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Gespräch N° 15 | Kabinett

Stefan Petzner

„Es riecht nach Revolution und einem neuen Führer“

Als rechte Hand Jörg Haiders war er Spin-Doctor des wohl erfolgreichsten Rechtspopulisten Europas. Verblüffend klingt es daher, wenn sich PR-Genie Stefan Petzner „sozialdemokratische Antworten“ auf die großen Fragen unserer Zeit wünscht.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 12. Mai 2016, fotografiert hat Raphael Moser.
Muamer Bećirović
Herr Petzner, es gab ein historisches Wahlergebnis im ersten Wahldurchgang der Bundespräsidentenwahl 2016: Elf Prozent für den SPÖ-Kandidaten, knapp dahinter die ÖVP. Ist das symbolische Ende der Zweiten Republik eingeläutet? Erleben wir das Ende einer Ära, in der sich Rot und Schwarz das gesamte Land feinsäuberlich aufgeteilt hatten?
Stefan Petzner
(denkt sehr lange nach) Es findet jedenfalls ein Umbruch statt. Ob wir diesen nun das Ende der Zweiten Republik, den Beginn der Dritten Republik oder – wie Christian Rainer im »profil« (Anm. am 24. April 2016) schrieb – den Sprung in die Vierte nennen, bleibt wohl jedem selbst überlassen. Dabei darf man aber nicht außer Acht lassen, dass wir in Zukunft viel mehr als bisher mit massiven Wählerbewegungen konfrontiert sein werden. Da kann es durchaus sein, dass von einer Wahl zur anderen Ergebnisse um – sagen wir einmal – ganze 15 bis 20 Prozent schwanken.
Muamer Bećirović
Glaubst du wirklich, dass Wahlergebnisse zukünftig derart stark schwanken werden?
Stefan Petzner
Die Parteien werden auf jeden Fall größere Sprünge nach oben und unten erleben als bisher. Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir müssen uns vom Begriff »Stammwähler« verabschieden, denn es wird ihn nicht mehr geben. Es geht aber in Wahrheit um viel mehr als das vermeintliche Ende von SPÖ und ÖVP, es geht um das Ende eines ganzen Systems. Nicht nur Österreich, sondern in ganz Europa und darüber hinaus. Wir werden Zeugen eines großen gesellschaftlichen und politischen Umbruchs. Man kann die immer stärker werdende Sehnsucht und das Verlangen nach echtem »Leadership« spüren. Und was heißt »Leader« auf Deutsch? Führer. Ich glaube, darin liegt der Kern eines Diskurses, dem wir uns nun stellen müssen. Allein der Blick auf Donald Trump und den Wahlkampf um das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten scheint diesen Trend zu bestätigen.
Stefan Petzner

© Raphael Moser

Muamer Bećirović
Also sehnen sich die Menschen nach einem »Führer«?
Stefan Petzner
Die Tendenz in diese Richtung wächst deutlich. Ich glaube, dass wir momentan eine zu kurzsichtige Diskussion führen – nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland. Die Frage lautet: Wie schaut es um den Bestand unseres demokratischen Systems, so wie wir es seit 1945 kennen, überhaupt aus? Ich befürchte, dass dieses System sich gerade in aktuer Lebensgefahr befindet. Ob man daran noch etwas ändern kann, weiß ich nicht. Derzeit sprechen alle Indikatoren dagegen. Immer mehr Menschen hinterfragen unser demokratisches System an sich – insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen wir immer größer werdenden politischen Herausforderungen, ökonomischen Verwerfungen und gesellschaftlichen Problemen gegenüberstehen. In Österreich, europaweit, ja weltweit. Sei es nun die aktuelle Flüchtlingskrise oder die in Wahrheit bis heute ungelöste Finanzkrise – all das sind die großen Probleme, die große Entscheidungen abverlangen. Es stehen mitunter bahnbrechende Weichenstellungen und nötige große Umwälzungen an, die uns regelrecht dazu zwingen werden, unser gesamtes kapitalistisches und schuldenbasiertes Wirtschaftssystem auf den Kopf zu stellen. Denn es funktioniert schlichtweg nicht mehr. Obwohl wir das wissen, wollen wir es nicht wahrhaben. Vor allem unsere Politiker nicht. Es zweifeln immer mehr Menschen daran, ob unser derzeitiges demokratisches Parteiensystem all diese großen Umbrüche schultern kann. Diesen Zweifeln müssen wir uns stellen.
Muamer Bećirović
Zum Verständnis: Meinst du damit unsere repräsentative Demokratie?
