Barack Obama – Das Vermächtnis von „Yes, We Can!“
Der 8. November 2008 – US-Wahltag – war ein Tag, an dem ein Großteil der US-Amerikaner die Sorgen des Alltags – trotz Wirtschaftskrise und sozialer Spannungen – für kurze Zeit zu vergessen schienen, um bis spät die Nacht hinein zu feiern. Die Welt feierte mit. Es schien, als ob die krisengeschüttelten Vereinigten Staaten von Amerika, deren weltweite Reputation sich – nach zwei kontroversen, nach wie vor andauernden Kriegen – auf einem Tiefststand befand, plötzlich wieder zu einem hell erstrahlenden Leitstern der Weltpolitik wurden. Euphorie war es; Erleichterung, gar Hoffnung – Hoffnung, dass nach acht ernüchternden Jahren George W. Bush, wieder jemand „the leader of the free world“ sein würde, hinter dessen Rücken man nicht tuschelte, dass er ein intellektuelles Leichtgewicht sei. Kaum einer hat geglaubt, dass er es schaffen würde, der wohl mächtigste Mann der Welt zu werden – als dunkelhäutiger Mann mit einem Namen, den viele nicht einmal richtig aussprechen konnten, den nicht wenige – ob seines Mittelnamens „Hussein“ – für einen „Agenten Al-Kaidas“ hielten, der teils verabscheuungswürdigste Attacken seitens seiner politischen Gegner über sich ergehen lassen musste. Er sei nicht in den USA geboren, er sei ein Muslim – was im Munde mancher rechter US-Amerikaner wie eine Beleidigung klingt –, er sei gar kein „echter“ US-Amerikaner, polterten die erzkonservativen Medien wie Fox News oder die Radiotalkshow von Rush Limbaugh tagein tagaus. Man mag glauben, dass der „change“ von dem Obama sprach, manchen schlichtweg zu viel wurde, dass er einfach zu „radikal“ war – sei es nun wegen der Hautfarbe oder der Tatsache, dass jemand den US-Amerikanern wieder Hoffnung auf Veränderung gab.
Zu sagen, dass er lediglich deshalb gewählt wurde, weil er eine dunkle Hautfarbe habe, ist nur die halbe Wahrheit. Natürlich wäre es falsch, zu leugnen, dass die Hautfarbe keine Rolle gespielt hätte, aber Obamas Wahl – vor allem zu jenem Zeitpunkt – war ein Zeichnen, ein Signal, ein Spiel mit Symbolik – wenn man so will.
Barack Obama erblickte am 4. August 1961 in Honolulu, Hawaii, das Licht der Welt. Er ist der Sohn einer weißen US-Amerikanerin aus Kansas und eines schwarzen Kenianers, eines Luo, die sich während des Studiums kennengelernt hatten. Es war eine Zeit, in der viele US-Bundesstaaten Menschen unterschiedlicher Hautfarbe untersagten, einander zu heiraten. Es war eine Zeit, in der die Gesellschaft in praktisch jedem Lebensbereich nach Hautfarbe getrennt war. Es war jene Zeit, in der Martin Luther Kings „I have a dream“ noch nicht gesprochen war. Es war sogar für das damals schon sozialliberale Hawaii eine Ausnahme, dass jemand wie Obama, jemand mit seinem familiären Hintergrund, zu dieser Zeit geboren wurde. Obama wird später in seinen Büchern festhalten, dass seine Zeit in Hawaii ihn sehr geprägt habe. In seinem ersten Buch „Dreams From My Father“ (deutscher Titel: „Ein amerikanischer Traum“) erzählt er, wie er als Jugendlicher Drogen nahm, um eine Leere in seinem Leben zu füllen, auf der Suche nach einer Identität, damit er sich irgendwo dazugehörig fühlen konnte. Seine Wurzeln sind weltweit verstreut. Seine kenianischen Wurzeln waren für ihn ein Mysterium, ein Schatz voller ungegessener Überraschungseier – bis er sie schließlich während seiner Studienzeit das erste Mal erforschte. Sein Vater war ihm fern, nachdem dieser sich von seiner Mutter scheiden ließ, als er noch zwei Jahre alt war. Danach traf er ihn noch ein einziges Mal, doch – wie er selbst schrieb – verblasste diese Erinnerung, die einzig durch Erzählungen seiner Großeltern und seiner Mutter am Leben erhalten wurde. Seine Mutter und ihre Eltern sind für ihn – wie er selbst zugibt – die prägendsten Personen in seinem Leben. Seine Großeltern waren es, die ihn großzogen, nachdem er nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Indonesien wieder in die USA zurückgekehrt war, während seine Mutter dort – zusammen mit seinem indonesischen Stiefvater und seiner Halbschwester – noch für einige weitere Jahre verblieb. Über sie erzählt er später, wie sehr ihre weltoffene, fortschrittliche Weltanschauung und Lebensweise ihn in seinem Verständnis der Dinge nachhaltig geprägt habe.
Es sind Erzählungen aus seinem Leben, an denen er die Menschen in „Dreams From My Father“ teilhaben lässt. Als damals erster dunkelhäutiger Chefredakteur der renommierten juristischen Fachzeitschrift „Harvard Law Review“ bot man ihm an, ein Buch über „race relations“ (in etwa „die Beziehung der Volksgruppen zueinander“) zu schreiben. Sich selbst fragend, was er nun, als jemand, der gerade einmal das Studium abgeschlossen hatte, als jemand, dessen einzige „Qualifikation“ für den Diskurs mit Rassismus scheinbar seine Hautfarbe war, begann er über sein Leben, seine Herkunft zu schreiben. Wie er selbst neun Jahre nach Erscheinen des Buches gesteht, schrieb er an manchen Stellen etwas langatmig, wohlgleich nie langweilig, wie zahlreiche Rezensionen darlegen. „Dreams From My Father“ wurde schlussendlich eine Mischung aus Roman und Autobiographie. Es sind jene unzähligen Sprachbilder, jene ehrliche Offenheit zu seinen Gedanken in dieser Zeit, die viele Kritiker – auch wenn zur Zeit seiner Veröffentlichung das Buch selbst kaum auf wirklichen Anklang gestoßen war – begeisterte.
