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Gespräch N° 42 | Kultur

Karl Pfeifer

„Österreich ist weg von diesem Lagerdenken“

Begreift man Krieg erst, wenn man ihn selbst erlebt hat? Ist er anders nicht nachvollziehbar? Dem österreichischen Journalisten Karl Pfeifer gelang die Flucht vor dem NS-Regime, zuerst nach Ungarn, dann nach Palästina, und schließlich über die Schweiz und Frankreich nach Österreich zurück. Empfindet er heute Hass? Tragen wir alle noch heute eine „kollektive Mitverantwortung“ für die Schandtaten der NS-Zeit? Über junge jüdische Kommunisten, die in London zu österreichischer Volksmusik tanzen, Wespenlarven, die Maden von innen zerfressen, und katholische Kleinbürger aus Bad Altaussee, sprach Pfeifer mit Muamer Bećirović.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 30. September 2017, fotografiert hat Marian Haderlap.

Podcast

Kopf um Krone – zum Zuhören.
Kopf um Krone – zum Zuhören.
Karl Pfeifer: „Österreich ist weg von diesem Lagerdenken”
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Muamer Bećirović
Herr Pfeifer, Ihnen ist im Alter von zehn Jahren eine buchstäblich spektakuläre Flucht vor Nazi-Deutschland gelungen. Mich würde vor allem interessieren, wie Sie denn die gesellschaftliche Entwicklung zu dieser Zeit erlebt haben. Wie haben Sie als Kind wahrgenommen, wie sich die Dinge in der Gesellschaft verändert hatten?
Karl Pfeifer
Ich komme aus einer kleinen Stadt südlich von Wien, aus Baden bei Wien. In Baden bei Wien waren ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung Juden – bis 1938. Baden hat sich sehr von Wien unterschieden – in vielerlei Hinsicht, wie auch zum Beispiel politisch. Während die meisten Juden in Wien sozialdemokratisch gewählt haben, haben sie in meiner Heimatstadt den Bürgermeister Kollmann (Josef; 1868–1951; Anm.) gewählt, einen Christlichsozialen, da er den Juden versprochen hatte, dass er sie gleichbehandeln werde – dieses Versprechen hat er gehalten. Er hat ihnen auch versprochen, dass er ihnen (den Juden; Anm.) bei gewerberechtlichen oder staatsbürgerschaftlichen Problemen helfen werde – das hat er auch gehalten. Über Kollmann gibt es eine schöne Anekdote: 1928, 1929 kam der Antisemiten-Verein, der in Baden bei Wien sehr stark war, zu ihm und schlug vor, im Sommer eine internationale Konferenz der Antisemiten zu veranstalten. Kollmann antwortete darauf: „Seid’s deppat word‘n?! In der Saison können wir uns keinen Antisemitismus leisten.“ Kollmann war im ersten Österreicher-Transport nach Dachau. Soviel zum politischen Hintergrund.

Und das war natürlich eine Stadt, eine Gesellschaft, in der es Klassen gab, in der es große Unterschiede gab, in der es – und das habe ich so nicht gespürt – schon eine Rolle spielte, ob man Jude, Katholik oder evangelisch war.

Muamer Bećirović
Wie kann das sein?
Karl Pfeifer
Das war schon in der Volksschule so. Das habe ich dann auch in meinen Büchern wie auch im Film über mein Leben („Zwischen allen Stühlen. Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer“ von Mary Kreutzer und Thomas Schmidinger – 2008; Anm.) beschrieben. In der Volksschule unter dem Ständestaat, oder dem klerikal-faschistischen System, wurde ich im Hof während der Zehn-Minuten-Pause nach dem Religionsunterricht, also nachdem der Katechet die katholischen Kinder unterrichtet hatte, beschuldigt, dass die Juden den Heiland gekreuzigt hätten. So etwas habe ich schon gespürt. Das war vor den Nazis. Es gab schon einen massiven Antisemitismus vor den Nazis. Aber als dann der Anschluss passierte, verschwanden sämtliche Hemmungen, die die Leute daran gehindert hatten, richtig aggressiv zu werden. Wir hatten ein großes Glück. Wir hatten ein Zweifamilienhaus. Im ersten Stock lebte die Familie Weber. Der Vater war ein Mittelschulprofessor, ein sehr praktizierender Katholik. Frau Weber, die nur einmal im Monat runtergekommen ist, um mit dem Kuvert den Zins zu zahlen, hat nach dem Anschluss meine Mutter getröstet, die natürlich total verängstigt war, weil man in der Stadt Juden zusammengefangen hat und sie dann zwang, mit Zahnbürsten vaterländische Parolen wegzuwischen. Frau Weber hat dann für meine Mutter eingekauft. Meine Mutter musste nicht rausgehen. Im April wurde ich dann von Hitlerjungen angegriffen. Ich wurde zum Zaun des Nachbarhauses gedrängt. Zum Glück ist eine Adelige rausgekommen, die dort gewohnt hatte – leider habe ich mir den Namen nicht gemerkt, da seither so viele Leute den Besitz dort gewechselt haben –, und hat den Hitlerjungen Watschen versprochen. Diese haben abgelassen und mich hat sie gefragt, wer ich sei. Das war eine Nachbarin. Unsere Adresse war Marchetstraße 57, ihre Marchetstraße 53. Dazwischen lag ein Grundstück, das nicht bebaut war. Heute ist dort ein Tennisplatz, dass zu dem Haus der Frau Baronin gehört. Dass diese Frau ihre bürgerlichen Nachbarn nicht interessiert hat, war typisch für Baden bei Wien.