Stefan Petzner
Genau, unsere repräsentative Demokratie – oder wie ich immer sage: unsere parlamentarische Parteiendemokratie, wie wir seit 1945 kennen. Glauben die Leute den Parteien und Politikern, dass diese überhaupt noch Herr der Lage sind? Ich sage »Nein«. Das Vertrauen schwindet. Es ist eine deutliche Entwicklung zu erkennen. Die Menschen wenden sich Stück für Stück von der Demokratie ab und stattdessen starken »Leadern« zu. Insofern ist ein Vladimir Putin – mit der Art, mit der er Russland führt – der Trendpolitiker der Zukunft.
Muamer Bećirović
Man kann das durchaus auch auf den türkischen Premier Erdogan ummünzen. Egal was man im Rest der Welt auch sagt, Erdogan gewinnt eine Wahl nach der anderen.
Stefan Petzner
Erdogans Erfolg bei Wahlen gründet bis heute auf dem gewaltigen Boom und wirtschaftlichen Aufstieg mit hohen Wachstumsraten, den die Türkei in seinen Anfangszeiten und jenen der AKP hingelegt hat. Doch Erdogan nutzte die daraus entstandene und bis heute andauernde Popularität dazu, um die Türkei langsam und schleichend in einen autoritären Staat umzuwandeln und die Demokratie auszuhöhlen. Richtig sichtbar wird das erst jetzt, geplant hat er es von Anfang an. Insofern sind Erdogan und die Türkei ein gutes Beispiel dafür, wie schnell es gehen kann. Die Frage ist: Wollen wir diesen Typus Politiker wie Putin oder Erdogan auch bei uns? Können wir die dahingehende Entwicklung überhaupt noch aufhalten? Wenn ich in Deutschland PEGIDA-Demonstrationen sehe, bei denen Transparente mit der Aufschrift »Putin hilf!« auftauchen, dann frage ich mich, welche Motive, Wünsche und Absichten bei den Demonstranten dahinterstecken. Warum hat Putin in westlichen Ländern wie Österreich und Deutschland derart viele Anhänger, Bewunderer und Unterstützer, dass sogar eine eigene Bezeichnung, die »Putin-Versteher«, für sie erfunden wurde? Dahingehend ist auch die Bundespräsidentenwahl bei uns eine Richtungsentscheidung – darüber, welchen Weg Österreich einschlagen soll. Das darf man nicht unterschätzen.
Muamer Bećirović
Daran anschließend kommen wir wieder auf die Bundespräsidentenwahl zurück: Ich glaube, dass viele Hofer (Anm. Norbert, FPÖ-Kandidat) wählen und sich dabei nicht wirklich im Klaren sind, welche Macht das Amt des Bundespräsidenten hat. Dazu gibt es einen exzellenten Artikel in der deutschen »ZEIT«, der die Einschränkung der Macht des deutschen Bundespräsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt. Österreich hat diesen Schritt nicht unternommen. Doch das hat zumindest bis heute keine gravierenden Unterschiede gemacht, da Rot-Schwarz das Amt eher auf seine repräsentative Funktion reduziert haben.
Stefan Petzner
Eine Art Grüßaugust.
Muamer Bećirović
Genau, ein Grüßaugust. Und das, obwohl der österreichische Bundespräsident theoretisch so viel Macht hat, dass man ihn ohne weiteres mit einem unserer Landesfürsten vergleichen könnte. Wenn sich hier das Amtsverständnis ändert, blicken wir dann nicht in instabile Zeiten?
