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Buchrezension

Flüchtlingskind, Nazijäger und US-Außenminister – Die beste Kissinger-Biographie

Ich musste laut auflachen, als mir der Titel dieses Buches unter die Augen kam. „Kissinger und Idealist? Are you fucking serious, Niall?“ Ich kannte Kissinger nicht anders, als einen nüchternen, rasiermesserscharfen, analytischen Verstand, der Machtverhältnisse zwischen Großmächten in feinen Fasern filetieren konnte, um die jeweils gegenseitigen Verhältnisse zueinander zu ergründen. Wie töricht war meine Annahme.

Diese Buchrezension verfasste Muamer Bećirović, sie erschien am 1. Mai 2019.

Seit längerem war ich auf der Suche nach einer Biographie, die mir Einblick in den großen Geist von Henry Kissinger eröffnet. Niall Fergusons erstes biographische Band mit dem Titel „Kissinger – Der Idealist – 1923 bis 1968“ ist das gelungen. Ferguson, der Harvard Professor, hat für diesen ersten Teil von Kissingers Leben mehr als 29.000 Dokumente gelesen und alles akribisch und gründlich aufgearbeitet.

Kissinger wird in Fürth, einer kleinen Stadt in Deutschland, geboren. Dort wächst er in einer konservativ jüdischen Familie und Community in friedlichen Umständen auf. Das bleibt nicht von Dauer. Als die Nazis auf dem Vormarsch sind, flieht die Kissinger Familie mit lediglich ein paar Koffern in die USA und baut sich langsam eine neue Existenz auf. Im deutsch-jüdischen New York Stadtteil Washington arbeitet der junge Henry, vormals Heinz, Kissinger als Bäckereikurier und in einer Rasierpinsel-Fabrik. Daraufhin wird er in die USA eingebürgert und in die Armee eingezogen, um gegen die zu kämpfen, vor denen er geflohen ist – den Nazis.

Kissinger macht sich im Militär durch seine exzellente Arbeit und sehr guten Prüfungen einen Namen. In Deutschland wird er damit beauftragt, Nazis aus den öffentlichen Ämtern zu jagen. Er fällt auf und bekommt aufgrund seiner Leistungen ein Militärstipendium in Harvard. Dort geriet er unter die Weisung eines Professors, der von dieser Tatsache sichtlich genervt war und ihn launisch abwies. „Kommen Sie zurück, wenn Sie die Werke von Immanuel Kant gelesen haben.“, was übersetzt bedeutete, dass er hofft, diesen Studenten aufgrund der literarisch schweren Kost eines Kants, nie wieder zu sehen. Kissinger ist zwar gegangen, kam aber mit einem Essay über Kants Werke zurück. Während er dem Professor aus diesem vorlas, merkte dieser die Tiefgründigkeit und das analytische Verständnis dieses jungen Studenten. Genau von seiner Station in Harvard ging der junge Student immer tiefer in die Korridore der Macht hinein.

Es folgte das Doktorat in Harvard, die Professur, der Beraterposten unter Nelson Rockefeller und Konsultationen für das weiße Haus. Kissinger arbeitete sich innerhalb von ein paar Jahren zu einem der bedeutendsten Intellektuellen der Außenpolitik empor. Ferguson lässt in diesem Werk so gut wie nichts aus. Die geopolitische Neuordnung Europas nach dem zweiten Weltkrieg und der Vietnamkonflikt werden trotz der ungeheuren Komplexität präzise und verständlich dargelegt. Beim Lesen dachte ich mir oft: ,, Mein Gott, wie hätte die ganze Geschichte anders ausgehen können, hätten diese Staatsmänner auch nur ansatzweise andere Gedankengänge entwickelt.“ Geschichte, in dessen wirklicher Bedeutung, wird beim Lesen dieses Buches buchstäblich greifbar. Kein anderer Rückschluss wird zugelassen: Geschichte, das ist die Geschichte des Gedachten.

Man kann beim Lesen regelrecht in die intellektuelle Entwicklung des Kissinger, der bald in das wichtigste Amt, welches das Weiße Haus zu vergeben hat, schlüpfen. Kissinger selbst ist, bis er Professor wurde, ein Idealist gewesen. Doch es bahnt sich im Rahmen seiner Auftragstätigkeit in Vietnam und der Neuordnung Europas eine Wandlung zum Realisten an, für die er als Machthaber bekannt geworden ist. Die wahren Beweggründe werden wir wohl erst im zweiten Teil erfahren.

Dieses Buch endet leider an dem Zeitpunkt, wo Kissinger als nationaler Sicherheitsberater von Präsident Nixon und als US-Außenminister nach der Macht greift. Die New York Times betitelt das Buch als ein „Meisterwerk“ und das ist es zweifellos. Wer die USA, die Geschichte, ihre politische Klasse und ihre Außenpolitik verstehen will, der kommt an diesem geistreichen Buch nicht vorbei.