinnen? Jeder Sozialliberale, der wirklich sozialliberal ist, würde seine sozialliberalen Botschaften vor der Wahl in den Keller räumen und lieber von Sicherheit, Polizei und Panzer an die Grenze sprechen.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Weil du es angesprochen hast: die intellektuelle Ausgedünntheit. Ich wage einmal die These – und ich vertrete sie immer noch –, dass das politische Personal von heute bei weitem nicht so fähig ist, zumindest dass der intellektuelle Diskurs nicht mehr so stattfindet, wie es früher der Fall war.
Robert Misik
Klar, das ist in allen Parteien so. Du hast eine Negativauslese. Das ist in Apparaten auch so. Wer bleibt schon lange in relativ ermüdenden Zusammenhängen, wenn man irgendwo anders ein entspannteres Leben führen kann? Das trifft zwar nicht auf alle zu, aber der politische Apparat ist heutzutage ein großer Vertreibungsapparat von geistig fähigen Menschen.
Muamer Bećirović
Wie erklärst du dir das Phänomen? Ich erklär’s mir von der anderen Seite: Man sagt einfach, dass man keinen Bock habe, weil man sich in der Privatwirtschaft ein schönes Geld verdiene, Freizeit habe und sich nicht mit allem herumschlagen müsse, wodurch es einem besser gehe. Ich kenne wirklich viele kluge Köpfe, die das sagen.
Robert Misik
Ich glaube, es ist eine Mischung aus allem. Einerseits ist es das Verschwinden der Offenheit von Parteien, die man früher hatte, wobei man hier nicht übertreiben sollte. Dann hast du natürlich ganz andere Möglichkeiten, dich auch politisch oder gesellschaftspolitisch zu engagieren, dich einzubringen, als früher. Du hast heute eine lebendigere Zivilgesellschaft. Wenn ich einen Beitrag zur Verbesserung des Gemeinwesens leisten will oder Forderungen, die ich für wichtig halte, ins Gespräch, in den Diskurs bringen will, dann muss ich das heute nicht mehr mithilfe von Parteien machen. Ganz im Gegenteil, Parteien können mir sogar dabei hinderlich sein, da ich hier zunächst Verbündete um mich scharren und dann gegen andere kämpfen muss, die gegen mich sind. Wenn ich mit meinen zwanzig besten Freunden eine NGO gründe, dann mache ich eine Facebook-Seite und wenn ich ordentlich gut bin, habe ich einen Traffic von zwei oder mehr Millionen Menschen. Wozu brauche ich dazu also Parteien?
Muamer Bećirović
Gibt es einen Hauptgrund dafür?
Robert Misik
Ich glaube, es gibt keinen Hauptgrund. Es summiert sich aber über lange Zeit zu einem Hauptgrund. Die Parteien haben dann ein dermaßen schlechtes Image, sodass überhaupt keiner mehr dabei sein will. Es ist fast schon ein Reputationsrisiko, ein Sozialdemokrat oder ein ÖVP-Mitglied zu sein. Du wirst wahrscheinlich eher selten von deinen Freunden hören: „Wow! Das ist urcool, ich wollte schon immer so eine coole Person kennenlernen, die in der Jungen Volkspartei ist.“ Du wirst eher das Gegenteil hören, und wo anders ist es natürlich nicht anders. Das war vor 30 oder 40 Jahren anders. Damals hätte man gesagt: „Urcool!“ Es war kein Reputationsrisiko.
Muamer Bećirović
Jetzt wo du es sagst: Mein Team hasst mich dafür, dass ich in der ÖVP bin – also das ganze Team, das hier drumherum ist.
Robert Misik
(scherzend) Was?! Die arbeiten mit dir, obwohl sie nicht in der ÖVP sind?
Muamer Bećirović
Ja, genauso ist es, aber ich ihnen unendlich dankbar und liebe sie – trotz politischer Meinungsverschiedenheiten. Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst: die intellektuelle Ausfüllung des politischen Betriebs. Ich schreibe gerade ein Buch gemeinsam mit Busek. Das ist ein ganz anderes Level als jenes bei den heutigen Protagonisten. Das bereitet mir schon ein bisschen Sorgen. Das Ganze wird sehr primitiv.
Robert Misik
Das glaube ich eh. Aber was soll man tun beziehungsweise ändern?