Stefan Petzner

© Raphael Moser

Stefan Petzner
Das meinte ich mit Richtungsentscheidung. Blicken wir zurück in die Vergangenheit: Man muss die Rolle des österreichischen Bundespräsidenten im Kontext ihrer verfassungsrechtlichen Festlegung im Jahr 1929 und der politischen Situation und Entwicklung damals sehen. Es ist eine starke, aktive Rolle. Gerade darin besteht der Unterschied zu Deutschland, wo der Bundespräsident nach dem Grundgesetz tatsächlich nur eine Art Grüßaugust ist und rein protokollarische Aufgaben hat. Bei uns hat der Bundespräsident jedoch laut Artikel 70 der Bundesverfassung nicht nur die Möglichkeit den Bundeskanzler und die gesamte Regierung zu entlassen, auf Vorschlag der Regierung kann er laut Artikel 29 sogar den Nationalrat auflösen. All das sind Möglichkeiten, die unser Bundespräsident laut Verfassung hat. Sie wurden bisher bloß nie genutzt. Und das ist für mich auch der Grund, warum ich diese Wahl als richtungsentscheidend erachte. Wenn FPÖ-Kandidat Norbert Hofer ankündigt, die Regierung entlassen zu wollen, lässt mich das genau an jene Entwicklung denken, die ich vorhin erläutert habe. Auch wenn er diese Ankündigung im Laufe des Wahlkampfes immer weiter relativiert hat, alleine mit dem Gedanken zu spielen, hat massive Brisanz. Hofer will sich als starker, aktiver, führender Bundespräsident positionieren. Auf der anderen Seite steht Van der Bellen (Anm. unabhängiger Kandidat, Mitglied der Grünen), der das bisher gelebte Amtsverständnis weiterführen will. Ich würde es als »demokratisches Amtsverständnis« bezeichnen, während hingegen Hofer in der Tendenz eher in Richtung eines »autokratischen Amtsverständnisses« unterwegs ist. Gerade dieser fundamentale Gegensatz macht diese Stichwahl so wichtig und den Ausgang prägend für Österreich. Die Leute müssen sich dessen bewusst werden.
Muamer Bećirović
Es wird also eine Entscheidung zwischen zwei Bundespräsidenten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Stefan Petzner
Nicht nur das: Österreich befindet sich an einer Weggabelung. Bleiben wir beim altbewährten, demokratischen System? Oder wollen wir in die Richtung eines autoritären Staates? Zur Klarstellung: Ich werfe Norbert Hofer, den ich eigentlich als sehr besonnen kennen gelernt habe, nicht vor, einen autoritären Staat anzustreben, ich sage aber, dass diese Wahl eine tendenzielle Richtung für die Österreicherinnen und Österreicher vorgeben wird. Und wie bereits erwähnt: Die Zweifel an der Demokratie steigen massiv an. Jeder Fünfte zweifelt, sprich: 20 Prozent glauben nicht mehr an die Demokratie, sondern sprechen sich für einen Führer aus. Tendenz stark steigend.
Muamer Bećirović
Ist das nicht übertrieben?
Stefan Petzner
Das ist das Ergebnis wissenschaftlicher Erhebungen! Ich finde es daher bedauerlich, dass im bisherigen Bundespräsidentenwahlkampf die Grundsatzdiskussion über die zukünftige Richtung Österreichs viel zu wenig geführt wurde.
Muamer Bećirović
Österreich hatte doch schon einmal einen Führer. Wirft uns das gesellschaftlich nicht zurück? Ich habe bisher immer geglaubt, dass wir diese Zeit schon hinter uns haben.
Stefan Petzner
Ich befürchte, dass eine wachsende Zahl an Leuten das anders sieht als du.
Muamer Bećirović
Wie ist das zu stoppen?
Stefan Petzner
Das hängt von den demokratischen Akteuren ab. Das große Problem ist, dass die heutigen Akteure unserer demokratischen Parteien großteils nicht in der Lage sind, die Aufgaben, die an sie gestellt werden, zu erfüllen. Das birgt die große Gefahr, dass dann wieder jemand kommt und sagt: »Haltet’s doch einfach alle die Gosch’n! Wir brauchen den ganzen Schaß nicht! Ich nehme die Sache jetzt selbst in die Hand und alle anderen sind still!«. Die alles entscheidende Frage unserer Zeit ist doch die Verteilungsfrage, weniger die Flüchtlingsfrage. Erst jüngst hat eine Studie für Deutschland ergeben, dass der Mittelstand immer mehr wegbricht. Breite Bevölkerungsschichten in Europa verarmen und verelenden langsam. Das Phänomen lässt sich nicht nur in Griechenland, sondern auch in Österreich oder Deutschland beobachten. Gut, Deutschland erlebt momentan ein »Jobwunder« und hat ganz niedrige Arbeitslosenzahlen. Doch schauen wir einmal näher hin, um welche Beschäftigungsverhältnisse es sich handelt: Es sind häufig prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Mini-Jobs, Leiharbeit. Das führt zu steigender Armut, einer neuen Unterschicht, stark auseinanderklaffenden Einkommensverhältnissen, sozialer Ungleichheit und wachsender Unzufriedenheit. Der »Spiegel« nennt das in seiner aktuellen Ausgabe treffend den »Absturz der Normalos«. Ideologisch betrachtet müsste man nun schlussfolgern, dass wir eigentlich eine neue Blüte der Sozialdemokratie erleben müssten, handelt es sich doch bei all dem Genannten um klassische sozialdemokratische Themen und Anliegen. Gerade die Sozialdemokratie steckt aber aktuell