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Gespräch N° 17 | Kultur

Konrad Paul Liessmann

„Ich glaube nicht, dass man aus der Geschichte lernen kann“

Ist die Wahrheit den Menschen zumutbar? Österreichs Starphilosoph Konrad Paul Liessmann kennt sehr viele Menschen, die gerne die Österreichische Fußballnationalmannschaft aufstellen würden, aber keinen einzigen, der gerne Bundeskanzler wäre. Im Gespräch mit Muamer Bećirović erklärt er, warum Parteifunktionäre heutzutage bis Kasachstan ausweichen müssen und warum er froh ist, keinen Colt umgeschnallt zu haben.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 15. Juni 2016, fotografiert hat Julien Pflanzl.
Muamer Bećirović
Herr Professor, Sie gelten als das Brain Österreichs. Wie fühlt es sich an, wenn man den meisten Menschen intellektuell überlegen ist?
Konrad Paul Liessmann
Da muss ich Sie gleich korrigieren: Weder fühle ich mich intellektuell überlegen, noch bin ich es. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, dass ich meinen Gesprächspartnern, meinen Kollegen oder meinen Mitarbeitern in irgendeiner Weise überlegen wäre. Ich bemühe mich, Sachen so gut wie möglich zu erledigen, so scharf wie möglich zu denken, so klar wie möglich zu formulieren. Das stößt zwar nicht immer auf Gegenliebe, aber bestimmt nicht aufgrund intellektueller Unterlegenheit. Ja, es gibt unzählige Menschen, die das, was ich mache, nicht brennend interessiert, aber die werden andere Gründe dafür haben. Ich sehe das Ganze nicht ganz so hierarchisch.
Muamer Bećirović
An Ihren Eitel kann man also nicht appellieren?
Konrad Paul Liessmann
Nein. Da beißen Sie sozusagen auf einen Granit aus Anti-Eitelkeit.
Muamer Bećirović
Sie haben in einem Interview einmal Folgendes gesagt: Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter. Was verstehen Sie eigentlich vom Begriff Geschichte? So wie Sie das formulieren, müsste Geschichte für Sie doch mehr als eine Aneinanderreihung von Zahlen und Geschehnissen sein.
Konrad Paul Liessmann
Ja, es ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Zahlen und Geschehnissen. Geschichte ist vielmehr eine Rekonstruktion, eine Erzählung von Ereignissen, ihren Zusammenhängen und Entwicklungen, ihrer Vergangenheit, ihren Vorgeschichten, ihren Theorien. Wenn man sich nun auf Wikipedia über bestimmte historische Persönlichkeiten oder Epochen informieren will, stößt man natürlich zum Teil auf sehr gute Einträge, wie man sie in jedem großen Lexikon früher auch gefunden hat. Wenn man jetzt allerdings, um ein fernliegendes Beispiel zu nehmen, von römischer Geschichte überhaupt keine Ahnung hat, etwa von der Entwicklung des römischen Imperiums, seiner Institutionen und seiner Rechtsauffassungen, dann gestaltet sich diese Sache etwas schwieriger. Ja, man kann einen Wikipedia-Artikel über Julius Cäsar lesen. Und bekommt das Bild eines wild gewordenen Mannes, der über die Gallier hergefallen ist. Aber das war’s dann auch. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Es geht um die Bedeutung, um die Einbettung in einen Zusammenhang, um Ursachen und Gründe. Das geht aber nicht ganz ohne historische Details. Es braucht einfach ein fundamentales Gefühl für historische Zusammenhänge, ein Gefühl für Geschichtlichkeit, für Gewordenheit – aber auch für Ereignisse, für Personen, für Entscheidungen. Dieses Gefühl geht durch Nachschlagwerke wie Wikipedia verloren. Ich bemerke das bei sehr vielen Menschen, mit denen ich spreche: Es scheint, als läge alles, was nicht gerade erst geschehen ist, auf ganz eigentümliche Weise gleich weit zurück. Ob man nun eine Geschichte aus dem ersten Weltkrieg erzählt oder die punischen Kriege erklärt – all das ist für viele Menschen einfach Vergangenheit. Das Gefühl für historische Zeiten und Intervalle verschwindet, was auch damit zu tun hat, dass der kompetenzorientierte Geschichtsunterricht diese Zeiten und Abfolgen nicht mehr kennt. Stattdessen setzt man auf Querschnitte, legt Schwerpunkte fest und vergleicht Dinge, die sehr weit auseinanderliegen. Natürlich kann man die Stellung der Frau im antiken Griechenland mit der Stellung der Frau heute vergleichen. Nur kann dabei eigentlich nur Unsinn rauskommen, weil dazwischen 2000 Jahre Entwicklung stecken, die einfach ausgeblendet werden, sodass wir vor der wirklich paradoxen Situation stehen: Auf der einen Seite drehen wir Filme über historische Ereignisse, Epochen, oder auch historische Lebensformen. Deutsche Fernsehsender etwa senden jedes Jahr einen Vierteiler, der im Mittelalter spielt, historisch höchst bedenklich, aber seis drum. Auf der anderen Seite verlieren wir in hohem Maße das Wissen um historische Zusammenhänge. Und dabei glaube ich nicht, wie es viele andere Menschen tun, dass man aus der Geschichte lernen kann. Aber ich glaube sehr wohl, dass man bestimmte Entwicklungen einfach nur verstehen kann, wenn man imstande ist, sie in ihrer historischen Genese zu rekonstruieren. Und diese Fähigkeit geht zurück, diese Einsicht verschwindet.
Muamer Bećirović
Ob man aus der Geschichte lernen kann, darauf komme ich später noch zurück. Ich habe eine andere Frage für Sie: Der große französische Staatsphilosoph Joseph Marie de Maistre hat einmal gesagt, dass das Volk jene Regierung bekommt, die es verdient. Stimmen Sie dem zu?
