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Gespräch N° 4 | Kabinett

Othmar Karas

„Der Feind sitzt nicht mehr unter uns“

Othmar Karas, ÖVP-Politiker und ehemaliger Vizepräsident des Europäischen Parlaments, erklärt im Gespräch, warum die Türkei derzeit nicht EU-Mitglied werden kann, weshalb Ratingagenturen unschuldig sind und wie die militärische Zukunft der europäischen Union aussehen kann.

Hinweis: Dieses Gespräch wurde zum angegebenen Datum ursprünglich auf muamerbecirovic.com veröffentlicht und auf Kopf um Krone übernommen.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 6. Juli 2015, fotografiert hat Dersim Cakmak.
Muamer Bećirović
Herr Karas, beginnen wir unser Gespräch mit der Geschichte des Euro: Viele Indizien besagen, dass der Euro nur deshalb eingeführt wurde, um die deutsch-französischen Spannungen beiseite zu schaffen. Der damalige Staatspräsident Francois Mitterand hatte nämlich große Angst vor einem erneut sehr mächtigen Deutschland, sollte sich der Westen mit dem Osten Deutschlands wiedervereinen. Die Franzosen boten den Deutschen die Wiedervereinigung an, als Gegenleistung verlangten sie aber eine gemeinsame währungspolitische Verkettung ineinander – den Euro. Demnach wurde der Euro also nur eingeführt, um die Deutschen in Zaum zu halten. Zwar gibt es offiziell kein einziges Dokument, das dies belegen könnte, es gibt aber Minister, die das miterlebt haben und in einem Gespräch unter vier Augen bestätigt haben. Ist die Geburt des Euro unter dieser Bedingung nicht ein Fehler gewesen?
Othmar Karas
Auf gar keinen Fall. Der Euro war immer schon als ein politisches Projekt gewollt, weil man mit dem Euro eine europäische Identität schaffen wollte. Der Euro ist außerdem für einen erfolgreichen Binnenmarkt unerlässlich. Man wollte mit der Einführung die europäische Integration für unumkehrbar erklären, weil eine gemeinsame Währung automatisch eine gemeinsame Wirtschafts-, Budget-, Steuer- und Sozialpolitik benötigt. Man wusste, dass man mit dem Euro daher eine längst notwendige Entwicklung einleitet. Ich glaube nicht, dass man das Schaffen des Euros auf die deutsche Wiedervereinigung reduzieren kann, oder etwa auf das deutsch-französische Verhältnis.
Othmar Karas