in halb Europa tief in der Krise. Die Wähler wenden sich scharenweise von ihr ab! Warum dieser Widerspruch? Weil ihr die Leute die Lösung der Verteilungsfrage einfach nicht mehr zutrauen, weil die Leute seit Jahren gerade von Sozialdemokraten Versprechen von sozialer Gerechtigkeit und einer fairen Verteilung des Wohlstandes hören, sich diese Versprechen aber nie erfüllen, mehr noch, das genau Umgekehrte passiert! Die eigentliche Antriebsfeder jeder Revolution waren immer Armut, Elend und Ungerechtigkeit, weniger der Drang nach Freiheit. Und daher riecht es heute wieder nach Revolution und einem neuen Führer. Wenn unsere Demokratie die Verteilungsfrage nicht bald löst, dann wird das Volk, und zwar im Rahmen einer Massenbewegung von unten, die Sache selbst in die Hand nehmen. Man kann nur hoffen, dass das dann friedlich von statten geht. Die Geschichte lehrt uns aber, dass Revolutionen selten friedlich verlaufen sind. Nirgends manifestiert sich die Krise unserer Demokratie stärker als in der Krise der Sozialdemokratie, weil immer mehr zu dem Schluss kommen: Die Demokratie ist derzeit nicht in der Lage, die Herausforderungen, die vor uns liegen, zu lösen.
Muamer Bećirović
Ist damit unsere Demokratie gemeint? Ist unsere repräsentative Demokratie nicht mehr in der Lage, dies zu tun?
Stefan Petzner
Unsere parlamentarische Parteiendemokratie ist derzeit dazu nicht in der Lage, vor allem ihre Protagonisten nicht. Das trifft insbesondere auf die großen Volksparteien zu. Selten war ihr politisches Personal so schlecht wie heute. Bei der aktuellen Stimmungslage in weiten Teilen der Bevölkerung gebe ich uns noch 10 bis maximal 15 Jahre in denen sich entscheiden wird, ob es nun zu einer Revolution, auch gegen unser demokratisches System kommt, oder nicht. Gerade am Beispiel Österreich zeigt sich das sehr gut: Zu Stagnation, Reformunfähigkeit und Mittelmäßigkeit auf politischer Ebene gesellen sich zunehmende Verzweiflung, Wut und Aggression im Volk. Schau doch nur mal in die sozialen Netzwerke, was sich da abspielt! Der Wut- und Aggressionspegel, dort nimmt beängstigende Ausmaße an, ein vernüftiger Austausch von Argumenten und Meinungen findet immer weniger statt. Wir leben in Zeiten von massivster sprachlicher Gewaltanwendung. Der Sprung von sprachlicher Gewalt zu körperlicher Gewalt ist ein verdammt kurzer. Und gegen wen richtet sich die Gewalt in der Regel zu aller erst? Es waren immer die Schwachen. Andersdenkenden, Minderheiten, gesellschaftliche Randgruppen. Heute deutet alles auf Strache als nächsten Bundeskanzler hin – oder zumindest wird die FPÖ die stimmenstärkste Partei. Ich glaube, dass viele in Strache einen der letzten Vertreter des demokratischen Parteiensystems sehen, der noch dazu imstande ist, den Leuten Hoffnung zu geben. Sie sind demnach auch gewillt, ihm eine Chance zu geben, sich zu beweisen. Die Erwartungshaltung an ihn ist enorm. Nicht zuletzt auf Grund seiner großen Ankündigungen und Versprechungen. Ich hoffe, dass er sich dessen bewusst ist und kann ihm nur »Alles Gute« für seine sich selbst gestellte Aufgabe wünschen. Schafft er es, das Ruder herumzureißen? Kann er Europa weiterentwickeln? Kann der diesen wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs- und Reformprozess, der nötig ist, durchführen? Schafft er es, die virulente Verteilungsfrage zu lösen? Wie auch immer diese Fragen von Strache letztlich beantwortet werden, im Falle eines Scheiterns fürchte ich, dass nicht mehr viele nach ihm die Chance bekommen werden, sich zu beweisen und die parlamentarischen Parteiendemokratie, wie wir sie seit 1945 kennen, tatsächlich zu kippen beginnt. Das zwingt uns dazu, zu überlegen, was das in der Konsequenz bedeuten kann. Hier ist die Rede von Revolution, von möglicher Gewalt, von bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der Staat sendet schon jetzt fatale Signale der Selbstaufgabe aus, die tief am Grundvertrauen der Menschen in die staatliche Ordnungskraft rütteln. Ein konkretes Beispiel dazu: Wenn ganze fünf Polizisten hunderten Flüchtlingen in der Steiermark gegenüberstehen und von diesen einfach niedergerannt werden, dann sind das Bilder, die in den Leuten etwas auslösen und in Gang setzen. Setzt sich der Eindruck einmal fest, dass der Staat nicht mehr in der Lage ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, dann werden die Leute damit beginnen, ihre Sicherheit und ihren Schutz selbst zu organisieren und zu verteidigen. Willkürlich. Dann herrscht statt Recht und Ordnung wieder das Faustrecht und das Recht des Stärkeren. Nicht umsonst steigen die Waffenverkäufe massiv an, decken sich die Leute mit Pfeffersprays ein und bauen ihre Wohnungen und Häuser zu Hochsicherheitsanlagen um. Und wer sich entscheidet eine Waffe zuzulegen, der entscheidet sich zugleich dafür, sie im Falle des Falles auch einzusetzen. Ansonsten kauft er sie ja erst gar nicht!