Konrad Paul Liessmann
Naja, ganz unmittelbar gesehen, trifft dieser Satz auf eine Demokratie zu – der konservative de Maistre war ja ein Gegner dieser Staatsform. In einer Demokratie wird die Regierung gewählt, und in einer solchen Wahl drückt sich der Wille der Wähler aus. Es ist natürlich so, dass das Volk nie eine Einheit ist. Es wählt auch nie zu hundert Prozent eine Regierung, sondern – zumindest in der repräsentativen Demokratie – Verhältnisse im Parlament. Die Abstimmungsverhältnisse spiegeln immer unterschiedliche Interessenslagen. Ein Teil des Volkes bekommt also immer die Regierung, die es verdient, ja. Die anderen müssen wohl oder übel in den sauren Apfel beißen, denn die hätten ja gerne eine andere Regierung gehabt. Idealtypisch besteht das Wesen der Demokratie genau darin, dass sich die Minderheit der Mehrheit beugt, und dass man das so akzeptiert. Das Gebilde der Demokratie würde doch auseinanderfallen, würden die Wahlverlierer nach jeder Wahl behaupten, mit diesem Land nichts mehr zu tun haben zu wollen. So geht’s natürlich nicht.
Konrad Paul Liessman

© Julien Pflanzl

Muamer Bećirović
Sind Politiker Erzieher? Das Wort Erzieher ist ja eigentlich ein familiärer Begriff, was die Menschheit aber oft vergisst, sind die staatlichen Institutionen. Ohne solche Institutionen, wie etwa Schulen, wären Menschen doch unerziehbar. Wie sehen Sie das?
Konrad Paul Liessmann
Erziehung, oder die Notwendigkeit zur Erziehung, ist ein anthropologisches Faktum. Der Mensch ist ja nicht ein Wesen, das sich wie ein Tier aufgrund seines Instinktprogramms durchschlagen kann. Das heißt, er muss lernen. Er muss erzogen werden, er muss Vorbilder haben. Und wenn man jetzt behauptet, all diese Vorbilder wären schon eine Institution, dann ist das eine vielleicht unzulässige These: Ein Kind muss zum Beispiel sprechen lernen. Es lernt ja niemand von alleine, eine Sprache zu sprechen. Friedrich der Zweite, der große, naturwissenschaftlich interessierte, mittelalterliche Kaiser, hat einst das Experiment gemacht, Kinder isoliert aufzuziehen – ohne Kommunikation und ohne sozialen Kontakt. Er fragte sich: Werden diese Kinder von alleine lernen, wie man spricht? Und wenn ja, welche Sprache werden sie sprechen? Er wollte sozusagen herausfinden, was die menschliche Ursprache ist. Das Ergebnis ist interessant: Sie haben gar keine Sprache gesprochen. Sie haben sich über Lallen, Schreien und Weinen verständigt. Und sie sind gestorben. Und das, obwohl sie gut ernährt wurden. Sie sind vielmehr an einem Mangel an sozialen Kontakten und Kommunikation gestorben. Das heißt, alleine die Tatsache, dass wir als Menschen kommunizierende Wesen sind und dass wir Sprache nur erwerben, indem jemand mit uns spricht, setzt Sprecher voraus. Ob das jetzt Eltern sind, die Mutter, eine Gemeinschaft oder ältere Geschwister, die schon zu sprechen gelernt haben, ist vollkommen unerheblich. Und ich halte wenig davon, jede Form von sozialer Gemeinschaft schon eine Institution zu nennen. Natürlich könnte man meinen, dass jede Form von Familie, Gruppe, Verband oder Clan eine Art Institution ist. Auf der anderen Seite würde ich den Begriff der Institution doch eher für Einrichtungen reservieren, die über das hinausgehen, was unmittelbare Formen des Zusammenlebens und der Organisation von Gruppen, Familien, und sexueller Reproduktion betrifft. Institutionen haben für mich vielmehr einen formalen Charakter, sie gehorchen einem Regelwerk und haben darüber hinaus den Anspruch, ihre Mitglieder zu überleben. Auf diese Weise ist die Schule natürlich zu einer Institution geworden, allerdings erst relativ spät. Es gibt Vorformen von Schulen in der Antike und gewisse Arten von Schulen im Mittelalter, aber erst seit Maria Theresia flächendeckenden Schulbetrieb.
Muamer Bećirović
Ich habe mir einfach die Frage gestellt, ob die Bevölkerung Politiker erzieht, oder ob es eher umgekehrt der Fall ist.
Konrad Paul Liessmann
Ich halte das überhaupt für viel zu verfänglich. Das politische Verhältnis zwischen der Bevölkerung und den Regierenden – wir gehen von einer Demokratie aus – ist doch kein pädagogisches Verhältnis. Es geht hier gar nicht um Erziehung. Es gibt natürlich diese These vom paternalistischen Staat: Ein Regime, dass seinen Bürgern sanft, wie ein fürsorglicher Vater oder eine fürsorgliche Mutter, andeutet, was eher zu unterlassen ist, was nicht gesagt werden sollte und was gar nicht erst gedacht werden darf. Ich halte nichts von dieser Form von Paternalismus. Ich gehe in der Demokratie davon aus, dass es sich beim Wahlvolk um mündige Erwachsene handelt, die selbst bestimmen können, was sie tun, sagen und denken.
Muamer Bećirović
Und im Sinne von politischem Erziehen? Nicht im Sinne einer gesellschaftlichen oder familiären Erziehung, sondern im Sinne der Politik, im Sinne der politischen Meinungsbildung. Wer erzieht da wen?