© Dersim Cakmak

Muamer Bećirović
Der damalige deutsche Kanzler Helmut Kohl hat also zuerst den zweiten Schritt, in diesem Fall die Schaffung einer gemeinsamen Währung, vor dem ersten Schritt, die Schaffung einer gemeinsamen Politik gesetzt und hat damit gerechnet, dass der Euro eines Tages auch eine gemeinsame Politik mit sich bringen würde?
Othmar Karas
Ich bin der Auffassung, dass nicht nur er sich das so gedacht hat. Viele waren dieser Ansicht. Nach der Einigung über Maastricht Vertrag hat der deutsche Altkanzler, Helmut Kohl, am Morgen danach im deutschen Bundestag eine Erklärung über die jeweiligen Beschlüsse abgegeben, in der er im Detail erklärt hat, was genau warum und wie passiert. Er hat genau von dieser Unumkehrbarkeit der europäischen Integration gesprochen. Es war aber zweifelsohne ein Fehler, dass der Zeitplan für die nächsten Schritte nicht genau festgelegt wurde: Eigentlich hat man mehr gewollt, als man dann getan hat. In den Maastricht-Verträgen hieß es, dass die Grundsätze der politischen Union bis zur dritten Stufe der Einführung der Währungsunion festgeschrieben sein müssen. Leider kam der politische Wille, um Schritte zu setzen, die man schon mit der Einführung der Währungsunion hätte setzen müssen, erst nach der größten Finanz- und Wirtschaftskrise unserer Zeit.
Muamer Bećirović
Sprechen wir über den Euro heute: Erst vor kurzem hat der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, angekündigt, Milliarden von Euro in den Geldmarkt zu pumpen. Somit kauft er den Regierungen Zeit, um Reformen anzugehen, diese scheinen sie aber nicht unbedingt zu nutzen. Ist der Zahltag nicht nahe, Herr Karas?
Othmar Karas
Das sind Fragen, die eine differenziertere Antwort erfordern. Sie wollen eine plakative Antwort, aber die Welt ist nicht schwarz-weiß. Es ist ein politischer Prozess, und dieser Prozess hat auf der einen Seite ein klares Ziel, und zwar die gemeinsame Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die sich zu einer politischen Union weiterentwickeln muss. Auf der anderen Seite gibt es politische Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit man dieses Ziel auch konsequent umsetzen kann. Das klafft etwas auseinander. Wir sind uns einig, dass die europäische Union noch nicht fertig ist, aber eines steht wohl außer Streit: Dass sich sehr viel zum Guten gewendet hat und auch sehr viel in Bewegung ist. Diese vereinfachten Phrasen kann ich nicht teilen. Wir hatten 2008 die größte Wirtschafts- und Finanzkrise, wie sie zuvor noch nie jemand gesehen hat, und dennoch ist die Europäische Union nicht zerfallen. Wir haben sie sehr gut überwunden, wir haben sie aber noch nicht auskurieren lassen. Wir hatten mehrere Mitgliedstaaten, die bankrott waren. Wenn man bankrott ist, dann kann man seine Allgemeinwohltätigkeiten nicht erfüllen. Wenn man Bildung, Soziales, Gesundheit, Sicherheit und Pensionen nicht gewährleisten kann, dann kommt es in diesem Land im Regelfall zu einem Chaos. Im vergangenen Jahr konnten wir zum ersten Mal seit Überwindung der Krise in allen Mitgliedstaaten der EU eine positive Budgetentwicklung verzeichnen. Wir haben die Arbeitslosigkeit reduziert und viele Maßnahmen zur Finanzmarktregulierung und Budget- und Wirtschaftskoordinierung entwickelt und teilweise beschlossen. Das heißt, wir stehen heute als Gemeinschaft stärker da, als wir das noch im Jahre 2008 taten. Dieser Weg muss im Dreiklang fortgesetzt werden: Budgetkoordinierung, Strukturreformen und Investitionen. Ergänzt durch die nächsten politischen Integrationsschritte in der EU.
Othmar Karas