Stefan Petzner

© Raphael Moser

Muamer Bećirović
Du bist also tatsächlich der Auffassung, dass es zu Gewalt kommen wird? Bedeutet das, dass es nochmals zu systematischen Angriffen auf Minderheiten kommen kann? Glaubst du, dass Österreich zum Opfer des Gewaltpegels – samt den ganzen ausufernden sozialen Medien, Hassbotschaften oder gar Hetze – wird, den du gerade erwähnt hast?
Stefan Petzner
Wer sagt, dass so etwas nicht mehr möglich ist, der hat einfach nicht gelernt. Es ist jederzeit wieder möglich. Wir steuern gerade mit riesigen Schritten dorthin. Es ist in der Tat ein sehr trauriger Befund, aber unsere parlamentarische Parteiendemokratie schafft es derzeit nicht, diese großen Herausforderungen zu meistern. Die Leute trauen ihr das auch immer weniger zu. In Wahrheit sollten wir über eine nötige Weiterentwicklung, neue Formen der Demokratie und demokratischer Partizipation nachdenken. Denn ich will keine Diktatur, keinen autoritären Staat! Ich habe jüngst den Roman »Mein Herz so weiß« von Javier Marías gelesen, in dem es zu einer fiktiven Begegnung zwischen Margaret Thatcher (ehemalige englische Premierministerin, Anm.) und General Franco (ehemaliger Diktator in Spanien) kommt und in deren Zusammenhang sinngemäß folgender Satz fällt: »Demokratische Staatsführer werden vom Volk nie geliebt, Diktatoren zumindest eine Zeit lang.« In diesem Satz steckt so viel, dass es sich lohnt, länger über ihn nachzudenken…
Muamer Bećirović
Käme dafür nicht eine Präsidialdemokratie à la Putin, Erdogan oder Orban in Frage?
Stefan Petzner
Jede diese Formen hat Vorteile und Nachteile, ich will das daher nicht beurteilen. Die Bundespräsidentenwahl wird hier jedenfalls eine Richtungsentscheidung für Österreich sein, die sehr wichtig ist. Wenn Hofer gewählt wird, dann hat Österreich ein deutliches Signal in eine bestimmte Richtung gesetzt.
Muamer Bećirović
Glaubst du, dass den Menschen das bewusst ist?