Konrad Paul Liessmann
Erzieht überhaupt irgendjemand irgendjemanden? Ich glaube zu wissen, worauf Sie hinauswollen: Natürlich könnte man sagen, Politiker richten sich nach bestimmten emotionalen Stimmungen im Volk. Es gibt diese Populismusthese – einfach der dumpfen Meinung einer vermeintlichen Mehrheit folgen. Und es gibt die Gegenthese, die besagt, dass ein Politiker, der von der Richtigkeit einer Sache überzeugt ist, diese auch entgegen der negativen Stimmung seiner potentiellen Wähler durchsetzen muss. Angst zum Beispiel, oder Hoffnung, oder Zukunftsoptimismus. Das sind lauter Stimmungen, die vom Volk ausgehen. Natürlich können Politiker darauf reagieren, sie können auch versuchen, solche Stimmungen zu stärken oder zu schwächen. Sie können dagegen ankämpfen oder sie sich zunutze machen. Allerdings glaube ich nicht, dass Politiker diese Stimmungen erzeugen können. Es gehört schon mehr dazu, um Angst zu erzeugen. Sensible Politiker können diese Angst aber spüren und sie dann aufgreifen, benutzen, verstärken oder abschwächen.
Muamer Bećirović
Sie würden also nicht sagen, dass ein Politiker Menschen erziehen kann? Am Beispiel Jörg Haiders kann man sehen, wie ein Politiker den Rechtspopulismus in Österreich salonfähig gemacht hat. Würden Sie nicht sagen, dass dieser Mann die Bevölkerung auf politische Weise zu etwas erzogen hat?
Konrad Paul Liessmann
Ich halte erzogen einfach für das falsche Wort. Er hat sie beeinflusst, keine Frage. Er hat ihnen Illusionen gegeben. Er konnte sie für etwas begeistern. Das ist alles im Rahmen des Legitimen. Hätte er sie erzogen, hätte er ihre Persönlichkeit verändert, ihren Charakter geprägt. Und das ist bei erwachsenen Menschen nicht mehr so einfach möglich. Natürlich hat er große Stücke auf der Klaviatur der politischen Emotionen gespielt. Aber diese Emotionen waren schon da.
Muamer Bećirović
Hat er sie benutzt?
Konrad Paul Liessmann
Ja, er hat sie benutzt. Aber Emotionen zu benutzen, ist keine Erziehung. Also für mich keine Erziehung. Sonst wären wir auch durch Werbung erzogen, die ständig unsere Emotionen benutzt, mit unseren Sehnsüchten spielt, uns etwas vorgaukelt.
Muamer Bećirović
Wobei der Einfluss der Werbung doch relativ hoch ist.
Konrad Paul Liessmann
Ja, der Einfluss der Werbung ist hoch. Wahrscheinlich höher als der der Politik.
Muamer Bećirović
Definitiv.
Konrad Paul Liessmann
Weil Werbung uns, im Unterschied zur Politik, tatsächlich im alltäglichen Leben beeinflusst. Politische Auseinandersetzungen, Diskurse und Debatten beeinflussen uns nicht wirklich zentral in unserem alltäglichen Verhalten. Wenn man nicht zur Wahl geht, ändert man doch nicht gleich sein Leben. Aber jedes Produkt, das ich kaufe, bringt etwas Neues in mein Leben. Den Begriff der Erziehung allerdings würde ich eher für jene Phase im Leben eines Menschen reservieren, in der ein Mensch noch tatsächlich bildbar ist und erzogen werden muss. Was Politik und Werbung macht, ist Beeinflussung. Früher sagte man dazu Manipulation. Erziehung hingegen hat, zumindest für mich, eigentlich einen positiven Beigeschmack. Erziehung das war und ist das Geschäft, wie es die Aufklärung angedacht hat: Aus einem Triebwesen, das potentiell alles Mögliche werden kann, eine verantwortungsbewusste, mündige, human gesinnte Person zu bilden.
Muamer Bećirović
Das ist ein interessanter Punkt. Seit dem zweiten Weltkrieg gibt es ja philosophische Theorien, die besagen, dass der Mensch eher einen Hang zum Bösen hat. Stimmen Sie dem zu?
Konrad Paul Liessmann
Die gibt es nicht erst seit dem zweiten Weltkrieg. Diese Formulierung Hang zum Bösen stammt von Immanuel Kant. Und das war seine Theorie.
Muamer Bećirović
Nun ja, Viele sahen sich nach dem zweiten Weltkrieg bestätigt darin.
Konrad Paul Liessmann
Dass der Mensch einen Hang zum Bösen hat, ist ja überhaupt nicht zu bezweifeln. Das ist in jeder Kultur thematisiert und auch angenommen worden. Hätten wir keinen Hang zum Bösen, bräuchten wir nämlich gar keine Moral, keine Gesetze und kein Recht. Ja, dann wären wir ständig lieb zueinander und lebten im Paradies. Aber wir leben nicht im Paradies. Das heißt, wir haben einen Hang zum Bösen. Was Immanuel Kant abgestritten hat, ist, dass der Mensch von Natur aus böse ist. Der Hang zum Bösen heißt ja nicht, dass wir böse werden müssen. Kants Theorie besagt, dass der Mensch auf der einen Seite Einsicht hat und versteht, was gut und vernünftig ist. Auf der anderen Seite hat er aber eine ganz eine Reihe naturgegebener Begierden, Interessen und Gefühle, die es dem Menschen erlauben, diesen zugunsten kurzfristiger Vorteile, akuter Lust oder auch Schadenfreude nachzugeben.
Muamer Bećirović
Glauben Sie, dass das Böse im Menschen das Gute überwiegt?