© Dersim Cakmak

Muamer Bećirović
Hatten Sie jemals Angst um Europa?
Othmar Karas
Ich hatte überhaupt keine Angst. Angst muss man vor den Nationalismen, vor der Unaufrichtigkeit und vor mangelndem politischen Willen haben. Denn diese führen zu Extremen und zu einem Vertrauensverlust. Solange man bereit ist, die Gemeinschaft zu stärken, anstatt in den Nationalismus zu flüchten, habe ich keine Angst um Europa.
Muamer Bećirović
Sprechen wir nun über die Zukunft, Herr Karas: Ende des 19. Jahrhunderts hat Europa ein Viertel der Weltbevölkerung ausgemacht. Ende des 21. Jahrhunderts werden das nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung sein. Vor 60 Jahren lag die Wertschöpfung Europas des weltweiten Bruttoinlandsprodukts bei etwa 30 Prozent, Mitte des 21. Jahrhunderts werden es nur noch 11 Prozent sein. Fazit: Europa schrumpft und überaltert. Von den zehn größten und wichtigsten technischen Unternehmen der Welt kommt nicht einmal ein einziges aus Europa. Alte Leute erfinden keine neuen technischen Innovationen, das machen junge Leute, die uns fehlen. Herr Karas, verfällt Europa über die nächsten Jahre der Bedeutungslosigkeit? Diesen Entwicklungen zufolge hat auch Ihre Partei keine andere Wahl, als den Jungen mehr Gewicht zu geben.
Othmar Karas
Sie verwenden die Zahlen, die ich bei jedem Referat verwende. Die Antwort kann ja nur bedeuten: Die Vereinigung der Staaten Europas. Die EU muss endlich zum Sprecher des Kontinents in der Welt werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Europa ein Global Player bleibt. Die Rahmenbedingungen werden schwächer, daher müssen wir besser zusammenarbeiten, um die EU weiterentwickeln. Die EU wurde gegründet als Antwort auf die Weltkriege, sie hat sich weiterzuentwickeln zur Antwort auf den Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer und auf die Überwindung der Zweiteilung Europas. Nun muss sie sich zur Antwort auf die Globalisierung weiterentwickeln. Es liegt ausschließlich an uns selbst. Es liegt nicht an den Daten, es liegt nicht an den globalen Rahmenbedingungen. Es liegt an uns selbst. Wir haben alle Möglichkeiten, obwohl wir quantitativ kleiner werden. Wir wollen politisch, ökonomisch, sozial, humanitär, ökologisch ein Global Player sein und daher trete ich so massiv für eine öffentliche Debatte über die Zukunft Europas ein. Für den nächsten Integrationsschritt, für einen neuen Konvent und für die Zukunft Europas. Ich bin froh, dass die Europäische Kommission durch eine gemeinsame Sicherheits-, Außen-, Verteidigungs- und Asyl-Migrationspolitik hier Schritte setzt, die klar machen, in welche Richtung Europa sich weiterentwickeln wird.
Muamer Bećirović
Zurück zu meiner Frage: Wie sieht es eigentlich mit der Beteiligung der Jungen in der europäischen Union aus? Wenn wir uns ehrlich sind, dann wurden die Jungen in der EU sehr wenig mit politischer Verantwortung betraut.
Othmar Karas
Die Personalauswahl im Europaparlament und in den EU-Institutionen hat sich in den letzten Jahren radikal verändert. Nun kommt es nicht mehr auf das Alter an, sondern auf Kompetenz und Möglichkeiten. Daher würde ich empfehlen, den Geist der Menschen, ihre Einstellung und Fähigkeiten zu beurteilen und nicht weiterhin aufgrund ihres Lebensalters zu diskriminieren. Ich kenne manche Alte, die jünger sind als manche Junge und ich kenne wiederum Junge, die sehr saturiert sind. Faktum ist, dass wir die Jugend im politischen Prozess brauchen. Es ist ein Aberglaube, dass man nur Sachen beeinflussen kann, wenn man ein politisches Mandat hat. Daher trete ich so massiv dafür ein, dass jede Schule eine Bildungseinrichtung außerhalb Österreichs als Partner hat und dass jeder Schüler bis zum Schulabschluss alle EU-Institutionen kennengelernt hat. In diese Bereiche muss investiert werden, hier darf es zu keinen Kürzungen kommen. Wir müssen das Ziel haben, dass Europa bildungs- und forschungspolitisch zur Nummer Eins in der Welt wird und Österreich zur Nummer Eins in Europa.
Muamer Bećirović
Wieso haben wir eigentlich keine eigenen europäischen Ratingagenturen? Es gibt drei amerikanische Ratingagenturen, die ganze Nationalstaaten abwerten, obwohl einige dieser Nationalstaaten erhebliche Anstrengungen hervorbringen, um ihren Staatshaushalt zu konsolidieren. Diese Agenturen sind durch nichts demokratisch legitimiert, fungieren in ihrem eigenen Regelkreis und geben dennoch den Ton an. Sie bewerten nicht nur Nationalstaaten, sondern einzelne Produkte, ob sie nun existent sind oder nicht.
Othmar Karas