Obama ist ein Meister der Worte – und ein außergewöhnlicher Redner. Das erkennen sowohl seine Anhänger als auch seine politischen Gegner gleichermaßen an. Er weiß um die Bedeutung von Metaphern. Er weiß, dass er mit ihnen – wenn wohl dosiert – Menschen regelrecht für sich begeistern kann. Es ist erstaunlich, was die richtigen Worte im passenden Zusammenspiel bewirken können, sofern man bereit ist, sich auf sie einzulassen, wie der Hype um seine Person im Wahlkampf 2008 beweist. Dazu kommt noch, dass er ein charismatischer Mensch ist – weit entfernt jener Typus von Politiker zu sein, den viele so sehr verachten. Viele Weggefährten Obamas bescheinigen ihm das Talent, Menschen zuhören, auf sie eingehen zu können – selbst bei noch so konträren Ansichten. Indem er die Menschen – wie mit „Dreams From My Father“ – an seiner Lebensgeschichte, seiner Werdung teilhaben lässt, wirkte er nicht nur menschlich, sondern gab den Menschen, die sich so sehr für ihn begeisterten, die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren, obwohl sein Lebensweg sich doch stark vom Großteil seiner US-amerikanischen Landsleute unterscheidet.
Entscheidend beigetragen hat mitunter auch, dass Obama und sein Wahlkampfteam schnell die Bedeutung und das Potential von Sozialen Medien erkannt hatten. Er erschloss sich damit eine direkte Verbindung zu den jungen Leuten, die – neben den Frauen – ausschlaggebend für seinen Wahlsieg waren. Auch während seiner acht Jahre als Präsident gab er sich als moderner, „cooler“, gelassener, humorvoller Präsident, trat regelmäßig in den beliebtesten Unterhaltungsshows der USA auf – von David Letterman über Jon Stewart bis Jimmy Kimmel. Die Republikaner bezeichneten ihn in einem TV-Spot als „Celebrity President“ – einer, der so sehr darauf bedacht sei, auf sein „hippes“ Auftreten zu achten, dass er sich den „wirklich wichtigen“ Aufgaben entziehe. Doch sie verkannten den immateriellen Wert dieser Form von öffentlicher Selbstinszenierung. Mit diesem humorvollen, „spaßigeren“ Zugang schaffte er problemlos, die oftmals geschmacklosen Attacken der Republikaner in der Luft evaporieren zu lassen. Wo manch anderer wohl zum Rundumschlag ausholen würde, sobald die Angriffe nicht einmal mehr vor der eigenen Familie Halt machen, blieb Obama gelassen und lächelte sie mit witzgeladenen Retourkutschen weg. Geht man nun ein paar Schritte zurück, erkennt man, wie unglaublich kalkuliert er seine Persönlichkeit dazu nutzte, die öffentliche Wahrnehmung seiner Person zu steuern. Auch das machte ihn in den Augen der Menschen zu einem nahbaren Menschen, zu einem treuen Familienvater – frei von jeglichen Skandalen –, zu einem sympathischen Gesellen, mit dem man gerne einmal ein Bier trinken würde. Seine Frau Michelle, die anfangs alles andere als begeistert von Obamas politischen Ambitionen war, half entscheidend mit, dieses Bild in den Köpfen der Leute zu verankern. Es war eine Mischung aus beidem, dem „Menschen“ Obama und der „Figur“ Obama. Seine Dozenten aus Studienzeiten verwundert es nicht, dass Obama sich diese Eigenschaften zu Eigen machte, um aus ihnen politisches Kapital zu schlagen. Sie sahen in ihm einen Menschen, der den Blick für das große Ganze hat, der weiß, welche Schritte zu setzen sind, um sich Schritt für Schritt seinem Ziel zu nähern.
Um auf dem Weg dahin nicht den Überblick zu verlieren, suchte sich Obama stets die – für ihn – besten Mitarbeiter. Dass er eigentlich ein Mensch ist, der gerne einen Gesamtüberblick hat und Detail- und Organisationsfragen an seine Leute delegiert, mag im Anbetracht seiner beiden Bücher, die scheinbar mit einer großen Liebe zum Detail geschrieben wurden, überraschen. Doch 2008 gab er in einer Vorwahlfernsehdebatte – auf die Frage, was seine größte Schwäche sei – offen zu, dass er seinen Mitarbeitern auftrage, ihm erst dann Unterlagen zu geben, wenn er sie unmittelbar brauche, da er sie sonst auf seinem „nicht gut“ aussehenden Arbeitstisch verliere.