© Marian Haderlap

Muamer Bećirović
Verspüren Sie heute noch so etwas wie Hass?
Karl Pfeifer
Wie meinen Sie das?
Muamer Bećirović
Naja, Hass auf ein Land oder eine Ideologie, die einen beinahe auslöschte. Verspürt man nach so etwas noch etwas zu diesem Land?
Karl Pfeifer
Ob ich Hass spüre?
Muamer Bećirović
Genau. Sie.
Karl Pfeifer
Das glaube ich nicht. Ich gehe sehr oft in österreichische Schulen als Zeitzeuge, bin oft eingeladen. Ich merke, dass die Kinder mit mir absolut können. Ich bin mit keinem Hass hergekommen. Eigentlich habe ich keinen Hass gespürt. Ich habe oft Verachtung von gewissen Leuten gespürt, die weitermachten. Ich habe oft nicht verstanden, was die Leute dazu bewegt, dass sie Ausschwitz den Juden sozusagen „nicht verzeihen“ können, wie ein bekannter Psychologe sagte (Zvi Rix, geb. als Franz Rix; österr.-israel. Arzt; 1909–1981; Anm.). Aber im Großen und Ganzen muss man die Kirche im Dorf lassen. Man kann sagen, dass die meisten Österreicher nicht in diesen Kategorien denken. Will heißen: Es gibt eine Minderheit, die aggressiv und antisemitisch ist. Dann gibt es eine Minderheit, die antisemitische Vorurteile hat, die aber nicht aggressiv ist, da sie diese im alltäglichen Leben nicht ausleben. Und dann gibt es natürlich auch sehr viele Österreicher, die der Meinung sind, dass Österreich ein demokratisches Land sein sollte, indem solche Unterschiede, solche Vorurteile zurückgedrängt werden. Aber in den Schulen erlebe ich in der Regel Sympathie, auch Empathie. Im Film über mein Leben  ist die letzte Pointe ein 14-jähriger Schüler, der mich fragt, ob ich in der Zweiten Republik je an Selbstmord gedachte hätte. Ich habe natürlich nicht daran gedacht. Aus dem Bauch kam mir „an Mord, des Öfteren“, aber auch daran habe ich nicht gedacht. Allerdings war ich für meine Verhältnisse oft – also nicht oft, aber ein paar Mal – mit Antisemitismus konfrontiert. Ich wurde Zeuge, gar Opfer, von Antisemitismus – auch in Firmen, in denen ich gearbeitet hatte. Ich war nicht immer Journalist. Erst mit 51 Jahren wurde ich zum Journalisten. Vorher war ich im Hotelfach – und da gab es einige Beispiele, die sehr ungut waren. Das hat mich dazu gebracht, dass ich gerne ins Ausland arbeiten ging. Mir hat diese Atmosphäre (in Österreich; Anm.) nicht behagt.
Aber im Großen und Ganzen muss man die Kirche im Dorf lassen. Man kann sagen, dass die meisten Österreicher nicht in diesen Kategorien denken.Die meisten Österreicher würden nicht in Schubladen denken, meint Karl Pfeifer
Muamer Bećirović
Was ich nicht begreife, was ich nicht verstehe: Die jüdische Bevölkerung zu der Zeit hat die Professoren gestellt, waren Intellektuelle, Geschäftsmänner, …
Karl Pfeifer
… auch …
Muamer Bećirović
… genau! Sie haben sich buchstäblich nicht von der breiten Bevölkerung unterschieden – außer, dass sie vielleicht einen jüdischen Nachnamen hatten.
Karl Pfeifer
Naja, das kann man nicht so sagen. Diese Unterscheidung gab es – und sie war gesellschaftlich. Es ist sehr interessant, dass ich einmal im linken „Republikanischer Club – Neues Österreich“ darüber diskutiert habe, welche Kritik an Juden, am Staat Israel antisemitisch sei. Ich habe ein sechsminütiges Referat gehalten. Dann stand ein antizionistischer Jude auf, der ein zwölfminütiges Gegenreferat hielt, ohne das es beabsichtigt war. Da blieb ich noch immer höflich. Dann stand ein iranischer Student auf, der mit Akzent Folgendes sagte: „Das Problem mit den Juden in Palästina ist nicht, dass sie Juden sind, sondern dass die Deutschen Deutsche und die Österreicher Österreicher geblieben sind. Und das Problem mit Herrn Pfeifer ist nicht, dass er Jude ist, sondern dass er so spricht wie ein typischer katholischer Kleinbürger aus Bad Altaussee.“ Worauf ich antwortete, dass das stimmen könne, weil einige meiner besten Freunde Katholiken sind. Darauf kam aus dem Publikum die Frage, ob ich das ernst meinte. Dann aber stand ein Philosoph auf und kam damit, was Juden nicht alles zur österreichischen Kultur beigetragen hätten. Da verlor ich die Geduld. Ich haute auf den Tisch. Ich sagte, dass die österreichische Kultur jene von Adolf Hitler, von Adolf Eichmann und keineswegs jene von Sigmund Freud, Stefan Zweig und Arthur Schnitzler sei. Viele Leute, wie Freud, bekamen keine Professur, obwohl sie vielleicht eine verdient hätten. Es war sehr schwierig für Juden, wenn sie in Österreich reüssieren wollten. Viele haben auch den Weg beschritten, den schon Heinrich Heine beschritten hatte, und ließen sich taufen. Gustav Mahler hat sich zum Beispiel taufen lassen. Wie tief der Antisemitismus war, wie sehr der gesessen ist, kann man daran sehen, wie nahtlos – mit wenigen Ausnahmen – die österreichische Gesellschaft nazifiziert wurde. Es gab aber auch Widerstand. Es gab Kommunisten, es gab Monarchisten, es gab Vaterländische.
Muamer Bećirović
Interessanterweise gab es auch keine optischen Unterschiede oder dergleichen, die diese Entwicklung irgendwie begründeten.
Karl Pfeifer
Das mit den optischen Unterschieden weiß ich nicht …
Muamer Bećirović
Die gleiche Sprache sprechend …
Karl Pfeifer
Ich erinnere mich, als ich ‘51 nach Österreich zurückkam, ging ich in ein Geschäft und die Verkäuferin fragte mich: „Herr Pfeifer, darf ich Sie was fragen?“ Ich sagte: „Fragen Sie mich ruhig!“ „Ich wollte Sie fragen: Sind der Herr ein Aristokrat oder ein Jud‘?“ Und auf die Frage, warum Sie das fragte: „Weil sie so reden.“ Und das war auch berechtigt. Als ich ’51 zurückkam, haben die Wiener, auch die Intellektuellen, betont Dialekt gesprochen, um sich von Deutschland zu unterscheiden. Als ich ’52 bis ’54 die österreichische Hotelfachschule im Land Salzburg absolvierte, hatten wir nicht „Deutsch“ sondern „Unterrichtssprache“. Es steht noch in meinem Zeugnis „Unterrichtssprache“. Dieses Sich-Abnabeln vom Deutschtum ist eigentlich eine neue Sache in Österreich gewesen, die erst nach ’45 wirkliche Breitenwirkung hatte. Man kann sagen, dass bis Stalingrad, die meisten Österreicher sich als Deutsche verstanden hatten. Das sage ich jetzt nicht aufgrund meiner Erfahrung – weil ich ja keine hatte, ich war noch ein Kind –, sondern aufgrund der Kenntnisse der Geschichte.