© Dersim Cakmak

Othmar Karas
Erstens ist eine Ratingagentur ein Wirtschaftsunternehmen und kein Staatsunternehmen. Ich bin dagegen, dass die öffentliche Hand Ratingagenturen schafft. Diese Frage höre ich jeden Tag, und immer schwingt hintergründig eine Antwort mit: »Wenn wir eine europäische Ratingagentur hätten, dann hätten wir bei den Ratings kein Problem.« Das halte ich für falsch. Der Ansatz »wenn wir es selbst machen, dann ist alles gut, aber wenn es wer anderer für uns macht, dann sind wir schlecht« entspricht nicht der Realität. Es ist Europa und jedem Unternehmen unbenommen, eine Ratingagentur zu gründen. Es wurden vom Europaparlament, von mir selbst und von Seiten österreichischer Unternehmen viele Rahmenbedingungen gesetzt, welche die Gründung einer Ratingagentur erleichtern. Es gibt derzeit vier große Ratingagenturen auf der Welt. Ich bin dagegen, dass ein Staat eine Ratingagentur schafft, um sich selbst zu retten. Nein, man muss die Tätigkeiten der Ratingagenturen regeln und das haben wir als Gesetzgeber der EU in den letzten Jahren getan. Bisher waren die nationalen Aufsichten dafür verantwortlich, jetzt ist es die europäische Union: Wir haben die Unvereinbarkeit von Beratung und Rating geschafft. Wir haben Termine festgelegt, wann »geratet« werden darf. Wir haben die den Ratings zugrunde liegenden Rahmenbedingungen verändert. Wir haben die Politik gestärkt. Seitdem klar ist, dass sich die Politik um die politischen Rahmenbedingungen kümmert, gibt es mit Ratingagenturen auch keine Probleme mehr. Früher war das anders: Solange die Ratingagenturen gut bewertet haben, hat niemand etwas gesagt. Ab dem Zeitpunkt aber, als die Ratingagenturen – im Regelfall auch zu Recht – schlechte Bewertungen abgegeben haben, gab es großen Aufruhr. Die einfache Feststellung aber ist, dass Ratingagenturen nicht schuld am finanzpolitischen Versagen mancher Länder sind. Ich bin klar gegen diese einseitige Schuldzuweisung.
Muamer Bećirović
Kommen wir zu einem etwas emotionaler geprägten Thema, und zwar zum EU-Beitritt der Türkei. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder schreibt in seinem Buch, dass der türkische Beitritt sowohl sicherheits- als auch wirtschaftspolitisch Sinn machen würde. Wieso ist die Türkei also nicht dabei? Viele Türken werfen der EU vor, die Türkei nicht als Mitgliedsstaat aufnehmen zu wollen, weil sie ein mehrheitlich muslimisch geprägtes Land ist.
Othmar Karas
Die Entscheidung, ob der Türkei-Beitritt Sinn machen würde, fiel bereits vor Jahren. Wenn diese Entscheidung nicht gefallen wäre, dann hätte es auch keine Beitrittsverhandlungen geben dürfen. Wirtschaftlich ist der türkische Raum heute schon sozusagen EU-Mitglied, es gibt aber nicht so etwas wie eine sektorspezifische Mitgliedschaft. Und selbst wenn es wirtschaftspolitisch und sicherheitspolitisch Sinn macht: Demokratiepolitisch macht es keinen Sinn. Die EU ist nun einmal eine Rechts- und Wertegemeinschaft, und das Wichtigste in der Politik ist die Aufrichtigkeit. Diejenigen, die beitreten wollen, haben sich an die europäischen Normen und Regeln zu halten. Nicht die EU hat sich dem Beitrittskandidaten anzupassen, sondern der Beitrittskandidat der EU, weil er ja freiwillig beitreten will. Da hat sich in den letzten Jahren vieles verändert: Die Entwicklung in der Türkei ist eher eine Entfernung voneinander als ein Miteinander. Wer das EU-Recht und die EU-Werte nicht einhalten kann, wird nie Mitglied werden, deshalb wurden die Verhandlungen auch unterbrochen. Wer die Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit und (jegliche) demokratischen Eckpfeiler nicht respektiert, erfüllt weder das europäische Recht noch europäische Werte. Herr Erdogan hat mir vor Jahren, als er noch Premier war, einmal gesagt, sollte der Reformprozess in der Türkei so konsequent weitergehen, – und ja, da ist sehr viel geschehen! – dann würde er zehn bis 15 Jahre benötigen, die Voraussetzungen für den Beitritt zu erfüllen. Jetzt hat sich dieser Reformprozess innerhalb der Türkei allerdings verlangsamt. Es kommt innerhalb der Türkei zu großen Spannungen, die den dortigen Demokratieprozess prägen.
Muamer Bećirović
Was viele EU-Kritiker kritisieren, ist die Anzahl der EU-Kommissare. Weil kein »Regierungschef«, wie Juncker es ist, kann 28 »Minister”, in diesem Fall Kommissare, kontrollieren. Es ist schon schwierig, wenn man als Regierungschef 14 Minister anzuleiten hat.
Othmar Karas
Lassen wir doch die Kirche im Dorf. Erstens hat Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident die Kommission de facto dreigeteilt: Wir haben Minister, also die Vizepräsidenten, sowie Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre. Juncker hat eine neue Struktur geschaffen, um die Kommission politischer und handlungsfähiger zu machen. Es gibt jetzt Projektgruppen, denen ein Vizepräsident der Kommission vorsteht. Zweitens hat der europäische Konvent eine Reduzierung der Kommission beschlossen. Die Mitgliedsstaaten, inklusive Österreich, haben das abgelehnt, weil sie fälschlicherweise ihrer Bevölkerung einreden, der EU-Kommissar wäre ein Vertreter des Staates. Das ist er nicht. Er ist dem EU-Parlament und dem Kommissionspräsidenten verpflichtet und hat sich an EU-Recht zu halten. Die einzelnen Nationalstaaten haben sich das Recht ausbedungen, dass sie vor jeder Neubestellung der Kommission beschließen dürfen, dass aus jedem Land ein Kommissar kommt. Das haben sie diesmal auch gemacht. Es gibt außerdem mehrere Regierungen, die ähnlich viele Kommissare haben, wenngleich nicht alle im Ministerrang sind. In Deutschland haben sie beispielsweise parlamentarische Staatssekretäre und politische Staatssekretäre. Es geht um die Struktur, nicht um die Anzahl. Ich bin aber auch der Auffassung, dass es hier eine Veränderung geben muss. Das heißt nicht, dass in der EU-Regierung jedes Land vertreten sein muss. Bei uns in Österreich stellt schließlich auch nicht jedes Bundesland ein Regierungsmitglied. Ich bin für eine Stärkung der Kommission als Regierung. Man hat einen wesentlichen Schritt nach vorne gesetzt, indem man bei der Europawahl indirekt einen Kommissionspräsident nominiert hat und nicht mehr die Staats- und Regierungschefs der einzelnen Nationalstaaten.
Muamer Bećirović
Wie sieht die zukünftige Rolle Österreichs in der EU aus?
Othmar Karas
Wenn wir unsere Exportabhängigkeit ansehen, dann müssen wir uns als Motor der weiteren europäischen Integration sehen und verstehen. Wir benötigen eine Verteidigungsunion, also eine gemeinsame Armee, damit wir effizienter und sparsamer mit unseren Ressourcen umgehen können. Es geht um die Rolle Europas nach außen, denn der Feind sitzt nicht mehr unter uns. Österreich ist Mitglied der Battle Groups und hat sich immer zur Verteidigungsunion bekannt. Österreich ist auch Mitglied der Partnerschaft für Frieden in der NATO. Österreich ist aktiv in diesen Prozess involviert. Österreich kann die verschiedenen Bedrohungsfelder als Land aber nicht alleine bewältigen. Daher wird Österreich an dem Aufbau einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aktiv teilnehmen und bei der Umsetzung dieser auf den völkerrechtlichen Status Rücksicht nehmen. Es wäre ein Fehler, die Neutralität gegen eine Stärkung der EU einzusetzen, denn die Neutralität Österreichs ist mit der Gemeinschaft der EU vereinbar.
Othmar Karas