Obama ist ein Perfektionist, der auch gewillt ist, hart durchzugreifen, sobald jemand seine Anforderungen nicht erfüllt. Seine Lektorin, die ihn beim Schreiben von „The Audacity of Hope“ unterstützte, war nicht nur erstaunt, mit welcher Hartnäckigkeit er an den noch so kleinen Schrauben seines Buch drehte, sondern auch wie selten sie bei seinen Entwürfen zum Korrekturstift greifen musste. So soll er einmal auf die Aufforderung, dass er etwas essen solle, weil er dünn aussehe, geantwortet haben, dass ihn Essen von der Arbeit ablenken würde, dass er sich dann nicht konzentrieren könne. Auch wenn es von außen nicht so scheint, ist Obama – so charakterisieren ihn viele in seinem Umfeld – jemand, der stets gewillt ist, zu siegen, der in allem eine Art Wettbewerb sieht. Ebenso ist er – wenn nötig – ein eiskalter Spieler, der aber auch eine komplett andere Seite aufschlagen kann, indem er seine Gegner zu seinem eigenen Vorteil umgarnt. Er zeigte dies unter anderem, als feststand, dass er 2008 die Vorwahl in Iowa gewonnen hatte und die überschüssigen Stimmen an John Edwards abgab, um Hillary Clinton, seine damals schärfste innerparteiliche Rivalin, vom zweiten Platz zu verdrängen. Doch er tat nicht mehr, als nötig war, um Clinton zu besiegen, da es in seinen Augen auf lange Sicht sinnvoller ist, vormalige Kontrahenten zu Verbündeten zu machen, anstatt zu Feinden, wie ihre Aufstellung als Außenministerin, oder die Übernahme Robert Gates als Verteidigungsminister aus der Bush-Regierung, zeigen. Es ist seine Fähigkeit, für das anvisierte Ziel persönliche Befindlichkeiten weitgehend zurückzustecken, und seine Bereitschaft, zu lernen, die ihm verhalfen, zügig die entsprechenden Schlüsse aus den Fehlern zu ziehen, die ihm im Jahr 2000 die einzige Wahlniederlage seiner gesamten politischen Karriere bescherten, um diese 2004 im Wahlkampf um den Senatsposten erfolgreich anzuwenden.
Vor seinem Amtsantritt Anfang 2005 als US-Senator, war Barack Obama bloß für wenige, aufmerksame Beobachter der Politbühne ein Begriff. Viele seiner Weggefährten sollen von seiner Ausstrahlung, seinem Potential zu Großem bestimmt zu sein, imponiert gewesen zu sein. Viele von ihnen glaubten, dass er selbst von sich überzeugt gewesen sei, dass er – vermutlich von seiner einzigartigen Herkunftsgeschichte abgeleitet – zu etwas „Höherem“ berufen sei – oder zumindest, dass er dies anstrebte. Er sei die Zukunft, ihm stünde eine große Zukunft bevor, sagten Freunde, Bekannte, Dozenten und Leute, die ihn vor seiner Bekanntheit kennenlernten, im Gleichton. Einer unter ihnen war John Kerry, der ihm 2004 die Möglichkeit gab, vor der „Democratic National Convention“, dem alle vier Jahre stattfindenden Bundesparteitag der US-Demokraten, eine Rede zu halten, die ihn erstmals am US-weiten Radarschirm unübersehbar aufscheinen ließ. Es war eine Rede, der viele nachsagen, dass sie Obama die Präsidentschaft brachte. „Es gibt kein liberales und konservatives Amerika – es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika!“, peitschte er die jubelnde Menge an.
Für den europäischen Betrachter mag es verwunderlich sein, warum gerade Worte der Einheit, des Zusammenhalts auf eine dermaßen überwältigende Resonanz stoßen konnten. Doch Kenner der US-Politik wissen, dass die US-Amerikaner mit einem äußerst bipolaren politischen Diskurs konfrontiert werden, der kaum Raum für Nuancen gewährt. Es ist eine politische Kultur, die Außenstehende dazu bringt, sich vor lauter Verwunderung – womöglich aufgrund des Grades an Plumpheit – an den Kopf zu fassen, wundernd, weshalb die US-Politik in den sensationsgierigen Medien regelmäßig als dramatische Schlammschlacht, als Kampf zweier Pole, inszeniert wird. Die US-Amerikaner sind gewohnt, dass ihre Politik über die Jahre auf einen kleinen Korb an Schlagwörter reduziert wurde. Wie Obama in seinem zweiten Buch „The Audacity of Hope“ (deutscher Titel: „Hoffnung wagen“) treffend wiedergibt, ist es für Politiker in den USA praktisch unmöglich geworden, nuancierte, flexible Ideen zu haben, da man sonst riskiere, dass der politische Gegner mithilfe der Medien einem die Worte solange im Mund verdreht, dass man selbst kaum mehr wisse, was man tatsächlich gemeint hatte. So ist Obama, wie er selbst schreibt, beispielsweise dafür, dass Frauen das Recht auf Abtreibung haben sollten, schränkt dieses aber zugleich mit dem Ansatz ein, dass Maßnahmen getroffen werden müssten, die dafür sorgen, dass so wenige Frauen wie möglich in die Situation kommen, abzutreiben. Ähnlich hält er es mit dem uramerikanischen Recht auf das Tragen einer eigenen Waffe. Er macht keinen Hehl daraus, dass er dafür eintritt, dass bestimmte regulierende Maßnahmen getroffen werden müssten, wie etwa eine psychologische Eignungsprüfung oder die Restriktion, Waffen in der Innenstadt zu tragen. Aufmerksame Beobachter werden wissen, wie schnell die Spin-Doktoren, die konservativen US-Medien diese Standpunkte in ein Extrem umdeuteten, das Obama als den „Babykiller“, den repressiven „Waffenhasser“ zeichnete.