© Marian Haderlap

Muamer Bećirović
Richard von Weizsäcker, ehemaliger deutscher Bundespräsident, sprach in einigen seiner Reden von einer „kollektiven Mitverantwortung“, mit der er meinte, dass ein jeder, der hätte sehen oder erfahren wollen, was mit seinen jüdischen Mitbürgern passierte, es gewusst habe. Ich frage Sie: Gibt es so etwas wie eine „kollektive Mitverantwortung“?
Karl Pfeifer
Naja, sicher gibt es so etwas, aber die geht nicht persönlich. Ich kann heute unmöglich in eine österreichische Schule gehen und das verlangen – das wäre auch kontraproduktiv. Mir ist das bewusst, daher mache ich es nicht. Ich hebe nicht meinen Zeigefinder und sage:  „Was ist da passiert?“ Ich hatte ja eine Sequenz von politischen Prozessen, die zum Teil gegen mich geführt wurde, zum Teil habe ich sie gegen Leute aus der FPÖ geführt. Ich wurde von deutschen Studenten der AStA (Abk. für „Allgemeiner Studierendenausschuss“; vgl. mit österr. ÖH; Anm.) in Münster, wo mein Kontrahent, ein Österreicher, gearbeitet und Politikwissenschaften unterrichtet hatte, eingeladen. Ich erntete tosenden Beifall, als ich den jungen Studenten sagte, dass ich nicht gekommen sei, um moralisch zu predigen, dass sie nicht für das verantwortlich seien, was vor 40, 50 Jahren geschehen ist, aber dass wir alle für die Gegenwart verantwortlich seien, damit heute nichts Ähnliches mehr passieren könne. Sie haben mir stehend Beifall gezollt. Ich bin nicht der Meinung, dass ich hier mehr Rechte hätte als andere, weil ich hier etwas gelitten habe. Stattdessen sage ich, dass ich Österreich weiterhin als demokratische Republik sehen wolle. Ich, als jemand, der Österreich ’51 erlebt hat, denke, dass politisch zwischen ’51 und 2017 Lichtjahre liegen. Auch in der Atmosphäre ist es ein anderes Land. Es gibt gewisse Sachen, die nicht aussterben. Die gibt es auch in der Politik. Aber es geht nicht mehr, dass man mit Antisemitismus Wahlen gewinnen kann. Das beste Beispiel ist 2001, als Jörg Haider es in Wien mit antisemitischer Hetze, in diesem Fall gegen Dr. Ariel Musikant, versuchte, indem er sagte: „Ich verstehe nicht, wie einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann.“ Da hat einer seiner beiden Kontrahenten, der jetzt noch amtierende Bürgermeister Wiens, Michael Häupl, zur Hauptsendezeit im Fernsehen diametral zurückgeschlagen. Der zweite, der jetzt amtierende Bundespräsident (Alexander van der Bellen; Anm.), hat diesen Ausspruch auch zur Hauptsendezeit angegriffen. Nun, ich bin nicht naiv. Es gab eine Zeit, in der das ein Politiker nicht getan hätte. Und für mich war das ein Signal, dass sich die Gesellschaft in Österreich geändert hatte, dass man damit keine Wahl mehr gewinnen kann.

 (kurze Unterbrechung)

Die Idee ist, dass, wenn Politiker sich öffentlich gegen politischen Antisemitismus ausgesprochen haben, dies eine Bedeutung hat, dass sie sehen, dass das kontraproduktiv ist. Ja sogar die FPÖ hat eingesehen, dass das kontraproduktiv ist. Ich glaube natürlich nicht, dass das bei allen FPÖ-lern so ist. Es ist schwierig für jemanden, der in einer rechtsextremistischen, antisemitischen Burschenschaft sozialisiert wurde, von seinen Ideen „wegzukommen“. Das ist ein schwieriger Prozess – und keiner zwingt sie dazu. Aber es gibt dazu eine Auseinandersetzung in der österreichischen Gesellschaft. Dazu gibt es eine Erfahrung, die ich als lustig empfunden habe. Die Österreichische Hochschülerschaft hat eine Lanzmann-Filmwoche veranstaltet. Claude Lanzmann hat bedeutende Filme gemacht und sein bedeutendster Film ist „Shoah“ (1985; Anm.), also über den Holocaust. Es wurde an einem Abend vorgesehen, dass im Auditorium Maximum an der Universität Wien ein Interview mit ihm geführt wird. Jemand von der Uni hat ihm die Fragen auf Französisch gestellt und seine Antworten dann ins Deutsche übersetzt. Und als Lanzmann reinkam, hatte er aber eine Frage gehabt und dabei hat er eine Geschichte erzählt. Er hat erzählt, wie er die jungen Hochschüler, die ihn im Taxi zur Uni gebracht hatten, gefragt hatte, ob es unter ihnen eine Jüdin, einen Juden gebe. Alle haben „Nein“ gesagt. Dann hat er gesagt, dass ihn das sehr gefreut habe, da dies in Frankreich nicht so sei. Dann hat er gefragt, wie viele Juden oder Jüdinnen es im Saal gebe. Da gab es vielleicht 800 oder 900 Leute und davon haben vielleicht vier oder fünf Leutchen die Hand gehoben. Es hat ihn mächtig gefreut, dass dort Nicht-Juden saßen, die an seinen Ausführungen interessiert waren. Das ist eine wichtige Sache, und die halte ich für sehr wichtig. Ich denke, dass ein großer Teil der österreichischen Intelligenz, insbesondere der Humanintelligenz, nichts mit Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu tun haben will.