Muamer Bećirović
Das lässt sich so einfach sagen …
Robert Misik
Was heißt „Das lässt sich so einfach sagen“? Wir sind nicht gemacht dafür, Dinge zu tun, die einfach sind. Ich sage das immer den Leuten in der Sozialdemokratie und die sagen immer: „Ja, es ist alles so schwierig heute, das wird nicht gehen und jenes wird nicht gehen.“  Hat Victor Adler in den Jahren 1888 und 1889 die Sozialdemokratie gegründet (gemeint ist der „Hainfelder Parteitag“, der die SPÖ-Vorgängerpartei SDAP gründete; Anm.), weil es einfach war, die Demokratie in diesem Land durchzusetzen, weil es einfach war, Versammlungs- und Pressefreiheit sowie das allgemeine Wahlrecht durchzusetzen, weil es einfach war, die einfachen Leute aus der Gosse zu holen und ihnen Wohlstand zu geben? Nein! Es war verdammt schwierig, deswegen hat er es ja gemacht. Die einfachen Dinge erledigen sich eh von selbst.

© Benjamin Thomes

Muamer Bećirović
Wenn man sich einmal das sozialdemokratische Personal anschaut, ist es nach Kern vorbei. Schau‘ dir mal die Personalreserven an: Da ist nicht viel übrig – und bei der ÖVP ist es nicht viel anders.
Robert Misik
Kern hat die SPÖ vor einem Jahr übernommen und in dieser Zeit sehr viel getan. Du hast aber Recht, das bestreite ich überhaupt nicht. Jedoch hast du im weitesten sozialdemokratische Personalreserven, also sehr gute Sozialdemokraten, ob mit oder ohne Parteibuch. Diese wurden über Jahrzehnte lang aus verschiedensten Gründen vom Apparat ferngehalten. Ich meine, der Apparat besteht ja auch – und das sollte man nicht vergessen – aus Menschen und Menschen haben nicht gerne Konkurrenz beim Konkurrieren um Arbeitsplätze und Mandate. Das spielt ja neben hundert anderen Gründen auch eine Rolle. Zum Beispiel sagt man, man wolle keine Freigeister, weil die nicht kontrollierbar seien, dass man um Gottes Willen keine unkontrollierbaren Leute in der Bewegung haben möchte. Aber es gibt von diesen natürlich ganz, ganz viele – von der Babara Blaha bis zum Erich Fenninger in vielen unterschiedlichen Bereichen. Es gibt Wirtschaftsaffine, Sozialliberale, Sozialdemokraten, jene, die eher in der Mitte sind, andere, die eher links sind, den Niki Kowall, Leute in der Wissenschaft …
Muamer Bećirović
Wir sehen, was mit dem Niki Kowall passiert ist …
Robert Misik
Was ist denn mit dem passiert?
Muamer Bećirović
Naja, eine große Rolle spielt er nicht unbedingt.
Robert Misik
Ich sag‘ ja nur, dass es diese Leute gibt. Man kann dem Kern jetzt nicht vorwerfen, dass er in einem Jahr all diese Personalressourcen in die Partei geholt und mit super Posten ausgestattet hat. Vielleicht kann man ihm das schon vorwerfen, aber ich werfe es ihm noch nicht vor. So viele mögliche Posten und Parlamentsmandate gibt es nun auch wieder nicht zu verteilen. Und natürlich gibt es Widerstand von den Etablierten und dem Apparat bei jeder einzelnen Personalentscheidung, nehme ich einmal an. Denn für jede talentierte Figur, die jetzt hier reinkommt, sitzt natürlich schon eine Person drin, für die diese Leute extreme Konkurrenz darstellen.
Muamer Bećirović
Keine Frage, zu dem Punkt wollte ich jetzt kommen. Ein deutscher Journalist – seinen Namen habe ich jetzt leider nicht notiert (gemeint ist Norbert Mappes-Niediek; Anm.) – hat einmal einen Vergleich zwischen der SPÖ und der SPD angestellt, den ich nicht unspannend finde: Bei Österreich handele es sich um die „Republik der Sekretäre“. Er meinte, dass die Leute in der SPÖ sich hochdienen würden – sprich: sie bekommen etwas von oben, also so etwas wie die „Gnade von oben“, aber es gibt niemanden, der von unten kommt, also es gibt kein Direktmandat oder dergleichen. Der Mann oder die Frau, die lange auf ihrem Mandat sitzt, bestimmt den eigenen Nachfolger, was bedeutet, dass man sich im Umkreis der Mächtigen hochdient, selbständig kann man es aber nicht hinaufschaffen. Niki Kowall ist ein gutes Beispiel dafür. In Deutschland ist sowas hingegen möglich.