Gerade diese Zuspitzung, diese Banalisierung der Politik schaffte ein Klima, das ideal für Obama war. Böse Zungen behaupten, dass Obama kaum eine Chance gehabt hätte, wenn er zu einer anderen Zeit – sagen wir 2000, als Al Gore eine bis heute kontroverse Wahlniederlage gegen George W. Bush erlitt – angetreten wäre. Die US-Amerikaner hatten es schlichtweg satt, erklärten die politischen Kommentaren damals einhellig. Sie hatten genug vom spaltenden, gegeneinander aufhetzenden Politikstil, der einst mit dem Republikaner Newt Gingrich großwurde. Sie waren frustriert von der verantwortungslosen Politik der Republikaner, die zur schlimmsten Wirtschaftskrise seit 1929 geführt hatte. Sie waren besorgt darüber, dass der amerikanische Traum zur abstrakten Nostalgie vorkommen war. Es hatte ihnen einfach gereicht. „Sagt mir nicht, dass wir uns nicht ändern können!“, sagte Obama im Wahlkampf 2008. Es war der Ruf nach einer grundlegenden Veränderung. Und gerade dieses Verlangen konnte Obama hervorragend bedienen, indem er die Geister von unter anderem Abraham Lincoln und John F. Kennedy heraufbeschwor – jene Präsidenten, die als große Veränderer in die US-Geschichte eingingen. Mit seinem Slogan „Yes, We Can!“ stilisierte er seine Herkunft im Wahlkampf zum Inbegriff des amerikanischen Traums. Als jemand, der keine gewöhnliche Kindheit hatte, der alles andere als der typische US-Amerikaner ist, dessen Wurzeln überall verstreut sind, stand er – als jemand, der sich nicht nur durch seine Biographie von seinen Mitstreitern abhob – vor seinen nach deutlichen Veränderungen dürstenden Landsleuten, bereit mit ihnen einen neuen, „ungewohnteren“ Weg zu gehen – sogar derart „ungewohnt“, dass auf die Frage, wie eine alte Dame im konservativen, ländlichen Virginia wählen würde, ihr Mann von oben – so die Anekdote – herunterschrie: „Sag‘ ihnen, wir wählen den Nigger!“.
Die Menschen erwarteten – wie es Menschen oft tun – einen drastischen, radikalen, zügigen Wandel. Es wurde ein regelrechter Mythos um Obama aufgebaut. Er wurde zu einer Art „Messias“, der Personifizierung von Veränderung, heraufbeschworen. Dass die Medien schnell auf diesen Zug aufsprangen, wundert wohl kaum jemanden. Es wurden an ihn hohe Erwartungen gesteckt, von denen Obama selbst wusste, dass er ihnen niemals gerecht werden könne. Doch gerade diese Aufbruchsstimmung, die Obama entfachte, seine Person an sich, brachte ihm den Wahlsieg 2008. Dass er nach acht Jahren eine nicht unerhebliche Anzahl an Leuten enttäuschte, indem er eben nicht die ersehnte, rasche Transformation herbeiführte, schockiert nicht. Keine Frage, Obama ist ein Idealist. Aber er ist auch ein nicht minderer Pragmatist. Manch einer ist geneigt, zu sagen, dass Obama jemand sei, der pragmatisch seine Ideale umsetzt – sprich: zuerst Idealist, dann Pragmatist. Gegenstimmen attestieren ihm, dass er vorrangig pragmatisch und untergeordnet idealistisch sei. Was nun tatsächlich zutrifft, wird wohl einzig Obama selbst wissen.
Obama ist sich bewusst, dass Ideale zwar wichtig sind. Jedoch weiß er ebenso, dass diese einem nichts bringen, wenn man unterlässt, sie pragmatisch wahrwerden zu lassen. Wie er in „The Audacity of Hope“ zeigt, ist er ein grundsätzlich beidseitig abwägender Mensch, der sich davor scheut, extreme Positionen einzunehmen. Gerade deshalb ist und war er konsensorientiert – stets bereit, die andere Seite in den Prozess miteinzubinden. Es ist der Ausdruck eines Ideals, dass am Ende des Tages alle US-Amerikaner in einem Boot sitzen würden, dass es zu nichts führe, wenn man nicht gemeinsam voranschreite, wenn man es bloß bei schamloser Beleidigung der Gegenseite belasse. Es ist auch eine ungeschriebene Regel in der US-Politik, dass Legislative ohne die Unterstützung beider Parteien, kaum Chancen hat, einen Machtwechsel zu überleben. Es ist dieses rigide De-facto-Zweiparteiensystem, das Konsens verlangt, sobald man bestrebt ist, nachhaltig und langfristig etwas umzusetzen. Dass dieses Prinzip seine Bewegungen am politischen Parkett leitet, machte ihn – als er noch Senator auf Staatsebene in Illinois war – bei Kollegen in beiden Parteien beliebt. Als er eine Gesetzesinitiative auf Staatsebene einbrachte, um verpflichtend die Videoaufzeichnung von Verhören einzuführen, damit die Zahl der unschuldig zum Tode Verurteilten sinkt, glaubte kaum jemand daran, dass er damit Erfolg haben werde. Ungeachtet des Widerstandes beider Parteien berief er Treffen und Diskussionsrunden ein, lud Vertreter aller Beteiligten ein, um zu bewirken, dass alle kollektiv mitwirken konnten. Schlussendlich – entgegen aller Erwartungen – wurde sein Gesetzesentwurf einstimmig angenommen.
Zuhören, ermutigen, mitwirken – das sind jene Schlagworte, die Obamas Umgang mit den Menschen wohl am treffendsten beschreiben. Im Wahlkampf von den Republikanern dafür verspottet, ist seine dreijährige Tätigkeit in den ärmlichen Vierteln Chicagos als Community Organizer ein wichtiges Fundament seines Gesellschaftsverständnisses – wenn nicht gar seiner Persönlichkeit. Obama, der in der Schulzeit eher ein Außenseiter war, lernte in dieser Zeit, sich zu öffnen, den Menschen zuzuhören und gemeinsam mit ihnen an Konzepten zu arbeiten, um Lebensbedingungen zu verbessern. Er verstand weiters, wie wichtig es für eine Bewegung ist, die Betroffenen ganz unten mitzunehmen. Dafür war es essentiell, die Sorgen und Ängste, die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, die vom Schicksal nicht gerade gesegnet waren, zu verstehen. Er erkannte, wie wichtig der Zugang zu adäquater Krankenversorgung für die Lebensqualität ist. Er begriff, dass es für den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg unerlässlich ist, gesund und finanziell abgesichert zu sein.