Aber es geht nicht mehr, dass man mit Antisemitismus Wahlen gewinnen kann.Karl Pfeifer ist überzeugt, dass Antisemitismus keine Stimmen gewinnt
Muamer Bećirović
Das stimmt. Ich habe ein Zitat aus der „ZIB 2“ eines Holocaustüberlebenden, Aba Lewit, das ich sehr spannend finde. Auf die Frage, wie er sich die Faszination der Menschen für Hitler erkläre, antwortete er: „Das ist dieselbe Faszination wie für Strache, wie für Le Pen, wie für Orban.“ Die Moderatorin unterbrach ihn dann und warf ein, dass man Rechtspopulisten eigentlich nicht mit Rechtsextremisten vergleichen könne. Er sagte: „Nicht ganz, nicht ganz … Aber es führt dorthin.“ Das verstehe ich nicht ganz.
Karl Pfeifer
Wissen Sie, ich tue immer sehr vorsichtig. Als ich Journalist war, war ich immer sehr vorsichtig. Einmal war ich nicht vorsichtig und schrieb, dass ein Autor log, und hatte dann Prozesse am Hals. Aber in der Regel bin ich vorsichtig. Mit dem Attribut „Antisemit“, „antisemitisch“, gehe ich sehr vorsichtig vor. Ich denke, dass man auch mit Vergleichen zum Nationalsozialismus vorsichtig sein sollte. Ich halte diese für keine gute Sache, da sie sehr plakativ und kontraproduktiv sind. Ich würde Orban nicht in dieselbe Kategorie nehmen wie Strache. Beide sind zwei verschiedene, mir unsympathische Erscheinungen. Orbans System wird von ungarischen Intellektuellen als die „ungarische Krake“, als die „postkommunistische Mafia“, als „Mafiastaat“ bezeichnet. Das kann ich auch sagen. Sie könnten auch „illiberale Kleptokratie“ sagen, wobei er sich „illiberal“ ja selbst zuschreibt. Das sagt er ja auch. Wie eine Demokratie „illiberal“ sein kann, kann man diskutieren. Meiner Meinung nach ist das Nonsens. Eine Demokratie kann nicht illiberal sein. Im Fall von Orban haben wir es wirklich mit einem Mann zu tun, der bereit ist, für seine Sache, für seine Macht alle Mittel einzusetzen, die ein verantwortungsbewusster Politiker nicht einsetzen würde. Ich zähle Ihnen zwei Punkte auf, warum ich denke, dass Orban kein Konservativer ist. Für Konservative ist das Privateigentum heilig. Für Orban ist es nicht heilig. Er hat mit einem Federstrich 50.000 Trafikanten die Lizenz weggenommen und seine Leute eingesetzt. Leute, die eine kleine Trafik betrieben hatten, wurden brotlos gemacht. Seine erste Maßnahme war, die privaten Versicherungen zu verstaatlichen – ohne Ersatz. Das ist nicht konservativ. Das zweite ist auch wichtig. Eine konservative Partei veranstaltet keine Massendemonstrationen. Ich lebe jetzt seit ’51 wieder in Österreich und ich habe nie gehört oder gesehen, dass die ÖVP eine Massendemonstration für ihre Politik veranstaltet. Das macht sie nicht. Das ist für mich eine konservative Partei. Aber wenn für mich diese Grenzen überschritten werden, ist das keine konservative Partei. Eine konservative Partei, wie die ÖVP, hat den Antisemitismus in der Vergangenheit politisch eingesetzt. Das ist für mich keine Frage. Das war in der Kampagne für den Bundespräsidenten Waldheim der Fall. Da wurde das Motiv eingesetzt, es hat ihr aber nichts genutzt. Wem hat das genutzt? Es hat eigentlich Haider genutzt. ’86 war die Wahlkampagne von Waldheim und Haider wurde gerade zum Vorsitzenden der FPÖ gewählt – mit einer rechtsextremen Plattform. Es waren dann Wahlen und die ÖVP hat dabei nichts lukriert. Und das ist in der Politik immer ein Problem – und es ist kein rein österreichisches Phänomen, da es Derartiges auch in anderen Ländern gibt. Wenn die Leute sagen, dass man den Wind aus den Segeln nehmen müsse, blasen sie oft den Wind hinein. Und dann gibt es zum Beispiel – und das habe ich immer abgelehnt – dieses Etikettendenken: „Das sind die Linken!“, „Das ist die SPÖ!“, „Da sind die Kommunisten, die noch linker sind!“ und auf der anderen Seite: „Da ist die ÖVP!“. Das sind keine einheitlichen Blöcke. Da sind so viele verschiedene Strömungen. Jetzt während der Van der Bellen-Wahl im Dezember 2016 gab es einen ÖVP-Bürgermeister in Bludenz in Vorarlberg (Josef Katzenmayer; Anm.), der aufgerufen hatte, Van der Bellen zu wählen. Österreich ist weg von diesem Lagerdenken, das es früher so gegeben hat. Die Leute versuchen, selbstständig zu denken. Das könnte Politik interessant machen, aber leider ist sie derzeit nicht so interessant. Ich empfinde, dass die wenigstens so reden können, dass man auch darüber lachen kann. Die meisten gehen mit einem tödlichen Ernst an die Sache – oft auch mit eingelernten Stehsätzen. Man ist in Österreich schon froh, wenn ein Politiker einen deutschen Satz sagen kann, ohne Grammatikfehler zu begehen. Da denkt man schon, dass das ein Zeichen von großer Intelligenz sei. Ich muss aus meiner Erfahrung als Journalist sagen, dass ich mit einigen österreichischen Politiker Interviews führen musste – und ich werde keine Namen nennen, Gott behüte –, die wirklich wirres Zeug geredet haben und ich musste diese Sachen dann in eine lesbare Sprache übersetzen. Das ist traurig. Aber das ist halt so.
Man ist in Österreich schon froh, wenn ein Politiker einen deutschen Satz sagen kann, ohne Grammatikfehler zu begehen. Da denkt man schon, dass das ein Zeichen von großer Intelligenz sei.Karl Pfeifer über die politische Kultur in Österreich
Muamer Bećirović
Ich möchte zum nächsten Punkt kommen und zwar: Gustave Le Bon. Er schrieb das Buch …
Karl Pfeifer
„Psychologie der Massen“
Muamer Bećirović
Genauso ist es. Ein spannendes Buch. Er begründet es so, dass die breite Massen „aus einem außerordentlich geistigen Tiefstand der Massen beklagt“. Er wirft ihr „Triebhaftigkeit“, „Wankelmut“ vor. Wieso funktioniert es, aus den Menschen das Niedrigste herauszuholen? Neid zum Beispiel – die einen bekommen mehr als die anderen. So etwas wie Hass …
Karl Pfeifer
Nicht nur das, da gibt es Verschiedenes. Es gibt auch Ängste. Leute haben Angst vor Wandlungen. Wenn ich daran denke: Ich hatte einen sogenannten „sicheren“ Posten als Angestellter, ich war dem Generaldirektor einer internationalen Firma in Österreich beigeordnet. Ich hatte einen „total sicheren“ Posten. Alle waren erstaunt, als ich diesen sicheren Posten verließ, um bei einer amerikanischen Firma in London zu arbeiten, wo ich überhaupt keine Sicherheiten hatte. Es gab in dieser Firma einen Antisemitismus, den ich zwar nicht zu spüren bekam, aber es kam der Chef des Betriebsrates – das war 1970 – mit einem antisemitischen Flugblatt, das in der Firma hektographiert wurde. Das hat mich dann veranlasst, wegzugehen. Warum die Leute so denken, warum sie das gemacht haben, ist ja die Frage. Das ist schwer mit einer Sache zu beantworten. Zu meiner Zeit damals gab es soziale Sicherheiten in Österreich. Wenn jemand irgendwo einen Posten hatte, hat er dort ein paar Jahre gearbeitet und hat dann Rechte erworben. Es war ziemlich sicher, dass er dort lange hat arbeiten können. Heute ist diese Sicherheit natürlich weg. Das spüren die jungen Leute, die ins Berufsleben kommen. Sie hackeln, viele gehen von einem Job zum anderen, von einem Projekt zum anderen. Das ist natürlich eine Sache, die sehr unsicher macht.
Muamer Bećirović
Aber wissen Sie, meine Eltern sind vorm Bosnienkrieg geflohen. Ich kann sagen, dass ich in einer gewissen Art und Weise kriegerische Zustände erlebt habe. Ich begreife daher nicht, wie der FPÖ-Chef (Heinz-Christian Strache; Anm.) vor kurzem (am 24. Oktober 2016; Anm.) über „bürgerkriegsähnliche Zustände mittelfristig“ in Österreich sprechen konnte, wobei der Grund dafür der ungebremste Zustrom von „kulturfremden Armutsmigranten“ sei.