Konrad Paul Liessmann
Interessanterweise glaubt man, man könnte diese Frage eindeutig mit Ja beantworten, weil man immer die extrem bösen Ereignisse der Geschichte vor Augen hat. Die Weltkriege, die Massenmorde, die Aggressionen, die Genozide, die Massenvergewaltigungen, die Grausamkeiten. Die Geschichtsbücher sind voll damit. Auf der anderen Seite gibt es aber die ernstzunehmende Theorie, dass die Gewalt, verglichen mit der steigenden Bevölkerungszahl, in Summe zurückgeht. Natürlich passiert Unglaubliches an Grausamkeit, auch jetzt in dieser Stunde. Aber acht Milliarden Menschen leben gerade auf dieser Erde, und wahrscheinlich sind die meisten in dieser Sekunde in einer relativ friedlichen Situation. Sie führen Gespräche, sitzen im Kaffeehaus, starren auf ein Smartphone, arbeiten, fahren mit dem Auto irgendwohin oder bestellen ein Feld. Hätten wir also wirklich diesen Hang zum Bösen, der uns scheinbar dominiert, dann wären wir doch alle in einem Bürgerkrieg. Thomas Hobbes ist davon ausgegangen, dass es gar nicht so sehr der Wille zur Moral oder zum Guten, sondern der Wunsch des Menschen nach stabilen Verhältnissen und Sicherheit ist, der uns auf die Bösartigkeiten verzichten lässt, die uns zumindest hin und wieder durchzucken. Das beste Beispiel dafür ist ja der breite gesellschaftliche Konsens – Amerika einmal ausgenommen – darüber, dass Privatpersonen nicht bewaffnet sein sollen. Wir delegieren das Gewaltmonopol also an den Staat. Und vertrauen darauf, dass staatliche Institutionen wie Polizei und Militär – um auf den Begriff der Institution zurückzukommen – ein gewisses Maß an Sicherheit, Ordnung und Frieden garantieren können. Wir beschneiden uns damit gleichsam der Möglichkeit, dem Hang zum Bösen allzu rasch nachzukommen. Denn wir alle wissen, es zuckt manchmal schon ziemlich heftig. Dann ist man eben froh, dass man nicht wie im Wilden Westen, einen Colt umgeschnallt hat. Das ist ein freiwilliger Verzicht. Ein Verzicht aus Einsicht, aber bestimmt auch ein Verzicht aus egoistischem Sicherheitsstreben.
Konrad Paul Liessmann

© Julien Pflanzl

Muamer Bećirović
Um zur Politik zurückzukehren: Erfolg zu haben, etwa politischen Erfolg, bedeutet ja gewissermaßen, Macht zu haben. Interessant hierbei ist, dass die absichtliche Abgabe der Macht eigentlich noch weitaus größere Macht auslöst. Gerhard Schröder beispielsweise wusste im Jahr 2010, dass er mit seinem Programm keine Wahlen gewinnen würde. Er hat seine Agenda trotzdem durchgesetzt, weil er davon überzeugt war. Schließlich hat er seine Macht verloren, ist aber im Ansehen der Bevölkerung unglaublich gestiegen und hat, wenn man so will, dadurch eigentlich noch mehr Macht erworben.
Konrad Paul Liessmann
Macht in der Demokratie ist immer geliehene Macht. Es ist keine angeborene Macht, wie etwa in einer Aristokratie; es ist auch keine auf Lebenszeit beanspruchte Macht, wie etwa in einer Diktatur. Es ist geliehene Macht, die vom Volk verliehen wird. Und jeder muss ständig damit rechnen, abgewählt zu werden. Dass man es nur schwer verkraftet, abgewählt zu werden, wissen wir aus zahllosen Beispielen und Biografien. Dass jemand wie Gerhard Schröder entgegen dem Rat von Meinungsforschern sein politisches Programm durchsetzt, hat sicher die bewundernswerte Konsequenz, dass man ihm Haltung zuschreibt. Auf der anderen Seite ist der Machtgewinn dadurch, dass er jetzt zu einer historischen Figur geworden zu sein scheint, auch nicht sehr groß. Das Einzige, was bei solchen Politikern nach ihrem heroischen Abgang steigt, sind Vortragshonorare. Die können astronomische Höhen erreichen. Eventuell wird man dann noch in Form toller Aufsichtsratsposten bei nationalen und internationalen Konzernen geehrt, und das versüßt natürlich den Abschied von der Macht.
Muamer Bećirović
Aber natürlich steigen Politiker nach einem solchen Abgang in ihrer Macht. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Helmut Schmidt hat nach Abgabe seiner Macht auch extremes Ansehen erworben und wird heute als größter Staatsmann Deutschlands, ja als höchste moralische Instanz der Deutschen bezeichnet.
Konrad Paul Liessmann
Schmidt stieg im Ansehen, weil er keine Macht mehr ausüben konnte! Dafür gibt es auch eine einfache Erklärung: Zeit seines Lebens als aktiver Politiker war Helmut Schmidt in unzählige Interessenskonflikte eingebunden. Er musste ein Auge auf die Partei haben, ein Auge auf die Opposition, mit einem Auge auf die Medien und mit dem anderen auf die nächste Wahl schielen, wenn er sich zu einer Thematik äußerte. All diese Interessensgruppen übten Druck auf Schmidt aus, sodass er sein volles Potential als moralische Instanz, das wahrscheinlich schon immer in ihm schlummerte, nicht aktiv ausleben konnte. Denn in der Politik geht es vorrangig um das Überleben. Ist man von genannten Fesseln allerdings befreit, kann man seine Weisheit frei verteilen, wie es einem passt. Es ist unfassbar, wie klug manche Politiker nach Abgabe ihrer Macht werden. Wie viele gute Ratschläge sie haben. Politiker, die gestern noch ein Land ruiniert haben, wissen plötzlich alles besser, sobald sie in Pension sind. Vom Druck befreit und eine überschaubare Zahl an Lebensjahren vor sich, entwickelt man schließlich das, was der Philosoph Odo Marquard Schandmaulkompetenz nannte: Alte Menschen können sich bestimmte Dinge erlauben, die jüngere Menschen nicht tun können. Diese Politikerweisheit, wie sie Schmidt verkörperte, ist eine Art dieser Schandmaulkompetenz. Natürlich gemischt mit viel Erfahrung. Ich finde das sehr interessant: Wir leben in einer Gesellschaft der Jugendkultur, in der Erfahrung nichts zählt und man jungen Menschen alles zutraut, da sie doch so offen, neugierig und technikaffin sind. Wenn es aber um politische Probleme, etwa um Sozialprobleme geht, spielt die Erfahrung wieder eine ganz andere Rolle. Da gibt es Politiker, die sechzig Jahre Erfahrung in diesem Metier aufweisen und eine ganze Epoche mitgeprägt haben. Deren Wort hat einfach naturgemäß ein anderes Gewicht als das eines 17-jährigen Jungpolitikers, der seine ersten Facebook-Kommentare zur sozialen Gerechtigkeit abgibt. So ist das nun einmal.