Robert Misik
Ich glaube, dass es in Deutschland nicht so leicht möglich ist. Andererseits gibt es in Deutschland ein anderes Wahlrecht, eine Mischung aus Direktwahl und Wahlkreisen und so weiter. Und für diese direkten Wahlkreise haben manche SPD-Bezirke Vorwahlen, in denen es tatsächlich um die Person geht. Zwar ist es keine Person von außen, aber dennoch vielleicht ein Herausforderer für die etablierten Kandidaten. Ich glaube, es ist eine Frage des unterschiedlichen Wahlrechts, es ist eine Frage – und da hast du total Recht – der politischen Kultur, aber auch zwischen Deutschland und Österreich generell. Österreich war immer ein konservativeres Land. Österreich war schon immer ein etatischeres Land, in dem Reformen immer von oben gekommen sind – sei es nun vom Kaiser Franz I, Josef II bis hin Kreisky, der gewusst hat, wie dieses Land tickt und deshalb die Rolle des aufgeklärten Monarchen, der sich als Väterchen der Reformen gibt, ein bisschen bedient hat, um das Land zu modernisieren. Das war an sich jedoch gar nicht seine Geschichte. Ich meine, dass er ein rebellischer junger Mann gewesen ist, der immer mit diesen Changieren gespielt hat. Das ist Österreich nun einmal und dafür lieben wir es in einem gewissen Sinne auch. Selbiges gilt auch für Wien als Wasserkopf der Monarchie und all diese Geschichten. All das hat natürlich politische Kulturen etabliert, die unterschiedlich sind zu manch deutscher Kultur. Aber auch Deutschland war über viele Phasen seiner Geschichte eine Republik der Untertanen. Bestimmte Elemente der politischen Kultur sind sicherlich anders.
Muamer Bećirović
Schlechter oder besser?
Robert Misik
Na sicher sind die in Deutschland dann besser.
Muamer Bećirović
Ja sehr interessant, das würde ich auch so sagen.

© Benjamin Thomes

Robert Misik
Ich kann natürlich sagen, dass diese spezifisch-österreichischen Elemente Dinge haben, die wir als liebenswert ansehen. Aber in Summe – mit allen Pros und allen Cons – würde ich sagen, dass es da in Österreich natürlich negative Elemente gibt.
Muamer Bećirović
Ich habe die Biographie von Schröder gelesen – und verglichen mit Österreich ist es ein ganz anderer Zugang, wie er reingekommen und raufgekommen ist. Es ist ganz anders abgelaufen als in Österreich. Schröder hat zunächst mit seiner eigenen Partei darum gekämpft, überhaupt Landesvorsitzender in Niedersachsen (in der Videoaufzeichnung irrtümlich „Nordrhein-Westfahlen“; Anm.) zu werden. Dass es in Österreich überhaupt jemanden gibt, der eine Landespartei aufmischt und sich dabei was holt, ist allein schon in unserem Denken nicht möglich.
Robert Misik
Aber du darfst eines nicht vergessen: Deutschland ist zehn Mal so groß wie Österreich und jedes Bundesland ist circa so groß wie Österreich. Du darfst auch nicht außer Acht lassen, dass du eine Reihe an Bundesländern hast, die potentielle „Swing“-Bundesländer sind. In Österreich hattest du so etwas nie. Jetzt ist es vielleicht ein bisschen anders. Aber in der großen Phase der österreichischen Geschichte, also der Nachkriegsgeschichte, war Tirol schwarz und Wien rot, Salzburg schwarz und das Burgenland rot, Kärnten rot und alles andere schwarz. Daran hat sich nichts ändern können. Das hat dementsprechend auch die politische Situation verändert. Jemand, der in Tirol Landeshauptmann werden wollte, musste keine besonderen Kompetenzen haben, er musste nur schaffen, Chef der ÖVP in Tirol zu werden. Der Wahlsieg hat sich dann von selbst ergeben. Das ist in Deutschland eindeutig anders. Dort hast du eine bestimmte Reihe an Politikern gehabt, die ihre Kompetenzen geschult haben, indem sie ihr Bundesland gedreht haben – siehe Schröder in Niedersachen, Lafontaine im Saarland und viele, viele andere aus diesem Fundus, aus dem das politische Nachwuchspotential der deutschen Politik und der deutschen Sozialdemokratie kommt. Diesen Fundus hast du in Österreich aufgrund einer völlig anderen Situation nicht.