© Marian Haderlap

Karl Pfeifer
Sie beanstanden das natürlich vollkommen zurecht. Zu meiner Zeit, als ich zurückkam, wurde mir vorgehalten, kein echter Österreicher zu sein. Ich wurde in diesem Land geboren, meine Muttersprache ist Deutsch.
Muamer Bećirović
Selbst nach dem Krieg?
Karl Pfeifer
Ja, selbst nach dem Krieg – ‘51, ‘52. Lange Zeit wurde mir das im Gespräch mit Leuten vorgehalten, dass ich kein …
Muamer Bećirović
Trotz der Schandtaten?
Karl Pfeifer
Nichts. Ich war ein „Zugraster“. Ein österreichischer Politiker von den Linken, der während meines Interviews über die Novellierung des NS-Verbotsgesetzes mit ihm – ich war Journalist der Kultusgemeinde, das heißt ich stellte nicht meine eigenen Fragen, sondern die des Instituts – angeheitert war, gab mir zu verstehen: „Herr Pfeifer, wir werden doch kein Sondergesetz machen, bloß weil ein paar Verrückte auf der Kärntner Straße schreien: ‚Russen raus!‘“ Und dann hat er impliziert, dass ich ein „Zugraster“ bin. Ich habe ihn dann unterbrochen und gesagt: „Der Herr! Ich habe Baden bei Wien ’38 erlebt. Sie können mir darüber nichts erzählen!“ Dieser Mann ist plötzlich nüchtern geworden und hat dann ganz normal weitergesprochen. Dieses „Zugraster“ hat man mir oft gesagt. Man hat mir auch oft gesagt, dass mein Deutsch kein österreichisches Deutsch sei, wobei mir, wenn ich in Deutschland bin, die Leute auf den Kopf zu sagen: „Sie kommen ja aus Österreich!“ Es ist schwierig. Wie geht das zusammen? Ich bin der Letzte, der leugnet, dass es für Außereuropäer schwierig ist, die noch dazu bildungsfern sind, herzukommen und sich zu integrieren. Das ist ein Problem.
Ich bin der Letzte, der leugnet, dass es für Außereuropäer schwierig ist, die noch dazu bildungsfern sind, herzukommen und sich zu integrieren. Das ist ein Problem.Karl Pfeifer leugnet die Probleme in der Migrationspolitik nicht
Muamer Bećirović
Keine Frage …
Karl Pfeifer
Und alle Leute, die das leugnen, die sagen, dass das überhaupt kein Problem sei, begehen einen Fehler. Ein Fehler, der in meinem Fall in meinem privaten Umkreis dazu führte, dass jemand, mit dem ich befreundet war, mich auf Facebook „unfriended-te“. Fast wurde ich als „Nazi“ oder als „Rassist“ hingestellt – nicht weil ich gesagt habe, dass diese Leute oder ihre Kultur weniger wert seien, sondern weil ich auf die Problematik hingewiesen habe. Es gibt reelle Probleme. Aber gerade das Beispiel ihrer Eltern, das Bespiel der Leute, die aus Polen, aus Ungarn zugezogen sind, zeigt, dass es möglich ist, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Jetzt würde ich meinen, dass sich auch die österreichische Gesellschaft groß gewandelt hat. Juden, junge Juden, die Kommunisten geworden sind, die aus Österreich nach England emigriert sind, waren in einer Bredouille, weil sie jetzt das nationale Österreichertum in London hervorkehren wollten. Die Mädchen haben Dirndl angezogen, die Burschen Lederhosen. Diese jungen jüdischen Kommunisten haben dort österreichische Volkstänze getanzt. Das ist natürlich absurd. Ich war damals nicht dort, aber ich halte das für eine Absurdität. Als diese dann zurückgekommen sind, mussten sie natürlich eine schreckliche Enttäuschung erleben.
Ich bin nicht aus politischen Gründen nach Österreich zurückgekommen, und habe daher diese Enttäuschung nicht erlebt. Aber die Frage ist: Kann die österreichische Gesellschaft integrieren? So wie sie heute ist, glaube ich, kann sie das. Und ich glaube auch, dass Leute, die nicht nach Wien kommen, sondern in kleine Ortschaften mehr Chancen haben, integriert zu werden, als Leute, die in die anonyme Großstadt kommen. Das weiß ich, weil ich überall hingehe, wo man mich als Zeitzeuge einlädt. Ich war in Oberösterreich und habe einige wunderbare Beispiele gehabt, von Lehrern, die erzählt haben, wie Leute im Dorf integriert worden sind und wie jetzt der Standpunkt dieser Leute ist.
Muamer Bećirović
Ich habe Tagebücher und Jugendschriften von Joseph Goebbels gelesen. Interessanterweise, so sehr ich auch versuchte, dieses Gedankengut nachzuvollziehen, fiel mir dazu nichts ein. Sie werden sehen, dass er teilweise seinen Antisemitismus mit dem Neuen Testament begründet.
Karl Pfeifer
Er war Katholik. Er kam aus dem Rheinland. Er kam aus einem katholischen, wahrscheinlich auch antisemitischen Milieu. Eigentlich hat er am Anfang Stellung für die Strasser-Brüder genommen, die den Sozialismus mehr betont hatten, als dies bei den Nationalsozialisten der Fall war. Er ist verhältnismäßig spät, erst mit 27, 28 Jahren zu Hitler gekommen und war dann schwer von Hitler beeindruckt. Das kann man wohl sagen.