Muamer Bećirović
Sehr spannend. Weil Sie das politische Engagement der Jungen ansprechen: Sehen Sie es in der Verantwortung des Einzelnen, sich politisch zu bilden bzw. seiner Stimme Gehör zu verschaffen, oder soll der Staat das auf obligatorischer Basis übernehmen? Soll man Menschen generell, auch ungewollt, an Interessensvertretungen binden?
Konrad Paul Liessmann
Sie spielen auf die Zwangsmitgliedschaft bei Interessensverbänden an. Grundsätzlich bin ich dagegen, Menschen ungewollt an etwas zu binden. Was Wirtschafts- und Arbeiterkammer angeht, haben wir in Österreich viel zu viele Zwangsmitgliedschaften. Ein Beispiel aus meinem Leben: Nur, weil ich ab und zu ein paar Vorträge halte, bin ich automatisch Mitglied bei der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft, ob ich das nun will oder nicht – und dies, obwohl ich als Angestellter der Universität ohnehin sozialversichert bin. Was allerdings schon in die Aufgabe des Staates fällt, ist die Bildung, die ich – zumindest in ihren Fundamenten und Grundzügen – als öffentliche Aufgabe erachte. Dazu gehört auch die von Ihnen angesprochene politische Bildung. Junge Menschen, die in diesem Land leben, sollten Politikunterricht bekommen, ja.
Muamer Bećirović
Ist das nicht gewissermaßen eine Bevormundung?
Konrad Paul Liessmann
Nein. Politisch bilden heißt doch nicht, dass junge Menschen in einer bestimmten politischen Richtung indoktriniert werden. Aber sie müssen informiert werden. Über die politischen Institutionen, den Prozess der Gesetzesentwicklung, verschiedene politische Positionen und die Parteienlandschaft. Das alles sind Informationen, die sehr wichtig sind. Ich weiß, dass die Gefahr beim Unterricht politischer Bildung darin besteht, Menschen in eine politische Richtung zu drängen, oder ihnen eine Meinung aufzuzwingen. Manche sehen die Aufgabe des Staates ja darin, junge Menschen davor zu bewahren, bestimmten politischen Irrwegen zu verfallen. Ich glaube, man bewahrt sie davor am besten, indem man versucht, sie politisch zu bilden, und nicht zu bevormunden.
Muamer Bećirović
Was ist denn ein politischer Irrweg in Ihren Augen? Wenn Politiker andere Menschen als Erd- und Höhlenmenschen bezeichnen, und damit auch noch auf Anklang in der Bevölkerung stoßen, befinden wir uns dann auf einem solchen?
Konrad Paul Liessmann
Keine Frage, es ist erschreckend und abstoßend, dass solche Begriffe im politischen Diskurs Verwendung finden. Mindestens mangelt es an zivilisierten Umgangsformen. Allerdings könnte man auch anmerken, dass manche Dummheiten einfach Dinge sind, die Menschen eben hin und wieder von sich geben. Da kann man nur sinngemäß aus der Bibel zitieren: Wer noch nie einen anderen beschimpft hat, der werfe den ersten Stein. Es gehört schließlich auch zur menschlichen Kommunikation, dass man manchmal stark überzeichnet und gegebenenfalls auch Schimpfworte verwendet. Ich finde es nicht gerechtfertigt, Menschen, die in ihrem Sprachgebrauch einmal ausfällig wurden, sofort als böse Menschen darzustellen – außer, es hat System. Normalerweise wären solche Meldungen nach wenigen Minuten verpufft und verdampft – vollkommen bedeutungslos. Durch die sozialen Medien aber kann jeder Satz, der irgendwann irgendwo gesagt oder aufgezeichnet wurde, sofort und rasend schnell verbreitet werden – und gelangt dadurch in Dimensionen, die er gar nicht verdient hat. Wir müssen also akzeptieren, dass wir gleichsam ständig unter Beobachtung stehen. Das erzieht auf der einen Seite vielleicht zu einer etwas behutsameren Ausdrucksweise – auf der anderen Seite finde ich den Gedanken auch bedrückend, nun jedes Wort auf seine soziale Erwünschtheit und Kompatibilität abzuklopfen zu müssen.
Muamer Bećirović
Ich habe mir oft die Frage gestellt, ob man Rassismen wie diese tatsächlich mit dem Recht auf Meinungsfreiheit legitimieren kann. Man kann sagen, was man will, ja – aber man muss doch auch Einsehen, dass jedes Wort, jeder Satz Konsequenzen mit sich zieht. Muss man vor versammeltem Hohen Haus andere Menschen tatsächlich auf diese Art und Weise degradieren? Ist das nicht eine Rhetorik, von der wir uns nach dem zweiten Weltkrieg verabschiedet hatten?