Muamer Bećirović
Denkst du, das bricht gerade auf? Ich habe immer noch das Gefühl …
Robert Misik
Ich glaube nicht, dass es aufbricht.
Muamer Bećirović
Es stimmt mich einfach so nachdenklich, dass bei uns so ein …
Robert Misik
Ich sage das jetzt sehr, sehr zynisch, aber ich habe nicht den Eindruck, dass, wenn man zum Beispiel in Oberösterreich die Mehrheit drehen könnte, dies zu einer extremen Verbesserung des Personals der Sozialdemokratie dort führen wird. Selbiges gilt für auch für andere Bundesländer, wobei ich mir nicht sicher bin, wie es in Kärnten ist. Du kannst dasselbe aber auch vice versa nehmen. Ich weiß nicht, ob die ÖVP jetzt deswegen, bloß weil die politischen Systeme fluider geworden sind, besseres Personal finden wird. Vielleicht irre ich mich und wir werden in zehn Jahren diese eine Person sehen, die Oberösterreich dreht. Dann werden wir sagen: „Das ist eine talentierte Frau!“ oder „Das ist ein talentierter Mann!“ und das deshalb, weil das politische System wechselhafter ist. Im Moment sehe ich das aber nicht.
Muamer Bećirović
Interessant ist, dass die Ministerpräsidenten (in Deutschland; Anm.) immer den Anspruch hatten, auch Bundeskanzler zu werden.
Robert Misik
Naja, das ist nicht immer so …
Muamer Bećirović
Nicht immer so, aber doch oft. Von unseren Landeshauptmännern hingegen will niemand Bundeskanzler werden.
Robert Misik
Das ist allerdings richtig. Aber du hast natürlich auch die Situation von Hannelore Kraft, der bisherigen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Sie war über viele Jahre die zentrale Figur der SPD und hat sich immer permanent geweigert, bundespolitisch irgendeine Rolle zu übernehmen. So etwas hast du in Deutschland selbstverständlich auch.
Muamer Bećirović
Tony Blair, der wohl erfolgreichste Sozialdemokrat in Großbritannien, hat einmal gesagt, dass Ideologien tot seien, dass man zuschauen müsse, was funktioniere.
Robert Misik
Die Ideologielosigkeit ist heutzutage tot, weil die Leute es nicht mehr aushalten, eine Politik jenseits …
Muamer Bećirović
Aber sie ist doch die ganze Zeit mit Ideologie beladen. Die ÖVP argumentiert permanent ideologisch, nichts anderes macht die SPÖ.
Robert Misik
Das sind dann falsche Begriffe von „Ideologie“, glaube ich. Ich meinte nicht irgendwelche verknöcherten Dogmen, ich meinte nicht, dass man irgendwas sagt, das man schon seit 30 Jahren sagt. Es ist Haltungs- und Visionslosigkeit, die die Leute nicht mehr aushalten.
Es ist Haltungs- und Visionslosigkeit, die die Leute nicht mehr aushalten.Robert Misik darüber, dass es an Visionen mangle
Muamer Bećirović
Da stimme ich dir zu.
Robert Misik
Es steckt in den Menschen natürlich ein pragmatisches Interesse nach Verbesserungen ihrer eigenen Wohlfahrt und ökonomischen Situation sowie Vertretung ihrer Interessen. Es steckt in vielen Menschen aber auch sowas wie der Wunsch nach Idealen und dieser wird heute in aller Regel, vor allem durch Politiker wie Blair, frustriert. Wobei: Blair ist ein bisschen eine tragische Figur. Das heißt natürlich nicht, dass man sich nicht anschauen muss, was funktioniert. Das ist völlig klar. Es hat gar keinen Sinn, ideologische Visionen und sonst irgendwelche Fantasieideen zu entwickeln, ohne sich darum zu kümmern, ob die Dinge funktionieren. Jemanden, dem wurscht ist, ob Dinge pragmatisch funktionieren, weil er eh seine Vision hat, will ich auch nicht haben.