© Marian Haderlap

Muamer Bećirović
Ich zitiere – und das ist nicht unspannend: „Christus ist das Genie der Liebe. Als solches der diametrale Gegenpol zum Judentum, die die Inkarnation des Hasses darstellt. Der Jude bildet eine Unrasse unter den Rassen der Erde. Er hat dieselbe Aufgabe, die im menschlichen Organismus das Giftbazillus hat.“ Verstehen Sie das?
Karl Pfeifer
Aber Jesus war Jude.
Muamer Bećirović
Richtig. Aber wie begreift man so etwas?
Karl Pfeifer
Das ist schwer, zu begreifen. Es gibt auch in jeder Religion widersprüchliche Elemente. Das trifft auf alle abrahamitischen Religionen zu. Auch im Islam gibt es Teile, die absolut judenfreundlich sind, und gibt es Teile, die absolut judenfeindlich sind. Das Frühchristentum war nichts anderes als eine jüdische Sekte. Jesus war ein Jude, der beschnitten war, und Aramäisch, die damals gängige Sprache der Juden, gesprochen hat. Ich glaube, dass es verschiedene Wege gibt. Über den Antisemitismus gibt es wirklich viele Bücher. Ich denke, dass man, wenn man den Antisemitismus im Geistlichen wirklich verstehen will, das Buch („Anti-Judaism: The Western Tradition“; 2013; Anm.) von David Nirenberg über den Judenhass lesen sollte. Er beschreibt eigentlich nur, wie dieser Judenhass sich im Geistlichen entwickelt hat und wie er praktisch fortgesetzt wurde. Er gibt wahnsinnig interessante Bespiele, wie zum Beispiel jenes in Spanien 200 Jahre nach der Inquisition. Zwei Spanier, zwei katholische Spanier, beschuldigten einander in einer Diskussion, dass das Gegenüber „judaisiere“.
Muamer Bećirović
Haben Sie für sich persönlich erklären können, warum die Naziführung ihre Taten nie bereut hat, sondern sie sogar gewissermaßen als richtig empfunden hat? Ich meine, jeder Mensch, der einen Unschuldigen umlegt, kann das doch nicht als richtig empfinden.
Karl Pfeifer
Naja, sie haben die Juden nicht als Menschen gesehen, sondern als Gegenentwurf zum Menschen. Und so war es auch ganz klar, dass am Ende dieser Straße die Vernichtung stand. Leider war dies nicht das letzte Beispiel in der Geschichte. In Ruanda gab es (1994; Anm.) einen Völkermord. Man hat nach ’45 nicht gedacht, dass es jemals wieder einen Völkermord geben könne. Selbiges gilt für Jugoslawien, wo Ihre Eltern herkommen, und wohin ich zum Beispiel sehr oft fuhr, weil es mich sehr interessierte, weil ich im Kibbuz mit jugoslawischen Kindern groß geworden bin. Wer hätte daran gedacht, dass in Jugoslawien Srebrenica geschehen würde? Oder an die Gräuel, die nicht nur die Serben, sondern auch Kroaten und Bosnier gemacht haben? Dass dieser Hass so kommt, in einem Land, in dem man eine gemeinsame Sprache sprach – mit Ausnahme der Albaner und der ungarischen Minderheit? Im Großen und Ganzen war es die gleiche Kultur, die gleichen Schriftsteller. Ein Land, das sich auch ergänzt hat und plötzlich ist es gelungen, dieses Land vollkommen …
Muamer Bećirović
Aber sie waren Nachbarn, Herr Pfeiffer. Nachbarn, Mitbürger. Verstehen Sie?
Karl Pfeifer
Wissen Sie, ich war schockiert. Ich war viel in Jugoslawien. Ich bin während des Jugoslawienkrieges nach Novisad und nach Belgrad gefahren, um zu berichten. Ich habe einen langen Artikel darüber geschrieben, der in „Die Zukunft“ (SPÖ-Zeitschrift; Anm.) erschienen ist. Ich beschreibe darin, wohin der Nationalismus – in diesem Fall bei den Serben – geführt hat. Die Serben sind in Novisad demonstrieren gegangen, damit die Minderheitenrechte, die Autonomie in der Vojvodina abgeschafft wird. Als sie das damals taten, hatten sie, als Arbeiter, noch tausende Mark Gehalt, was nicht schlecht war für jugoslawische Verhältnisse. Und plötzlich wurden sie alle arbeitslos und konnten dann vielleicht mit Zigarettenschleichhandel 150 Mark, 200 Mark verdienen. Man hat gesehen, wie dieser ganze Nationalismus das Land in den Ruin geführt hat.