Obamas Präsidentschaft wird innenpolitisch vor allem durch seine Krankenversicherungsreform – „Obamacare“ genannt – in Erinnerung bleiben. Es war ein Vorhaben, das ihm beinahe die Wiederwahl 2012 gekostet hätte. Denn das Thema „Krankenversicherung“ ist in den USA nach wie vor – bis heute – ein heikles Thema. Bill Clinton versuchte sich an einer allgemeinen Krankenversicherung, eine, wie sie der Rest der industrialisierten Welt kennt, einzuführen, und verbrannte sich so schnell die Finger daran, dass er es bleiben ließ. Theodor Roosevelt probierte es und scheiterte – trotz seines Rufes durchsetzungsfähig zu sein. Ähnlich erging es auch Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson. Doch Obama wagte es. Er versuchte das Momentum, die Lust der Menschen nach Veränderung, nach etwas Neuem, zu nutzen, das ihm den Überraschungssieg in den Vorwahlen 2008 gegen die damals scheinbar unschlagbare Hillary Clinton brachte. Er wagte den Schritt ins Ungewisse, in stürmische Gewässer, wie damals, als er sich nach erheblichen Zweifeln, ob er Hillary Clinton überhaupt besiegen könne, in letzter Minute doch für die Kandidatur entschied. Die anfängliche Euphorie war aber – wie zu erwarten – bereits schnell verflogen. Die Ankündigung, das heftig umstrittene Internierungslager in Guantanamo zu schließen, wurde anfangs mit großem Wohlwollen der Bevölkerung aufgenommen, entpuppte sich jedoch als realpolitischer Albtraum – sowohl innen- als auch außenpolitisch. Die Republikaner schalteten umgehend nach der Wahl in einen noch nie zuvor dagewesenen, radikalen Konfrontationskurs gegen Obama. Sie würden alles daran setzen, dass Obama bloß ein Präsident mit einer Amtszeit werde, war der Ton mit dem Mitch McConnell, damals Oppositionsführer im US-Senat, die Richtung für die republikanische Oppositionsarbeit gegen Obama vorgab. Mit einer unglaublich mächtigen Propagandamaschinerie im Rücken ließen die Republikaner nichts unversucht, um Obama unter anderem auf dem rechten Newssender „Fox News“ als „Sozialisten“, „linken Amerikahasser“ zu geißeln. Man mag wohl glauben, dass Obama angesichts der soliden Mehrheiten in beiden Kongresskammern eigentlich ein leichtes Spiel gehabt hätte. Tatsächlich standen die Midterm Elections, die Parlamentswahlen in der Halbzeit einer Präsidentenamtszeit, an. Nicht wenige Demokraten fürchteten um ihr Mandat, sobald sie dieser umstrittenen Reform ihre Stimme gaben. Obamas Versuch auf die Republikaner zuzugehen, sie mitwirken zu lassen, scheiterte nicht zuletzt am immer stärker werdenden, rechtsextremen Flügel der Republikanischen Partei, der Tea Party. Obamas Krankenversicherungsreform wurde zu einer Grundsatzfrage, zu einer Frage, ob man mit einer verpflichtenden Krankenversicherung nicht die Fundamentalwerte der Freiheit und Selbstbestimmung, die grundlegend für das Nationsverständnis der USA sind, untergrabe. Die Erzkonservativen sahen sich in ihrer Angstmacherei bestätigt, dass Obama ein „anti-amerikanischer Sozialist“ sei. Es war nicht leicht für Obama. „Obamacare“ glich einem politischen Himmelfahrtskommando – überlebt er es, so würde er einen historischen Platz für sich einnehmen; scheitert er, so hätten die Republikaner mit ihrem Vorhaben, Obamas Wiederwahl zu verhindern, höchstwahrscheinlich Erfolg gehabt. Jenes Land, das ihn zwei Jahre zuvor gerade noch deshalb gewählt hatte, weil es in ihm den Einiger sahen, war bei Obamas Vorhaben so gespalten wie eh und je. Zu alldem kam während der mühseligen Verhandlungen noch hinzu, dass die Republikaner mit ihrem Sieg in einer Nachwahl um den Sitz eines verstorbenen, demokratischen Senators, eine Sperrminorität im Senat erreichen konnten. Eine grundlegende Reform, wie die Einführung einer zusätzlichen staatlichen Krankenversicherung nebst dem privaten Sektor, war somit völlig vom Tisch. Obama erfuhr einen herben Rückschlag, wollte jedoch nicht, dass er mit einem seiner Kernversprechen scheitert. Schließlich gelang es Obama – mit tatkräftiger Hilfe seiner Parteifreundin Nancy Pelosi – eine abgespeckte Form seiner Reform durchzubringen.
Obama hatte den Schritt vollbracht, an dem viele andere vor ihm gescheitert waren. Dass das nicht alles sein konnte, dass „Obamacare“ weit davon entfernt ist, ein ideales System zu sein, dass nach wie vor teils große Probleme vorhanden sind – wie die Aussicht, dass bei vielen „Obamacare“-Nutzern, die Selbstbehalte steigen werden –, dass es alles andere als einfach ist, ist ihm bewusst. Es war ein waghalsiges Unternehmen, das im Endeffekt – wenn auch zulasten einiger weniger – die Zahl der Unversicherten von rund 47 Millionen im Jahr 2010 – sprich vor „Obamacare“ – auf rund 27 Millionen im Jahr 2016 senkte. Für Obamas Ziele war dies der erste Schritt in Richtung einer nachhaltigen Veränderung des US-Gesundheitswesens, auch wenn er von da an in Kauf nehmen musste, dass die Republikaner für den Rest seiner Präsidentschaft nichts unversucht lassen würden, ihn deswegen systematisch anzukreiden.