Muamer Bećirović
Das führt mich gleich zum Praktischen: In der Debatte über die Besteuerung von Großkonzernen sehe ich einen Konflikt zwischen Idealismus, dem sozialdemokratischen Ideal der SPÖ, und der Realität. Wenn ich Großkonzernen sage: „Freunde, ihr müsst genauso viel Steuern zahlen, wie ein Würstelstand und jeder andere auch zahlt“, wird der Großkonzern antworten: „Du, habt’s mich gern! Ich kann meinen Stand irgendwo auf der Welt aufmachen, wenn ich groß genug bin. Daher kann ich, weil es einen Steuerwettbewerb auf der ganzen Welt gibt, mir genau jenes Land aussuchen, in dem am wenigsten Steuern zu zahlen sind. So schaffe ich es mir als Großkonzern, einen Steuervorteil zu ergattern, selbst wenn ich in einem hochbesteuerten Land bin.“ Schau‘ dir die ÖVP an! Ihr taugt das genauso wenig, nur weiß sie, dass sie es nicht ändern kann, weil es auf nationaler Ebene gar nicht geht. Du kannst auf nationaler Ebene gegen solche Giganten einfach nichts machen, auf europäischer, internationaler Ebene schon.
Robert Misik
Ich sehe das nicht so unähnlich wie du. Ich sage nicht, dass die Dinge einfach sind. Bestimmte Dinge kannst du nur verändern, wenn du das Meinungsklima, die Debatten und auch die politischen Mehrheiten in ganz Europa veränderst. Und wenn du irgendwann einmal im Rat der Regierungschefs, im ECOFIN (Rat für Wirtschaft und Finanzen der EU; Anm.), in der Eurogruppe eine Mehrheit von der Hälfte plus eins oder vielleicht sogar eine qualifizierte Mehrheit hast, die massiv hinter der Maßnahme X steht, dann wirst du sie hinbekommen. Wir alle wissen, dass das in einer EU mit 28, bald 27, Mitgliedsstaaten natürlich extrem schwierig ist. Es ist auch deshalb schwierig, weil nicht nur Mitgliedsstaaten, sondern weiters mindestens 30 oder 40 Stakeholder irgendwie immer am Tisch sitzen. Aber ich halte es gerade in solchen Fragen nicht für unmöglich. Insbesondere in dieser Frage wirst du kaum mehr jemanden finden, der das legitimiert.
Muamer Bećirović
Keine Frage.
Robert Misik
(scherzend) Vielleicht noch ein paar Iren in Irland.
Muamer Bećirović
(lacht)

© Benjamin Thomes

Robert Misik
Solche Sachen wird man schon hinkriegen. Aber es ist natürlich das Bohren dicker Bretter mit Augenmaß und langem Atem. Wie Max Weber es nannte, ist es immer so in der Politik und erst recht, wenn du auf einer supranationalen Ebene bist, auf der du nicht mehr den Anschein erwecken kannst, dass es da einen Chef gibt.
Muamer Bećirović
Genau das wundert mich ja an diesem Diskurs. Er wird ja nicht rational geführt. Die SJ (Sozialistische Jugend; Anm.) stellt sich hin und sagt: „Wir müssen das als Österreicher regeln!“ Das geht aber nicht! Und genau da …
Robert Misik
Schauen wir uns erstmal an, welche Elemente man davon im nationalstaatlichen Rahmen regeln kann!
Muamer Bećirović
Ich weiß nicht, ob man Leuten Hoffnungen auf etwas machen sollte, das erst gar nicht einmal realisierbar ist.
Robert Misik
Es gab einmal diesen Spruch von Vranitzky: „Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann.“ Ich halte diesen Spruch für einen Fehler – auch wenn ich das Narrativ dahinter verstehe: man solle ja nicht irgendwelche Fantasien wecken, die dann enttäuscht werden könnten, sondern stattdessen ernsthaft sprechen, sich nur auf das unmittelbar Durchsetzbare reduzieren und nicht auch auf das, was nur ein paar Millimeter darüber hinausgeht. Das halte ich alleine schon deshalb für falsch, weil es ja auch ein performatives Element dabei gibt. Wenn ich sage, ich will dies und jenes erreichen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es erreiche, oder auch nur die Hälfte davon auf dem Weg dahin, viel höher, als wenn ich es nicht einmal sage. Ich war bei einer Tagung in Oxford und da ging es um eine ähnliche Frage. Irgendeiner hat gesagt, dass wir aufpassen müssten, dass wir uns nicht nur per Lip-Service (zu Deutsch: Lippenbekenntnisse; Anm.) einer bestimmten Frage nähern dürfen. Er hat angemerkt, dass er eigentlich nichts gegen Lip-Service habe, da dieser zu einem gewissen Grad notwendig sei. Die Politik erfordert auch eine bestimmte Sprache. Es geht nicht nur um Konzepte, sondern auch um die Sprache, um die Form, wie man über Dinge spricht, um Menschen gewinnen zu können. Das hat eben auch Einfluss darauf, bis zu welchem Grad ich Konzepte umsetzen und durchsetzen kann.