Konrad Paul Liessmann
Ja, wir hätten uns verabschieden sollen. Wir haben uns aber offensichtlich nicht davon verabschiedet. Und vielleicht sollte man statt von Meinungsfreiheit wieder von Gedankenfreiheit sprechen – denn diese impliziert, dass man ein bisschen nachdenkt, bevor man etwas sagt. Die Grundsatzfrage, die sich hier stellt, ist aber: Wie schaut es mit der Gesprächskultur unserer Abgeordneten aus? Da kommen wir wieder zurück zu Ihrer Feststellung: Vielleicht haben wir wirklich die Abgeordneten, die wir verdienen.
Muamer Bećirović
Ich verstehe immer noch nicht, warum sich niemand sonderlich lange oder intensiv darüber empört hat. Nein, mit solchen Aussagen punktet man sogar bei der Bevölkerung. Was glauben Sie, liegt das am Mainstream oder an den Menschen selbst?
Konrad Paul Liessmann
Es ist immer schwierig, wenn man von den Menschen spricht. Es heißt ja oft, wir sollen nicht verallgemeinern, wenn Asylsuchende ein Verbrechen begehen, und es ist völlig richtig, dass man jene, die solche groben Verallgemeinerungen in den Raum werfen, zurechtweist. Wenn aber im umgekehrten Fall ein Abgeordneter Unsägliches von sich gibt und dafür dreißig Likes bekommt, dann sind es plötzlich DIE Menschen, die das gutheißen. DIE Menschen goutieren offensichtlich, dass man menschenverachtende Phrasen verwendet. Nein, die Menschen goutieren das nicht. Ja, eine bestimmte Gruppe von dreißig Menschen, die wahrscheinlich ähnlich denken und vermutlich auch wenig sprachsensibel sind, heißen das womöglich gut. Bei denen kann man damit punkten, ja. Aber ich glaube nicht, dass größere Wahlerfolge – ungeachtet der Partei – auf solche Sager zurückzuführen sind. Es hat beispielsweise auch im Linkspopulismus Versuche gegeben, ganz üble Dinge über reiche Menschen zu sagen, um Vermögenssteuern durchzusetzen. Das hat ebenso wenig funktioniert. Doch auch hier gab es bestimmt einige Menschen, denen diese härtere Rhetorik zugesagt hat. Wir müssen einfach aufhören, von DEN Menschen zu sprechen.
Konrad Paul Liessmann

© Julien Pflanzl

Muamer Bećirović
Vielleicht ist das eine Antwort auf den schwindenden Kollektivismus und den aufstrebenden Individualismus. Noch vor wenigen Jahrzehnten man einen Politiker gewählt, weil man ihm vertraut hat und geglaubt hat, dass er seine Sache gut macht. Heute ist jeder davon überzeugt, ein besserer Bundeskanzler zu sein. Der Bauunternehmer, der Onkel beim Familientreffen oder die Beamte im Ministerium. Woran liegt das?
Konrad Paul Liessmann
Das weiß ich nicht, da ich diese Beobachtung nicht teilen kann. Ja, ich kenne sehr viele Menschen, die gerne die Österreichische Fußballnationalmannschaft aufstellen würden. Aber ich kenne eigentlich niemanden, der von sich behaupten würde, ein guter Bundeskanzler zu sein. Im Gegenteil. Die meisten Menschen, die ich kenne, hätten eher Angst vor der Frage: Was würdest du jetzt tun, wenn du Bundeskanzler wärst? Im Grunde weiß ja jeder, dass ein Bundeskanzler wirklich keinen einfachen Job hat. Als Politiker hat man es in Österreich sowieso nicht leicht, da man hier bekanntermaßen nicht den besten Ruf genießt, was Qualifikation, Kompetenz, Rhetorik und Glaubwürdigkeit betrifft. Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass jene Menschen, welche das Zeug dazu hätten, eher kein Interesse an einer aktiven Karriere in der Politik haben. Jedenfalls glaube ich nicht, dass jeder meint, er wäre der bessere Bundeskanzler. Das mag am Stammtisch so sein, und das war früher bestimmt auch schon so. Sie sind noch jung, ich hingegen habe die letzten Jahrzehnte, von denen Sie sprechen, selbst miterlebt – und es war damals nicht anders. In einer Sache muss ich Ihnen aber Recht geben: Das Ansehen des Politikers hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten sicher stark gelitten.
Muamer Bećirović
Und ich verstehe nicht, warum. Letzten Endes ist ein Politiker doch jemand, der unglaublich viel Verantwortung trägt. Früher hat man Politikern doch mehr Respekt gezollt, oder etwa nicht? Man stand auf, wenn der Staatsmann den Raum betrat – heute ist er der Buhmann der Nation.
Konrad Paul Liessmann
Auf Österreich beschränkt hat das bestimmt mit dem offenkundigen Machtverlust der Politik selbst zu tun. Ich bin aufgewachsen in Zeiten der ersten großen Koalition. Danach kam eine ÖVP-Alleinregierung, gefolgt von einer SPÖ-Alleinregierung. Die Politik war damals etwas anders. Als Bürger hat man den Einfluss der Politik damals noch direkt gespürt. Wenn man die richtige Partei gewählt hat, oder Mitglied bei der richtigen Partei war, konnte man vieles im Leben auf sehr einfache Art und Weise geregelt bekommen – das war die Sozialpartnerschaft bzw. die Parteibuchwirtschaft. Man kam einfacher an einen Job, wenn man das richtige Parteibuch besaß – ob in der staatlichen Industrie oder im Bildungsbereich. Wenn man eine Wohnung suchte und bei der richtigen Partei war, gab es eine Gemeindewohnung. All das geht jetzt nicht mehr so einfach und das ist gut so.
Muamer Bećirović
Das gab es aber immer schon.