Erschwerend für Obama war der Verlust der demokratischen Mehrheit im Repräsentantenhaus 2010. Zwar konnten die Demokraten noch die Überhand im Senat behalten, dennoch wurde mit dem partiellen Machtwechsel im Parlament, „Obamacare“ zu einem Druckmittel in der republikanischen Blockadepolitik. Mithilfe ihrer aggressiven Medienstrategie schafften es die Republikaner vor allem jene gegen Obamas Reform aufzuhetzen, die – ironischerweise – am meisten davon profitierten. „Obamacare“ abzuschaffen, wurde zum wichtigsten Thema in der Politik der Republikaner. Die Republikaner waren sogar dermaßen davon besessen, dass sie 2013 mutwillig – in den Augen vieler Experten gar grob fahrlässig – einen „Government Shutdown“, also die Stilllegung der Regierung, provozierten, indem sie sich weigerten, die bitter benötigte Erhöhung der Schuldenbremse zuzulassen, solange „Obamacare“ nicht abgeschafft würde. Nach 16 Tagen scheiterten die Republikaner – und Obama, oftmals eiskalt in seinem Pragmatismus, siegte; seine Reform blieb.
Dass die Schuldenbremse Obama irgendwann Turbulenzen bereiten würde, wird bei nüchterner Betrachtung der Kennzahlen wohl kaum überraschen. Obama hatte zwei teure, andauernde, aussichtslose Kriege von seinem Vorgänger geerbt, die – wie er sagte – „mit der Kreditkarte“ finanziert wurden. Hinzu kamen eine desaströse, hoffnungsraubende Wirtschaftslage und eine Industrie, die allmählich systematisch Arbeitsplätze ins billige Ausland exportierte. Obamas Antwort war, die Wirtschaft wieder anzukurbeln – mit geradezu sündhaft teuren Konjunkturpaketen. Die Aufgabe der Regierung sei es nicht, das Leben der Menschen zu reglementieren, sondern die besten Möglichkeiten und Bedingungen zu schaffen, damit es ihnen leichter falle, Erfolg zu haben, legt Obama in „The Audacity of Hope“ dar. Es ist diese Überzeugung, mit der er seinen keynesianisch-orientierten Weg argumentiert. Der Staat müsse eingreifen, damit die USA nicht in eine irreversible Abwärtsspirale gerieten. Es war derselbe Gedanke, den er während der provisorischen Teilverstaatlichung von General Motors hatte – jenem Automobilkonzern, dessen bevorstehender Niedergang von vielen als Symbol für die schwächelnde, ermüdete US-Wirtschaft, den Niedergang des amerikanischen Traums gesehen wurde. Obamas Konjunkturmaßnahmen wurden mit rund 827 Milliarden US-Dollar beziffert – ein Treiber für die scheinbar ungezügelt in die Luft schießende Staatsverschuldung der USA. Am Ende seiner Präsidentschaft hinterlässt Obama einen Schuldenberg, der sich seit seinem Amtsantritt beinahe auf 20 Billionen US-Dollar verdoppelt hat. Zudem zeigten die staatlichen Investitionsmaßnahmen nicht den gewünschten Erfolg. Dennoch gehe es den USA wieder besser, die Wirtschaft habe sich maßgeblich erholt, zieht er am Ende seiner Präsidentschaft Resümee. Es wäre wohl überraschend, wenn er dies nicht so sehen würde – und zum Teil scheinen ihm die Zahlen rechtzugeben. Das Bruttoinlandsprodukt und die Zahl der Arbeitsplätze sind stetig gewachsen. Trotzdem schaffte Obama – sehr zum Missfallen vieler Republikaner – nie ein jährliches BIP-Wachstum über drei Prozent – eine Marke, deren Überschreitung gewissermaßen ein US-amerikanisches Grundbedürfnis ist. Zudem sind – wenn man auch diejenigen mitrechnet, die dauerarbeitslos sind oder sich generell vom Arbeitsmarkt abgewandt haben – die Arbeitslosenzahlen nicht so überwältigend, wie sie Obamas Regierung gerne zugegeben hätte. Nichtsdestotrotz schielten die Europäer neidisch auf diesen – für US-amerikanische Verhältnisse – verhaltenen wirtschaftlichen Wiederaufschwung.
Es war ausgerechnet die enge wirtschaftliche, politische und auch militärische Bindung Europas zu den USA, die es – mit kurzer Verzögerung – in die wirtschaftliche Krisenspirale, in der sich die USA befanden, mitriss. Dass sich die US-Wirtschaft rasanter von der Finanzkrise 2007 erholt hat als Europa, ist ein Sinnbild für die ungleiche Beziehung zwischen Europa und den USA. Während Europa sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges an den USA orientiert, war Obamas Beziehung zu Europa verhältnismäßig halbherzig. Der Flüchtlingskrise und der Ukraine schenkte Obamas Außenministerium kaum Beachtung. Die NSA-Affäre kühlte das Verhältnis weiter ab, das Scheitern des in Europa schlagzeilendominierenden TTIP-Abkommen, wurde in den USA relativ gleichgültig aufgenommen. Auf Staatsbesuchen in Europa betonte er zwar stets die „gemeinsamen Werte“, die „gemeinsame Geschichte“, doch den außenpolitischen Fokus richtete er auf den Pazifikraum – die Hauptbühne jüngerer sowie zukünftiger Geopolitik. Diese strategische Neuausrichtung, weg vom Atlantik hin zum Pazifik, war eine unmittelbare Reaktion auf das zwiespältige Verhältnis der USA mit der aufsteigenden Großmacht China und deren Machtgelüste. Besonderes Augenmerk schenkte die Obama-Regierung den Seegrenzkonflikten im Ost- sowie Südchinesischen Meer. Diese Seegebiete sind grundlegend für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, zumal die dortigen Routen nach wie vor die Versorgung mit Rohstoffen und den Export von Waren sicherstellen. Die aggressiv-militärische Konfrontation vermied er und suchte stattdessen den Weg der Diplomatie – mit Chinas Nachbarn. Als Bewunderer des Marshall-Plans, der damals Westeuropa partnerschaftlich an die USA band, indem letzteren beim Wiederaufbau halfen, versuchte er den Anrainerstaaten, den unmittelbar Betroffenen, zu helfen. Besondere Symbolkraft hatte die Aufhebung des jahrzehntelangen US-Waffenembargos gegen Vietnam – wobei stark zu bezweifeln ist, dass die USA jetzt großartig Waffen an die Vietnamesen verkaufen werden. Hingegen das wohl bedeutendste außenpolitische Werk in diesem Zusammenhang war die Ausverhandlung des transpazifischen Freihandelsabkommen, kurz TPP, unter explizit gewolltem Ausschluss Chinas. Insbesondere politisch wäre die Umsetzung der TPP ein deutliches Signal an China, dass die USA determiniert sind – mit dem Wohlwollen der dortigen Staaten –, in der Region einen Gegenpol einzunehmen. Bezeichnend für die zunehmend schwieriger werdende Beziehung beider Staaten, war der diplomatische Affront – auch wenn beide Seiten beteuern, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe – der Chinesen gegenüber Obama beim G20-Gipfel in Hangzhou im September 2016, als ihm als einziger der teilnehmenden Staatsgäste, der roten Teppich verwehrt blieb. Gut auf Obama war Chinas Präsident Xi Jinping nicht mehr anzusprechen.