Muamer Bećirović
Der letzte Punkt: die Debatte über die Maschinensteuer. Wir befinden uns gerade in der digitalen Revolution, der Peak ist bei Weitem noch nicht erreicht, wir sind bei der Vorspeise, wenn du so willst. Die Forderungen nach einer sind doch völlig absurd. Führe ich jetzt eine ein, gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die digitale Revolution erst losgegangen ist, haben österreichische Betriebe bald einen Wettbewerbsnachteil gegenüber allen anderen, die keine haben. Führe ich sie aber nach dem Peak der digitalen Revolution ein, kenne ich die Auswirkungen (der digitalen Revolution; Anm.) und es macht dann Sinn.
Robert Misik
Es sind immer dieselben Argumente – „Es ist eh richtig, aber nur im Moment, ist es gerade nicht richtig.“ Mit diesen Argumenten wird es nie richtig sein. Und ich finde es ziemlich lustig, zu sagen, wir seien am Anfang davon. Also …
Muamer Bećirović
Wir sind noch am Anfang davon, da kommt noch Gewaltiges …
Robert Misik
Ich bin relativ häufig in Betrieben und schaue sie mir an. Ich war unlängst bei MAN in Steyr. Da kannst du nicht behaupten, dass wir erst am Anfang sind. Es ist eine Frage, die mittlerweile jeden Arbeitnehmer beschäftigt, nicht nur Intellektuelle und jene im Politikdiskurs. Du brauchst nur Taxifahrer fragen und er wird dir sagen: „Ja, ich werde bald von einem Roboter ersetzt.“ Beim Taxifahrer sind wir in Wirklichkeit noch nicht so nah dran, aber in diesen Fertigungsstraßen sind die Facharbeiter tatsächlich nur mehr ein paar Computerspezialisten. Die Fertigungsstraßen arbeiten selbstständig und die Computerspezialisten reprogrammieren Dinge, sobald es einen Fehler gibt.
Muamer Bećirović
Genau hier sehe ich wieder das Problem mit einem ideologischen Ansatz.
Robert Misik
Wieso ist das ein ideologischer Ansatz? Schauen wir uns einmal die Realität an: Wir haben eine Situation, in der wir einen Großteil unseres Steuer- und praktisch 100 Prozent unseres Sozialaufkommens rein über Arbeit finanzieren – und nicht über Unternehmensgewinne oder dergleichen. Das hat zum Ergebnis, dass die Unternehmen, die mehr Beschäftigte haben, einen Wettbewerbsnachteil gegenüber denjenigen haben, die alles automatisiert haben beziehungsweise weniger Beschäftigte brauchen. Wir sprechen hier lediglich von der Gerechtigkeitsdimension unter den verschiedenen Unternehmen, ganz im Gegensatz zu den Dimensionen unserer Gesellschaft als Ganzes, in der nämlich die Arbeitnehmer einen viel höheren, wachsenden Anteil am Abgabenvolumen bezahlen, als jene Unternehmen, die „technologisiert“ arbeiten.
Muamer Bećirović
Ich möchte das gar nicht in Frage stellen. Nur der vernünftigere Ansatz ist, dass ich den wissenschaftlichen Fortschritt abwarte und dann, wenn er abflacht, überlege ich mir, ob und welche Maßnahmen passen …
Robert Misik
Muamer, der vernünftigste Ansatz ist, sich diese Dinge ganz genau anzuschauen und detaillierte Konzepte auszuarbeiten, wie es schon jetzt funktionieren kann. Wenn man merkt, dass sie doch noch nicht so durchdacht sind, sind noch detailliertere und durchdachtere Konzepte zu entwickeln. Das ist der richtige Ansatz. Ist es der richtige Ansatz, zu sagen, dass ich jetzt erstmal nichts mache und mir erst in zehn Jahren etwas dazu überlege?