Konrad Paul Liessmann
Ja, aber jetzt nicht mehr. Das ist der Punkt. Die Sozialpartnerschaft hat an Macht verloren. Durch die Entstaatlichung vieler Betriebe ist es schlichtweg nicht mehr möglich, Freunde und Familie beliebig unterzubringen und mit wichtigen Posten zu versorgen. Auch die Parteibuchwirtschaft im öffentlichen Dienst ist stark zurückgegangen, und es wird nicht mehr pragmatisiert. Wien ist hier vielleicht noch eine Ausnahme, aber in anderen Bundesländern ist die enge Verflochtenheit einer politischen Partei mit dem Alltag des Menschen einfach nicht mehr gegeben. Das beklagen die ehemaligen Großparteien natürlich sehr. Sie haben nicht mehr den Zulauf, den sie früher hatten. Damals haben Eltern schon ihre Kleinsten in parteinahe Vorfeldorganisationen gesteckt, weil man wusste: Diese zwei Parteien sind Österreich. Zwei elf-Prozent-Parteien brauchen sich das heute nicht mehr einzubilden. Und junge Menschen wissen heute bestens, dass sie sich nicht mehr auf das politische Netzwerk verlassen können. Sie müssen ganz andere Formen von Karriereplanung in Betracht ziehen, andere Formen von Netzwerken und Kontakten pflegen. Politische Parteien spielen da kaum noch eine Rolle.
Muamer Bećirović
Die Frage ist nun: Was ist die Konsequenz für die Parteien? Irgendjemand muss doch schließlich regieren, und irgendjemand muss auch seine Funktionäre irgendwo unterbringen.
Konrad Paul Liessmann
Ja. Das natürlich schon. Mit dem Unterbringen der Funktionäre wird es ja immer schwieriger, wie wir sehen, manche müssen bis Kasachstan ausweichen. Ich halte die Parteiendemokratie dennoch für eine gute Sache. Und die Parteien werden bleiben. Es werden nur andere dazukommen und phasenweise stärker werden, was am System natürlich nichts ändert. Wie wir wissen, haben auch FPÖ bzw. BZÖ auf Regierungsebene dieselbe Klientel- und Interessenspolitik gemacht, wie die ehemaligen Großparteien. Es ist lächerlich, das einzelnen Parteien zuzuschreiben; es ist vielmehr eine Frage der Struktur und des Systems. Das muss man, will man eine Parteiendemokratie haben, in Kauf nehmen. Man kann versuchen, das Ganze so gut wie möglich zu kontrollieren und einzubremsen – verhindern kann man es aber nicht. Der Effekt, den diese Entwicklung jedenfalls mit sich bringt, ist für die Betroffenen fatal: Die Parteien sind – auch dann, wenn sie Regierungsverantwortung bekommen – nicht mehr wirklich mächtig.
Muamer Bećirović
Woran liegt das?
Konrad Paul Liessmann
Nun, auf der einen Seite liegt das bestimmt daran, dass wir Mitglied der Europäischen Union sind. Achtzig Prozent der Gesetzeskompetenz ist somit nicht mehr in den Händen des österreichischen Parlaments – achtzig Prozent der in Österreich geltenden Gesetze werden also in Österreich nur noch bestätigt, wurden aber in Brüssel ausverhandelt und festgelegt. Es geht nicht mehr um Souveränität, sondern um Kooperation – was auch gut ist, überhaupt keine Frage. Andererseits darf man sich dann nicht wundern, wenn Politiker keine Machtaura mehr ausstrahlen und in achtzig Prozent der Fälle nur noch nicken können.
Muamer Bećirović
Steckt da nicht zu viel Selbstmitleid dahinter?
Konrad Paul Liessmann
Oft, ja. Viele greifen dann zu altbewährten Ausreden wie Ich kann nichts dafür, das ist in Brüssel so entschieden worden! und verstärken damit nur noch Eindruck der Bevölkerung, dass die Bundespolitik der EU gegenüber machtlos sei. Dazu kommt, dass es so gut wie keine autonome Wirtschaftspolitik mehr gibt, und das spürt der Bürger. Jeder spürt die Globalisierung, jeder spürt die Macht der Konzerne, jeder weiß, dass sich nichts mehr in österreichischer Hand befindet. Mir wurde das plötzlich klar, als Semperit, die Reifenfirma, die zum Continental-Konzern gehörte, ein großes Werk in Österreich schließen wollte und Tausende Arbeitsplätze gefährdet waren, ich glaube, es war Mitte der 90er Jahre. Der damalige Bundeskanzler Vranitzky, der eigentlich gute Kontakte zur Wirtschaft hatte, versuchte dann zu intervenieren. Letzten Endes konnte er nicht viel erreichen und wurde richtig demonstrativ im Regen stehengelassen: Vor aller Öffentlichkeit wurde ihm bekundet, dass ein Bundeskanzler gegen einen Konzern ein kleines Nichts ist. Das sieht man auch in Deutschland, wo man den Eindruck hat, dass die Bundesregierung nahezu von Google und den anderen Internet-Giganten gesteuert wird. Man adaptiert die Gesetze und Regulierungen so, wie Großkonzerne es wollen. Daher kommt auch dieses intuitive Ressentiment gegenüber TTIP. Und ich verstehe das! Man fragt sich eben: Wo ist die Macht? Sie ist nicht mehr da!
Muamer Bećirović
Das heißt Sie beklagen eigentlich, dass die Macht …
Konrad Paul Liessmann
Ich stelle fest. Ich beklage gar nichts.
Muamer Bećirović
Ich verstehe.