Stefan Petzner
Viel zu wenig. Ein Bundespräsident, der auch nur mit dem Gedanken spielt, diese Regierung zu entlassen, spielt auch damit, eine gewählte, parlamentarische Regierungsmehrheit, auf die sich die Regierung stützt, zu ignorieren. Denn jede Regierung ist für Gesetzesbeschlüsse letztlich auf demokratische Mehrheiten im Parlament angewiesen, auch eine Minderheitsregierung. Abgesehen davon, dass die jetzige Regierung, von deren Entlassung Hofer spricht, gar keine Minderheitsregierung ist. Nun kann man von dieser rot-schwarzen Regierung halten was man will, aber sie hat nun einmal eine parlamentarische Mehrheit hinter sich, die jeder aufrechte Demokrat zu akzeptieren hat. Eine Regierung abzuwählen ist Sache der Wählerinnen und Wähler im Rahmen von Nationalratswahlen. Es ist nicht Sache des Bundespräsidenten, sie abzusetzen. Zumindest nach meiner Auffassung von Demokratie nicht. Tut ein Bundespräsident das, hat es für mich etwas Staatsstreichartiges an sich. Er könnte diese Entscheidung – im Alleingang und ohne gegenüber irgendjemandem Rechenschaft abzulegen – treffen. Hofer plakatiert zwar, »Das Recht geht vom Volk aus«, seine Entlassungs-Ankündigungen bedeuten aber etwas ganz anderes, nämlich: »Das Recht geht von mir aus!« Denken wir das Szenario der Entlassung dieser Regierung und damit auch das Ignorieren einer demokratischen Parlamentsmehrheit weiter durch: Was, wenn diese demokratische Mehrheit sich das nicht gefallen lässt und die Straße mobilisiert? Just zu einer Zeit zunehmender Gewaltbereitschaft, die ich beschrieben habe, enormer Spannungen innerhalb der Gesellschaft und einer Polarisierung zwischen Links und Rechts. Man kommt gar nicht um das Gedankenbild von Straßenschlachten auf dem Ballhausplatz herum. Wollen wir das? Diese Frage muss man Hofer stellen. Denn seine bisherigen Äußerungen bergen tatsächlich ein großes Risiko in sich. Es ist immer leicht etwas zu sagen, man muss es aber auch zu Ende denken. Es ist im Wissen um den Verdruss über die aktuelle Bundesregierung billig zu sagen, die Regierung ist zu entlassen. Hofer macht ja nichts anderes als mit der Stimmung gegen die Regierung Stimmen in seinem Wahlkampf zu machen. Doch wenn es so weit ist: Welche Auswirkungen wird es haben, wenn er seine Worte in die Tat umsetzt?
Hofer plakatiert zwar, »Das Recht geht vom Volk aus«, seine Entlassungs-Ankündigungen bedeuten aber etwas ganz anderes, nämlich: »Das Recht geht von mir aus!«Stefan Petzner über Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer
Muamer Bećirović
Erst vor kurzem haben Rot und Schwarz ein neues, unglaublich strenges Asylgesetz verabschiedet. Es ist ein Gesetz, wie die FPÖ es buchstäblich haben wollte. Jetzt hat Rot-Schwarz es umgesetzt. Hat die Regierung damit nicht das getan, was die Leute wollten? Das Problem scheint zumindest auf kurze Sicht geregelt zu sein.
Stefan Petzner
Der Asylkurs der Regierung ist richtig. Selbiges gilt auch für den Kursschwenk der Regierung in der Flüchtlingsfrage. Zu sagen, dass die SPÖ wegen diesem Kursschwenk bei der Bundespräsidentenwahl verloren hat, halte ich für völligen Blödsinn. Hätten weder Rot noch Schwarz den Schwenk vollzogen, verlieren sie nur noch mehr.
Muamer Bećirović
Beide haben aber auch nichts dazugewonnen, obwohl das Gesetz, das verabschiedet wurde, an Maßnahmenergreifung nicht zu unterbieten ist. Woher kommt also diese Aggressivität?
Stefan Petzner
Sie gewinnen nichts dazu, weil das, was auf dem Papier beschlossen wurde, erst einmal draußen ankommen und spürbar, sichtbar werden muss. Darin liegt die Ursache. Wenn die Leute auf die Straße gehen und in die Zeitung schauen, merken sie nichts von diesem Schwenk in der Asyl-Politik. Stattdessen liest man in der Zeitung von Vergewaltigungen am Praterstern, einem Kenianer, der eine 53-jährige Frau erschlägt und sieht Fotos vom Einsatz eines Panzerwagens am Brunnenmarkt. Solche Bilder und Berichte prägen sich hundert mal mehr ein, als irgendeine Presskonferenz eines Innenministers, in der er Gesetzesverschärfungen ankündigt. Es wird sich für Rot und Schwarz in der Wählergunst erst dann wieder etwas ändern, wenn die Leute das Ankommen ihrer Maßnahmen auch im Alltag sehen und spüren. Sofern diese Maßnahmen für ein Ankommen überhaupt ausreichen. Das passiert derzeit nicht, sondern nur das Umgekehrte. Tatsächlich nehmen die Probleme sogar massiv zu. Rot und Schwarz haben diese Probleme zu lange ignoriert und noch dazu die Themenfelder Ausländer und Asyl seit über 30 Jahren der FPÖ überlassen. Jetzt müssen sie zugeben, dass das alles ein Fehler war. Dass solch ein Eingeständnis der FPÖ hilft, ist klar. Immerhin haben Rot und Schwarz das Problem aber erkannt und versuchen nun zu korrigieren. Was hätten sie auch anderes tun sollen? Die Fehler erkennen, sie aber fortsetzen, nur um ja nicht der FPÖ in die Hände zu spielen? Das wäre doch reinster Irrsinn! Insofern eignet sich dieses oberschlaue »Schmied-Schmiedl«-Geschwafel mancher zwar für politische Schachbrettspiele, mit politischen Realitäten und Notwendigkeiten hat es aber nichts zu tun.