Muamer Bećirović
Die Geschichte um die Millionärs- und Vermögenssteuer sowie dergleichen ist wieder so ein ideologischer Mist. Nehmen wir alle Milliardäre in Österreich zusammen, sind das unter 100 Milliarden. Ein österreichisches Budget ergibt insgesamt 77 Milliarden, womit du unser Budget für ein ganzes Jahr lang finanzieren könntest. Aber die Sozialdemokraten reden permanent davon, es hat kein großes …
Robert Misik
Die Sozialdemokraten haben verschiedenste Konzepte für Vermögenssteuern, die sich nicht nur auf Milliardäre beziehen, sondern auch Erbschaftssteuern für Vermögen über einer Million oder auch schon ab 500.000 vorsehen.
Muamer Bećirović
Aber damit füllst du das Budget nicht!

© Benjamin Thomes

Robert Misik
Es sagt ja kein Mensch, dass man damit das Budget saniert. Ich bin übrigens absolut nicht der Meinung, wie auch der Bundeskanzler (Kern; Anm.), dass man solche Steuer dafür nutzt, um noch mehr Steuern einzunehmen, sondern um die Schieflage im Steuersystem zu sanieren. Es geht nicht darum, eine höhere Steuer- und Abgabenquote zu erreichen, sondern um bestimmte, andere Steuern zu reduzieren, die Ausfälle durch die Verringerung bestimmter, anderer Steuern zu kompensieren. Wenn das, was man kompensiert nur 500 Millionen oder eine Milliarde ist, dann ist es halt nur 500 Millionen oder eine Milliarde, die man über Erbschaftssteuern einnimmt, wodurch man auf der anderen Seite aber ein Entlastungsvolumen von 500 Millionen oder einer Milliarde hat. Kein Mensch behauptet, dass du damit das Budget sanierst. Diese Maßnahmen sind notwendig, um Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft zu reduzieren. Du kannst nicht leugnen, dass es diese Ungerechtigkeiten nicht gibt, immerhin zeigen ja alle Studien, dass die Ungleichheit von Einkommen nicht nur in unserer Gesellschaft in Österreich sondern in der gesamten westlichen Welt steigt. Es ist eine Reihe von Gründen, die für die steigende Ungleichheit von Vermögen verantwortlich ist. Die Dinge, über die wir hier reden, sind keine Dinge, die die Ungleichheit an Vermögen und an Reichtum reduzieren. Es sind nicht einmal Dinge, die das Wachstum der Ungleichheit stoppen. Es sind Dinge, die das Wachstum (der Ungleichheit; Anm.) ein wenig bremsen. Jetzt kann mir keiner sagen, dass es dysfunktional, ungerecht oder besonders klassenkämpferisch sei, das ohnehin radikalisierte Wachstum an Ungleichheit und Vermögen ein wenig abzubremsen.
Muamer Bećirović
Dass es eine wachsende Ungleichheit in der Vermögensverteilung gibt, stellt keiner in Abrede. Ich meine alleine schon vom Gini-Koeffizient her, gibt es hier …
Robert Misik
Und da muss man etwas tun. Jetzt kann man sich die Frage stellen, was das praktisch Richtige ist. Ich finde, Vermögens- und Erbschaftssteuern sind die besten Steuern. Erstens weil sie leicht einzuheben sind, da man sie nicht jedes Jahr einhebt, sondern in jedem Leben gewissermaßen nur einmal. Sie sind besonders gut zu argumentieren, weil sie arbeitsloses Einkommen sind, die für den einzelnen – insbesondere in alternden Gesellschaften – kein Problem sind. Es ist doch absurd … Reden wir über mich: ich erziele, seit ich 20 bin, Einkommen, weil ich in diesem Alter mit dem Arbeiten begonnen habe. Es ist relativ hoch besteuert und wird immer mehr besteuert. Ich trage mit meinem Einkommen einen immer größeren Beitrag relativ zum Abgaben- und Steuervolumen der Gesellschaft bei. Irgendwann, wenn ich 60 bin, werde ich – angenommen – ein Haus erben. Macht es mir dann mehr aus, wenn ich mit 60 ein paar Tausend Euro Erbschaftssteuer zahle und dafür mein ganzes Leben entsprechend weniger Einkommenssteuer zahle, oder ist es viel angemessener, wenn ich meine Erbschaftssteuer reduziere und dafür die ganze Zeit mehr Einkommenssteuer zahle?