Auch Israels Premierminister Benjamin Netanyahu war alles andere als glücklich mit Obama, als dieser mit der Tradition der bedingungslosen Allianz mit Israel brach und nicht mehr jedes Begehren der Israelis einfach abnickte. Seine aktiven Bemühungen um eine Zwei-Staaten-Lösung, die öffentliche Verurteilung der israelischen Siedlungspolitik ließen die Treffen mit Netanyahu regelmäßig zu einem Ort der Eiseskälte werden – in einem an sich eigentlich sehr heißen Konflikt. Den Gipfel des Zorns erreichte Obama jedoch mit dem Iran-Atomabkommen. Die Republikaner und Israel erzürnte die Bereitschaft Obamas, Kompromisse mit der iranischen Führung einzugehen. Während Obama – entsprechend seiner Grundhaltung – argumentierte, dass lediglich Konsens nachhaltig sei, sandten 47 republikanische Senatoren einen Brief an den Iran, in dem sie warnten, dass die Republikaner gewillt seien, die Übereinkunft alsbald wie möglich wieder rückgängig zu machen.
Die Republikaner warfen Obama vor, dass er die Rolle der USA als Weltmacht mit seiner Nahostpolitik verspielte – er zeige zu wenig bis kaum Stärke; er sei strategielos gewesen. Angesichts des Arabischen Frühlings und den darauffolgenden, reihenweisen Absetzungen altgedienter Diktatoren, die einst – mit jahrzehntelanger US-Hilfe – ihre Völker prowestlich geführt hatten, verwundert es nicht, dass die USA nicht mehr so recht wussten, wie sie mit dieser neuen, unübersichtlichen Situation umgehen sollten. Einerseits begrüßte Obama erwartungsgemäß die Demokratisierung in der arabischen Welt, andererseits waren die neugewählten, islamistisch-geprägten Regierungen ein Problem für ihn, da sie den USA nicht wirklich wohlgesonnen waren. Als dann am 11. September 2012 libysche Aufständische in Bengazi US-Diplomaten ermordeten, schien der Super-GAU für Obama – sowohl innen- als auch außenpolitisch – einzutreten. Die Republikaner zogen rasch Vergleiche mit Jimmy Carters zögerlichem Verhalten während der Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran. Obamas Regierung tat sich sichtlich schwer. Zunächst – vor dem Ausbruch der Umbrüche – versuchte sich Obama 2009 mit einer Rede in Kairo an einem Neuanfang – „A New Beginning“ –, einer Heilung der Wunden, die die Politik seines Vorgängers aufriss, nur um zu sehen, wie Monate später die Region sich zunehmend destabilisierte. Eine klare Linie hatte Obama oftmals nie, wie vor allem seine Haltung im syrischen Bürgerkrieg und zum Islamischen Staat zeigte – wobei man ihm zugutehalten muss, dass die politischen Verhältnisse im Orient volatiler geworden sind, als sie es noch unter George W. Bush waren.
Im Gegensatz dazu ordnete er – wie im Wahlkampf versprochen – resolut den Rückzug der US-amerikanischen Truppen aus dem Irak und Afghanistan an. Doch was so hochtrabend, so leicht im Stimmenfang klang, bereitete Obama, der schon von Anfang an gegen den Irakkrieg war, nach der Amtseinführung schlaflose Nächte. Es waren die unklaren Ziele, das Fehlen einer kohärenten Strategie unter George W. Bush, die die US-Truppeneinsätze im Irak und in Afghanistan zu einem aussichtslosen Unterfangen machten. Beide Länder wurden durch die US-Präsenz in einem Ausmaß fragil, dass ein übereilter Truppenrückzug die Situation vor Ort wohl noch verschlimmert hätte. Im Hinblick auf Afghanistan drängten die obersten Militärs auf die Entsendung weiterer Truppen, die Obama am Ende widerwillig bewilligte – mit der Bedingung, dass sie mit 2012 schrittweise abgezogen werden würden. Es war eine pragmatische Entscheidung, die jedoch – vor allem wegen der unzureichenden staatlichen Strukturen in Afghanistan – nicht unriskant war. Trotzdem konnte er auf diese Weise, auf der einen Seite sein Gesicht wahren, indem er nicht so wirkte, als ob ihm das Militär – wie zuvor bei seinem Vorgänger – Entscheidungen vorwegnehmen würde, auf der anderen Seite suggerierte er so, dass er gewillt sei, unangenehme Schritte zu setzen, wenn sie denn einem höheren Ziel verpflichtet sind – der oft zitierten „Nationalen Sicherheit“ der Vereinigten Staaten. Nichtsdestotrotz zeichneten die US-Nachrichtendienste ein recht pessimistisches Bild von potentiellen Terroranschlägen, das sich bei mangelnder Anwesenheit von Truppen noch verschlimmern würde. Die Empfehlung der CIA war der Einsatz von Drohnen.