Konrad Paul Liessmann
Der Ansehensverlust österreichischer Politiker hat also tatsächlich mit ihrem objektiven Machtverlust zu tun. Mit ihren schwindenden Möglichkeiten, wirklich zu gestalten. Es ist interessant, dass manche Regionalpolitiker heute mehr Machtaura ausstrahlen können als ein Bundeskanzler, weil man im kleineren Kreis immer noch etwas bewirken, etwas umsetzen kann. Ob zwischen zwei Niederösterreichischen Dörfern eine Straße neu gebaut wird, kann der Landeshauptmann entscheiden. Und das spürt der Bürger. Deshalb hat die Rede von Landesfürsten auch einiges für sich.
Muamer Bećirović
Sehr, sehr spannend.
Konrad Paul Liessmann
Was ja übrigens auch der Sinn der EU war, solange sie funktioniert hat – also etwa bis zur Griechenlandkrise. Die zentralen Agenden sollten eher europäisch gelöst werden, während man lokale Probleme gleich vor Ort beheben sollte. Was im luftleeren Raum hing, waren die nationalen Regierungen.
Muamer Bećirović
Um auf die vermeintliche Machtlosigkeit der Politiker zurückzukommen: Großbritannien konnte Google letzten Endes dazu bringen, Steuern zu zahlen. Man hat zwar noch nicht den vollen Betrag erhalten, aber man ist bereit, das Problem anzupacken und zu kämpfen. Was meinen Sie, gibt es einen Kampf zwischen Wirtschaft und Politik?
Konrad Paul Liessmann
Das weiß ich nicht, aber ich glaube, dass es auf jeden Fall Konflikte geben wird. Auf der einen Seite steht die Politik als – nach wie vor – Organisation von Gemeinschaft und Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite steht eine transnationale Wirtschaft, hinter der natürlich auch politische Interessen stecken. Es gab erst kürzlich den Vorschlag einiger Internetaktivisten oder Freaks, man sollte doch überhaupt ganz auf diese komische Idee von Staat von Staatsbürgerschaft verzichten. Denn das, was für das Leben eines Menschen heutzutage wirklich wichtig ist, ist ja nicht, wo er herkommt, lebt oder hingeht, sondern in welchem Netz er sich befindet. Entscheidend sind die Server, auf denen seine Dateien, sein Geld und seine persönliche Identität gespeichert sind. Und es ist doch wirklich so: Die Staatsbürgerschaft muss fluid werden. Der Mensch ist immer mehr Bürger jener virtuellen Gemeinschaft, welche die meisten seiner Daten lagert und verarbeitet. Aber diese Form von Datenverwaltung ist keine öffentliche. Das sind private Konzerne. Es geht meines Erachtens also schon um einen Konflikt zwischen dem Politikbegriff im alteuropäischen Sinne, der Politik als Organisation und Gemeinschaft, und einer Dekonstruktion und Destabilisierung dieses Politikbegriffs durch neue Formen digital möglich gewordener, virtueller und privat kontrollierter Beziehungen.
Muamer Bećirović
Es wird unheimlich unüberschaubar. Aber in einer Welt, die immer komplexer wird, führen in den Umfragen politische Parteien, die einfache Antworten versprechen. Wollen die Menschen angelogen werden?
Konrad Paul Liessmann
Es war und ist dasselbe Problem. Ist die Wahrheit den Menschen zumutbar? Es hatten schon viele Philosophen – wie etwa Nietzsche, um ein Beispiel zu nennen – den Verdacht, dass wir ohne Illusionen gar nicht leben können. Ich wundere mich nicht, dass Menschen einfache Antworten haben wollen, das liegt doch in der Natur des Menschen. Ich kenne übrigens auch keine politische Partei, die keine einfachen Antworten gibt. Die einfachen Antworten nur auf das Konto des Rechtspopulismus zu schreiben, halte ich für nicht richtig. Der letzte Politiker, der sich der Einfachheit verweigert hat, war der österreichische Bundeskanzler Fred Sinowatz und sein legendärer Satz: Es ist alles sehr kompliziert. Dafür hat man ihn ausgelacht, und er hat die Wahl schließlich verloren. Es ist ja wirklich alles sehr kompliziert, aber ich glaube, die Verlockung für die Politik besteht darin, einfache Problemlösungen anzubieten. Der Glaube, dass wir das Bildungsproblem mit der Einführung der Gesamtschule gelöst hätten, ist ein Beispiel. Es wird zu nichts führen, aber als Lösung ist es natürlich einfach.
Muamer Bećirović
Ich verstehe, was Sie meinen. Eine letzte Sache noch: Sie haben vorhin angesprochen, dass der Mensch nicht aus der Geschichte lernt. Wieso denn?
Konrad Paul Liessmann

© Julien Pflanzl

Konrad Paul Liessmann
Nicht, weil der Mensch nicht lernfähig wäre, sondern, weil die Geschichte sich nicht wiederholt. Man kann schließlich nur aus der Geschichte lernen, wenn man eine vergangene Situation in der Gegenwart entdeckt. Das passiert allerdings nie. Zeiten, Dinge, Verhältnisse ändern sich. Und wir haben große Sehnsucht danach, so zu tun, als würde sich etwas wiederholen. Wir machen es uns so einfach. Gerade, was Nationalismus und Neofaschismus betrifft, fürchten wir eine Wiederholung der Geschichte, und meinen, die Gefahr wäre wieder da. Womöglich übersehen wir aber, während wir gebannt auf die Zitate der Vergangenheit in der Gegenwart starren, eine wirkliche Gefahr. Der Soziologe Harald Welzer hat soeben ein Buch mit dem Titel Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit veröffentlicht, in dem er vor dem neuen digitalen Totalitarismus warnt. Vielleicht sind wir auf diesem Auge wirklich blind.
Muamer Bećirović
Oder Sie sind ein großer Skeptiker.
Konrad Paul Liessmann
Ich bin sowieso ein Skeptiker. Die Skepsis ist doch die ehrwürdigste philosophische Haltung.