Muamer Bećirović
Deutschland hat so viele offene Arbeitsplätze, wie Österreich an Arbeitslosen hat. Trotz allem erstarkt dort eine AfD, die es schafft, mit Nichtstun, ohne charismatischer Führungsperson an der Spitze und mit ständigen Streitereien die SPD ohne weiteres zu überholen.
Stefan Petzner
Warum das so ist? Es ist dasselbe Spiel wie in Österreich, diesselbe Misere mit den etablierten Parteien. Auch in Deutschland ist die entscheidende Frage die Verteilungsfrage. In Wahrheit wäre das ein idealer Zeitpunkt und DIE Gelegenheit für linke Politik, nur von Links kommt nichts. Faymann redete seit 2008 von fairer Verteilung des Wohlstandes, nur passiert ist nichts, außer, dass wir über 500.000 Arbeitslose haben!
Muamer Bećirović
Man muss ihm aber zugestehen, dass dieses Problem bis zu einem gewissen Grad nicht in seinem Machtbereich lag. Wenn man den Wohlhabenden sagt, dass sie mehr hergeben müssten, dann sind diese am nächsten Tag einfach weg.
Stefan Petzner
Es liegt einfach nicht in seiner Macht, obwohl wir einen Umbruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der Verteilung brauchen. Damit kommen wir an den Ausgangspunkt zurück: Trauen wir unserer derzeitigen parlamentarischen Demokratie diesen Umbruch überhaupt noch zu? Ich wünschte es mir! Denn wenn nicht, dann werden sich die Massen erheben und den Umbruch erzwingen. Man kann es sich nun aussuchen: Entweder man lässt diesen Umbruch geordnet stattfinden oder nicht. Derzeit deutet alles auf einen ungeordneten Umbruch hin. Aufhalten kann man ihn nicht. Der Umbruch wird kommen.
Muamer Bećirović
Wie lang werden wir deiner Meinung nach auf diesen Umbruch warten?
Stefan Petzner
Zehn, fünfzehn Jahre, maximal. Für uns Junge sind das spannende Zeiten. Lustig wird es aber nicht.
Muamer Bećirović
Bedeutet das, dass die Menschen nicht bereit sind, solidarisch zu sein?
Stefan Petzner
Jeder ist bereit zu geben, sofern er selbst genug hat. Wenn die Leute aber zu wenig haben, dann können sie auch nichts hergeben. Und wir haben immer mehr Leute, die zu wenig haben.
Muamer Bećirović
Ohne jetzt abschätzig klingen zu wollen: Die Menschen in Österreich haben genug zu Essen und Trinken. Sie haben ein Dach über dem Kopf. Da kann ich die Sorge teilweise gar nicht nachvollziehen. Ich selbst komme aus einem Land, in dem man sich glücklich schätzen kann, wenn man hin und wieder ein Stückchen Fleisch auf den Teller bekam.
Stefan Petzner
Du hast Recht. Die Kriegsgeneration, die tatsächlich nichts hatte und bei Null beginnn musste, stirbt dieser Tage aber aus. Die jungen Leute von heute wurden ja alle im Wohlstand geboren. Die kennen nichts anderes. Die wissen nicht, wie es ist, nichts zu haben – in den reichen Industriestaaten zumindest. Seit 1945 kannte die Wohlstandsentwicklung im Westen ja nur eine Richtung, steil nach oben. Für viele der heutigen Generationen – meine und deine inklusive – ist es daher etwas völlig Neues, dass es auch bergab gehen kann. Sich an Wohlstand zu gewöhnen, ist verdammt einfach, etwas von seinem erworbenen Wohlstand aber wieder abzugeben, um so schwieriger. Und gerade diese Generationen sind auch nicht bereit, das so mir nix dir nix hinzunehmen.
Muamer Bećirović
Ich sehe die Jungen aber nicht nach einem Systemwechsel schreien, sondern nur die Älteren.