© Marian Haderlap

Muamer Bećirović
Aber begreift man Krieg erst, wenn man ihn selbst erlebt hat? Ist er anders nicht nachvollziehbar?
Karl Pfeifer
Wissen Sie, es gibt verschiedene Kriege. Zum Beispiel hat Trump, als eine Frau in Charlottesville (während einer rechtsextremen Demonstration am 12. August 2017; Anm.) ermordet wurde, beide Seiten (die Rechtsextremen und die Gegendemonstranten; Anm.) gleichgesetzt. Ein republikanischer Senator (Orrin Hatch, Utah; Anm.) hat dazu gesagt, dass sein Bruder nicht gegen Nazis gekämpft habe, damit so etwas passieren könne. Warum funktioniert das in Amerika?
Muamer Bećirović
Haben Sie eine Antwort dafür bekommen? Ein Mann, der sexistisch ist, Frauen beleidigt, Minderheiten beleidigt, sie als Vergewaltiger, Drogenverbrecher, Verbrecher abgestempelt hat, …
Karl Pfeifer
Aber er hat nicht als Vergewaltiger oder Frauenbeleidiger gewonnen. Er hat dank der sogenannten weißen Arbeiterklasse, der weißen soziologischen Unterschicht gewonnen. Dort hat er die meisten Stimmen bekommen. Das war dann ausschlaggebend. Das wird aber à la longue in den Vereinigten Staat nicht gehen. À la longue ist das Land zutiefst polarisiert. Österreich ist – Gott sei Dank – nicht so polarisiert. Ich wünsche mir keine Polarisierung, die so weit geht, dass der eine nicht mehr mit dem anderen reden kann.
Muamer Bećirović
Natürlich kann das damit begründen, indem man sagt, dass es der weißen Unterschicht dort schlechter gehe. Aber wenn wir unsere Wahlen anschauen: Ich meine, bei uns wäre fast jemand Bundespräsident geworden, der fast 47 Prozent der Stimmen bekommen hat, der ein Buch herausgegeben hat, in der davon die Rede ist, „wie die Wespenlarve die Made von innen langsam zerfrisst.“ Der ORF fand die Stelle, in der Österreicher als „Maden“ und Ausländer als „Wespenlarven“ bezeichnet werden. Verstehen Sie? Von so einem Gedankengut spreche ich, und dabei geht es uns noch verhältnismäßig gut. Wissen Sie, wir haben ja keine materielle Not, die einen dazu bringt, jemanden ankreuzen, der …
Karl Pfeifer
Es ist nicht nur materielle Not, sondern die Leute fühlen sich auch nicht mitgenommen. Es gibt da verschiedene Gründe. Das hat auch mit der Schwäche der Sozialdemokratie zu tun, die so sehr verloren hat, dass sie auch nichts zu sagen hat. In diesen Leuten entstehen dann Neid- und Angstgefühle. Angst vor Veränderung spielt natürlich auch eine große Rolle. All das beeinflusst die Leute. Und dagegen könnte beziehungsweise sollte man schon etwas machen.
Ich wünsche mir keine Polarisierung, die so weit geht, dass der eine nicht mehr mit dem anderen reden kann.Karl Pfeifer ist gegen die Polarisierung der Gesellschaft
Muamer Bećirović
Man stelle sich doch vor, wir hätten eine größere Wirtschaftskrise, die 20, 30 Prozent Arbeitslosigkeit hervorrufen würde. Da würden wir andere Zeiten erleben, da bin ich mir ganz sicher.
Karl Pfeifer
Ich weiß es nicht. Das sind alles Hypothesen. Ich bin nicht bereit, darüber zu spekulieren. Ich sehe mit Besorgnis, dass die FPÖ in gewissen Gebieten erfolgreich ist. Sie ist zum Glück nicht so sehr erfolgreich bei jungen Akademikern. Also an der Uni ist sie nicht so erfolgreich. Das ist gut. Zu meiner Zeit gab es den Skandal um Taras Borodajkewycz, der an der „Welthandel“ (heutige Wirtschaftsuniversität Wien; Anm.) Geschichte gelehrt hatte. Er war ein Protegé der ÖVP, der antisemitische Sachen gesagt hat. Übrigens, jetzt ist der Johannes Hübner, der der Gegenanwalt in meinen Prozessen war, (während eines Kongresses der rechtsextremen „Gesellschaft für freie Publizistik e.V.“; Anm.) damit gekommen, dass Hans Kelsen „Kohn“ („Kohn“ wird des Öfteren in rechtsextremen oder diesen nahestehenden Kreisen als Hinweis auf Kelsens jüdische Herkunft verwendet; Anm.) geheißen habe. Das hat damals große Erheiterung bei den Anwesenden (in der Videoaufzeichnung als „Studentenschaft“ bezeichnet; Anm.) ausgelöst. Soviel dazu: Ich kann mich noch an eine Demonstration lebhaft erinnern, bei der Studenten uns mit „Kommunisten nach Moskau! Juden nach Ausschwitz!“ angeschrien haben. Das war ’65 – 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges! Und das waren österreichische Studenten, die das geschrien haben.
Muamer Bećirović
Es gibt ein Zitat vom deutschen Altkanzler Schmidt, das besagt, dass es bei Millionen Bürgern, auch Arbeitnehmern, eine unterschwellige Neigung gebe, den Ausländern für alles die Schuld zu geben.
Karl Pfeifer
Ich weiß nicht, ob das funktioniert. Ich glaube, das funktioniert nicht ganz. Also wenigstens in Österreich funktioniert es nicht ganz. Aber sicher kann man das versuchen. Das versucht die FPÖ mit den Migranten, aber damit alleine kann man nicht ihren Erfolg begründen, weil sie diesen schon vor der Krise hatte. Sie waren auch bei Wahlen zuvor erfolgreich. Das hatte nichts mit Migranten zu tun. Immer waren sie ausländerfeindlich. Das war auch Haider. Haider hat seinen Erfolg damit gehabt.