Obama nutzte Kampfdrohnen wie kein US-Präsident zuvor. Gerade deshalb wirkt der 2009 an ihn verliehene Friedensnobelpreis überaus zynisch. Manchmal sei die Anwendung von Gewalt, von Krieg notwendig, um den Frieden zu sichern, sagte er sinngemäß bei der Preisverleihung in Oslo. Es ist eine Aussage, die sich mit Obamas Verständnis von der Rolle der USA in der Welt deckt. Es sei hin und wieder notwendig, dass die USA eingreifen müssten, sobald eine humanitäre Krise oder Tragödie es verlange. Für ihn ist der Einsatz von Waffengewalt – wie er es auch in seiner Rede in Oslo ausführte – die Ultima Ratio, das letzte Mittel, wenn alles andere davor versagt.
Ihm ist bewusst, dass eine nachhaltige Strategie friedlich auszuführen ist, dass es langfristig nicht sinnvoll für die USA sein kann, allein wegen dem Zugang zu Rohstoffen Kriege anzufangen. Bereits in „The Audacity of Hope“ – und in zahlreichen Reden – betonte er stets die Bedeutung von zukunftsfähigen Energiequellen. Es seien diese, die sicherstellen würden, dass die USA weiterhin eine Supermacht blieben, dass die US-Amerikaner nicht mehr in rohstoffgetriebene Kriege hineingesogen würden. Es sei eine Veränderung in der Energiepolitik notwendig, damit sich eine Katastrophe wie „Deepwater Horizon“ im Jahr 2010 nicht wiederhole. Als Folge dieser Überlegungen erhöhte er Forschungsgelder deutlich und drängte auf eine weltweite Zusammenarbeit gegen den Klimawandel. Innenpolitisch stand Obama vor dem Problem, dass die Republikanische Partei über die Jahre allmählich klimawandelverleugnend wurde – mit dem Narrativ, dass eine Verpflichtung zu internationalen Klimaschutzstandards nicht nur eine Gefahr für die nationale Souveränität darstelle, sondern auch wirtschaftsschädigende staatliche Eingriffe nach sich zögen. Auf globaler Ebene war die Debatte – nicht überraschend – voneinander entgegensetzten, nationalen Interessen geprägt. Der den Umständen entsprechend erfolgreiche Klimagipfel 2015 in Paris stellte somit einen wichtigen Meilenstein auf Obamas Agenda dar.
Die größte Errungenschaft Obamas ist hingegen wohl seine Wahl zum US-Präsidenten. Den großen Wandel aber, den sich viele US-Amerikaner mit seiner Wahl erhofft hatten, brachte er wohl – je nachdem welche Maßstäbe man nimmt – nicht. Die Leute sahen in ihm jemanden, der zu einen vermochte, der dabei helfen konnte, die langsam heilenden Wunden der Rassensegregation zu überwinden, jedoch offenbarten der Tod Trevor Martins und vieler anderer Afroamerikaner, die durch Polizeiamtshandlungen ihres Lebens beraubt wurden, wie tief die innere Trennung des US-amerikanischen Volkes entlang der Hautfarbe noch liegt. Mit Obamas Wahl hätten die USA den Rassismus überwunden, schrieb so manch ein übereifriger Journalist. Doch in Wahrheit war die Präsidentschaft Obamas ein Weckruf, der die US-Amerikaner aus ihrer Trance weckte, die sie glauben ließ, dass es mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre getan sei. Zweifelsohne hat sich 2008 gezeigt, dass die USA mittlerweile an einem Punkt angelangt sind, an dem jedem alle Türen offenstehen – auch wenn es sicherlich noch manch einem schwerer fällt als anderen, gewisse Türen zu öffnen.
Der amerikanische Traum predigt, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Es ist diese Überzeugung, die Obama – in für ihn politisch unsicheren Zeiten – dazu bewegte, den Entschluss zu fassen, seine Krankenversicherungsreform, „Obamacare“, anzugehen. Einer seiner Stabsmitarbeiter soll ihm gesagt haben, dass er dafür viel Glück brauche, woraufhin er erwiderte, dass allein seine Anwesenheit im Oval Office als dunkelhäutiges Staatsoberhaupt schon von großem Glück zeuge.
Dass „Obamacare“ nicht alles sein kann, weiß er selbst. Er ist sich aber auch bewusst, dass kontinuierliche, bedachte Schritte der einzig richtige Weg sind. Seine politische Grundeinstellung, seine Ideale waren – verglichen mit seinem Vorgänger George W. Bush – eine regelrechte Revolution. Es war eine Revolution, die in ihren Anfängen viele Unterstützer fand, jedoch schnell an Grundlage verlor. Es war die Erwartung, dass es mit der Wahl Obamas erledigt gewesen wäre, dass dies ausreichend Wandel wäre. Es zeigte sich, dass es bei Weitem nicht reichte. Die Zeit als Community Organizer in Chicago lehrte Obama, dass die Menschen auch gewillt sein müssen, den Wandel bis zum Ende – entgegen aller Schwierigkeiten und Rückschläge – mitzutragen, mit zu verantworten. Nach acht Jahren US-Präsident Obama ist die Mehrheit der US-Amerikaner zwar nicht unzufrieden mit seiner Amtszeit, dennoch ist sie enttäuscht – enttäuscht darüber, dass er den Erwartungen nicht gerecht werden konnte.
Es ist wahrscheinlich die Ironie der Zeit, dass – sobald eine Revolution nicht nach Maßgabe abläuft – eine Konterrevolution nicht lange auf sich warten lässt. Und am Ende des Tages bleibt die Erkenntnis: Die US-Amerikaner sind nach wie vor hungrig auf Veränderung, auf „change“ – zum Besseren.