Stefan Petzner
Weil es sich mit der Unterstützung und der Aufbietung aller finanziellen Kräfte von Mama, Papa, Oma und Opa gerade noch ausgeht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Schau dir aber einmal die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien oder dergleichen an, die Einkommensverhältnisse junger Leute, die Schuldensituation der privaten Haushalte. Irgendwann sind alle Sparschweine geschlachtet, die Reserven aufgebraucht, dann heißt es: Warm anziehen! Wer keinen Job hat, keine Perspektive, kein Geld um Haushalt und Familie zu gründen, keine Aussicht auf eine Zukunft, der wartet lange, der hofft lange, aber wenn sich nichts ändert, revoltiert er irgendwann. Die Geschichte ist voll mit solchen Beispielen. Ein Blick auf den europäischen Konflikt mit dem Islam und die damit verbundene Rhetorik beweist doch, wo wir gerade stehen.
Muamer Bećirović
Würdest du mir als Muslim raten, auszuwandern?
Stefan Petzner
Manche Christen fragen sich das umgekehrt doch auch, wenn sie an euch denken. (Lacht) Im Ernst: Wenn man sich den wachsenden Hass, die gegenseitige Abneigung, ja geradezu Abscheu und Feindschaft zwischen den Religionen ansieht, muss man doch zum Schluss kommen, das die Zugehörigkeit zur »falschen« Religion wieder lebensgefährlich werden kann. Und damit meine ich jetzt nicht nur die Gefahr, die von islamistischen Terroristen ausgeht. Jeder der etwas anderes sagt ist doch ein Illusionist.
Stefan Petzner

© Raphael Moser

Muamer Bećirović
Bist du in dieser Hinsicht nicht etwas zu pessimistisch? Es liegen doch Welten zwischen den Hasskommentaren im Internet und tatsächlicher, körperlicher Gewalt.
Stefan Petzner
Ich wiederhole es nochmals: Man unterschätzt das Ganze. Der Sprung von sprachlicher Gewalt zu körperlicher Gewalt ist kein großer. Die Geschichte lehrt uns ja, wie schnell es dazu kommen kann. Schaue dir doch die Zeit von 1933 bis 1945 an: Da gab es zuerst die sprachliche Gewalt, die Hitler in »Mein Kampf« schon im Jahr 1925 angewendet hat. Die Optimisten sind geblieben, weil sie gemeint haben, dass die Gewalt in diesem Buch niemals zu tatsächlicher körperlicher Gewalt gegen Menschen führen wird und die Ankündigungen in diesem Buch niemals in die Realität umgesetzt werden. Als sich dann Stück für Stück abgezeichnet hat, dass es doch Realität wird, die ersten Repressalien begannen, der Reichstag brannte, die Rassen-Gesetze eingeführt wurden, gab es noch immer genügend Optimisten, die gesagt haben: »Das wird wieder vorüber gehen. Es wird nicht so schlimm werden. Noch weiter wird Hitler nicht gehen.« Ein Großteil von ihnen hat ihren Optimismus, ihre Gutgläubigkeit mit dem Leben bezahlt, denn wie wir heute wissen ist Hitler bis zum Äußersten gegangen. Die Pessimisten, die frühzeitig geflohen und ausgereist sind, als das noch möglich war, haben überlebt. Das zeigt, wie kurz dieser Sprung ist, wie schnell es gehen kann.
Muamer Bećirović
Sind deine Ansichten nicht dennoch zu pessimistisch?
Stefan Petzner
Die Demokratie braucht wachsame Pessimisten. Ich bin lieber ein Pessimist, der eines Besseren belehrt wird, als ein Optimist, der sich geirrt hat. Man muss meinen Pessimismus ja nicht teilen, ich bitte nur um eines, gerade die jungen Leute: Seid wachsam! Seid wachsam!
Muamer Bećirović
Woher stammen deine Gedanken? Sind sie das Resultat deiner politischen Erfahrungen, die du mit Haider machen durftest?
Stefan Petzner
Aus Erfahrung, Zuhören und viel, viel Beobachtung. Man unterschätzt, wie leicht Menschen sich steuern und lenken lassen. Das einzig wirksame Gegengift ist Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Wenn ich dann aber mitbekomme, wie es mit der Bildung unserer jungen Leute aussieht, wird mir schlecht. Da werden Massen an Jugendlichen heran gezüchtet, die nicht einmal mehr richtig lesen, schreiben und rechnen können! Da wächst eine lenkbare Masse heran, soziale Outlaws, die leichte Opfer für Demagogen sind. Reformblockierer im Bildungsbereich sind daher für mich Verbrecher an der Zukunft, unseres Landes und vergehen sich an Demokratie und Freiheit! Es heißt nicht umsonst: „Sprach der König zum Priester: Halte du sie dumm, ich halte sie arm!‘“