© Marian Haderlap

Muamer Bećirović
Ich kenne Haiders Pressesprecher (Stefan Petzner; Anm.) und ich treffe ihn hin und wieder. Ich habe ihm gesagt, dass Rechtspopulismus nicht so schnell in extremere Schichten münde, worauf er mir interessanterweise erwidert hat, dass das nicht stimme. Die Grenze sei sehr kurz und sehr …
Karl Pfeifer
Das meine ich auch. Das kann in Gewalt umschlagen. Ich würde es für richtig empfinden, wenn auch in Österreich, wie in Deutschland, die „Identitären“ vom Verfassungsschutz beobachtet werden würden. In Österreich ist der Verfassungsschutz sehr zurückhaltend, meiner Meinung viel zu zurückhaltend. Und eigentlich hätten auch Leute wie Johannes Hübner und andere in der FPÖ beobachtet werden müssen.
Muamer Bećirović
Interessanterweise sind Sie sehr gelassen, was das angeht.
Karl Pfeifer
Was erwarten Sie von einem 89-jährigen Journalisten? Soll ich jetzt aufschreien? Meine Aufgabe als Journalist ist, zu schreiben. Meine Aufgabe ist nicht, Volksreden zu halten, und deswegen kann ich diese Themen gelassen beantworten. Es gab schon eine schwarz-blaue Regierung und da habe ich auch weitergelebt. Ich bekam weiterhin meine Pension ausbezahlt. Ich habe keine persönlichen Ängste (vor einer rechten Regierung; Anm.), aber ich würde es als einen Weg zur Regression ansehen, so wie das in Ungarn der Fall ist. Ungarn beschreitet mit Orban einen Weg der Regression. Unser guter Franz Grillparzer beschrieb 1848, 1849, wie eine Kultur über den Nationalismus zur Barbarei kommt. Das Zitat habe ich nicht im Kopf. Aber das ist ein Zitat, das sehr oft gebracht wird – und es trifft oft zu. Der Weg in die Barbarei führt natürlich oft über einen Chauvinismus – „Nationalismus“ würde ich nicht sagen. Mit Chauvinismus ist dieser Weg gepflastert. Und in Ungarn sieht man das sehr gut. Viele Leute, die Orban gewählt haben, sind die Leidtragenden. Und ich bin auch zutiefst überzeugt, wenn die FPÖ an die Macht kommen würde, wären viele ihrer Wähler die ersten Leidtragenden, denn wir wären dann auf dem Weg zur Abschaffung unseres Sozialsystems. Jetzt kann man natürlich sagen, das österreichische Sozialsystem sei nicht perfekt, man könnte es perfektionieren. Unter allen Sozialsystemen in Europa gehört es jedoch zu den besten. Und daher besteht hier natürlich eine Gefahr.
Gibt es etwas Schlimmeres als eine österreichische Justiz, der ich beweisen musste, bei der ich den Beweis antreten musste, dass die Juden Deutschland 1933 nicht mit Krieg bedroht hatten?Karl Pfeifer über den Zustand der österreichischen Justiz
Muamer Bećirović
Am Ende Ihrer Dokumentation haben Sie gesagt: „Abschließend möchte ich sagen, was Österreich anlangt, war ich immer pessimistisch und wurde leider fast nie enttäuscht.“ Würden Sie das heute so wieder wiederholen?
Karl Pfeifer
Sie müssen den Kontext begreifen, in dem ich das gesagt habe. Ich habe das in Bezug auf meine Prozesse gesagt. Ich habe mich auf die Tatsache bezogen, dass die österreichische Justiz für richtig befunden hatte, dass ich mit einem Artikel, einer Rezension, die ich 1995 geschrieben hatte, einen Menschen fünf Jahre später in den Selbstmord getrieben haben soll. Das hat die österreichische Justiz für richtig empfunden. Da war ich in einer Empörung über den Zustand der österreichischen Justiz. Und da muss ich auch die Leute beschuldigen, die die FPÖ damals als liberal geschätzt haben, und sie, wie die SPÖ, gebraucht haben – im konkreten Fall Bruno Kreisky, der die FPÖ für seinen politischen Machterhalt gebraucht hat –, dabei sogar in Kauf nahmen, Leute aus Burschenschaften, Leute aus dem Dunstkreis der FPÖ in die österreichische Justiz hineinzusetzen. Ich habe das gespürt. Ich habe das gespürt, als ich im Oberlandesgericht saß, als jemand, der eine Klage erhoben hatte. Meine Klage wurde abgewiesen und die Senatspräsidentin zeigte mit dem Finger auf mich. Ich war angezogen. Ich lernte als Kind, dass man auf angezogene Menschen nicht mit dem Finger zeigt. Doch sie zeigte auf mich und sagte: „Sie, Herr Pfeifer! Ihr Artikel ist dafür verantwortlich, dass die Grünen und Sozialdemokraten in Deutschland den Professor Pfeifenberger aus seinem Amt gedrängt haben!“ Gibt es etwas Schlimmeres als eine österreichische Justiz, der ich beweisen musste, bei der ich den Beweis antreten musste, dass die Juden Deutschland 1933 nicht mit Krieg bedroht hatten? Gibt es etwas Schlimmeres? In diesem Zusammenhang habe ich das (Zitat Pfeifer: „[…] was Österreich anlangt, war ich immer pessimistisch […]“; Anm.) gesagt. Heute bin ich etwas optimistischer.