Muamer Bećirović
Die Frage ist, ob sich das so auskompensieren lässt …
Robert Misik
Die einen, also diejenigen, die nie etwas erben werden, werden mehr gewinnen, und sie werden noch mehr gewinnen, wenn zugleich die Einkommens- und Lohnsteuer reduziert werden. Die, die viel erben werden, werden viel oder mehr verlieren. Aber man muss schon sehr viel erben, um sehr viel Erbschaftssteuer zahlen zu müssen. Hier kann mir keiner sagen, dass das ein allzu großes Problem für das Gerechtigkeitsempfinden und den Lebensstandard dieser Leute sein wird. Wenn man Finanzvermögen erbt, ist das natürlich eine andere Frage. Vielleicht erbt man ja Immobilienvermögen in Form von 30 Häuser, dann müsste man eines verkaufen, um die Erbschaftssteuer zu bezahlen. Das ist vermutlich nicht das größte Problem. Ich würde sagen, dass wir größere soziale Probleme im Land haben. Das größte Problem in diesem Fall ist, wenn du Betriebsvermögen als Unternehmen erbst. Aber da gibt es in der Geschichte irrsinnig viele Beispiele, wie man dies lösen kann. Der Staat kann zum Beispiel stiller Teilhaber werden. Das bleibt dann 30 Jahre lang so und man zahlt währenddessen 30 Jahre lang 2000, 3000 oder 5000 Euro an den Staat. Nach zehn Jahren hast du schon total vergessen, dass du das immer zahlst. Das geht automatisch. Und in 30 Jahren ist das alles schon bezahlt worden. Weißt du, es ist ganz lustig: in Deutschland gab es 1948 (in der Videoaufzeichnung fälschlicherweise „1949“; Anm.) eine Währungsreform und diese ging mit einer bestimmten Enteignung von Vermögen einher. Diese war überhaupt kein Problem für Leute, die Finanzvermögen besessen haben, jedoch ein größeres für Leute, die Immobilienvermögen oder Anlagevermögen besessen haben. Man hat deshalb eine bestimmte Abgabe eingeführt, die Vermögende bezahlt haben. Diese Abgabe ist – glaube ich – 2013 ausgelaufen. Also bis jetzt haben diese Vermögenden die Abgabe bezahlt und haben es gar nicht mehr gewusst. Es hat niemanden gestört. Es war über diese lange Zeit selbstverständlich geworden. Das heißt, wenn wir jetzt eine Erbschaftssteuer einführen, die einen bestimmten Prozentsatz hat, wird diese bei Finanzvermögen auf „ganz normale“ Art und Weise bezahlt. Bei Immobilien- und Anlagevermögenssteuern sind langfristige Dinge und überall, wo es sie gibt, sind sie kein Problem. Das Problem entsteht immer nur, bevor die Steuern eingeführt werden. Es ist eine gewisse Haltung, ein politisches Problem: Alte Steuern sind gute Steuern, neue Steuern sind böse Steuern. An alte Steuern hat man sich schon längst gewöhnt, sodass sie kein Problem darstellen. Neue Steuern, die eigentlich überhaupt kein Problem sind und nur positive Auswirkungen haben, werden als negative, schlechte Steuern gesehen. Das ist ja absurd.
Das ist vermutlich nicht das größte Problem. Ich würde sagen, dass wir größere soziale Probleme im Land haben.Robert Misik meint, dass Vermögenssteuern kaum ein Problem seien
Muamer Bećirović
Gutes Schlusswort! Eine letzte Frage, einfach nur so beiläufig: Du hast mich einmal bei einer Veranstaltung in der „Agora“ (Herr Misik lud Herrn Bećirović Anfang 2017 zu einer von ihm veranstalteten öffentlichen Podiumsdiskussion ein; Anm.) als „muslimischer Bosniake in der ÖVP“ vorgestellt – mit der Anmerkung „ist ja auch etwas Außergewöhnliches“. Das habe ich nicht ganz verstanden.
Robert Misik
Ich nehme an, du bist Muslim. Die ÖVP ist im Laufe ihrer ganzen Geschichte eine christdemokratische Partei, eine mit einer Religion verbundene Partei, in dem Fall der christlichen, gewesen. Aus diesem Blickwickel ist es natürlich irgendwie interessant. Jetzt wissen wir gewissermaßen, dass die „Christdemokratie“ mittlerweile ein altes Wort ist, das nicht immer so im Zentrum einer Partei steht und in der Praxis wahrscheinlich auch nicht wahnsinnig üblich ist. Ich nehme einmal an, du bist …
Muamer Bećirović
… einer der wenigen.
Robert Misik
„Einer der wenigen“ – das ist halt so. Ich meine, es ist ein Satz mit Blick auf einen nüchtern dargestellten Fakt.