© Dersim Cakmak

Muamer Bećirović
Was sich viele gefragt haben: Wollen Sie für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren?
Othmar Karas
(lacht) Das hat mit der EU nichts zu tun, die Bundespräsidentschaftswahlen sind nächstes Jahr und man sollte eigentlich mehr darüber diskutieren, was ein Bundespräsident in Zukunft zu leisten hat und nicht darüber, wer nun wen ins Rennen schickt.
Muamer Bećirović
Eine letzte Frage: Ich habe mir Ihre Biographie angesehen, wie ich es bei jedem meiner Gesprächspartner mache. Bei Ihnen fiel mir auf, dass Sie von Ihrer eigenen Partei nicht gerade hofiert worden sind. Ist die ÖVP wie eine böse Geliebte zu Ihnen gewesen?
Othmar Karas
Ich habe viel erlebt, auch sehr viele Enttäuschungen. Ich habe unter Politik immer mehr verstanden als bloße Parteipolitik. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir uns alle als Instrumente der Demokratie verstehen und nicht die Partei als Selbstzweck. Leider geht unser System den bequemeren, den ruhigeren Weg. Ich habe bei politischen Entscheidungen immer zuerst überlegt, was ich für richtig oder falsch halte und nicht, was ich für opportun halte. Deshalb kam es öfters zu Spannungen. Da ging es nicht um Loyalität oder Illoyalität, da ging es um Überzeugungen. Demokratie braucht den Diskurs und Parteien brauchen den Dialog. Wir müssen so offen sein, verschiedene Meinungen auszuhalten und, noch besser: gemeinsam Lösungen zu finden. Politische Parteien haben immer öfter ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit, da unterschiedliche Meinungen viel zu sehr parteipolitisiert und stark personalisiert werden, statt sich inhaltlichen Schwerpunkten zu widmen. Ich habe gelernt, dass ein anderer Mensch genauso Recht haben kann, wie ich selbst, und dass eine andere Meinung nicht deshalb falsch ist, weil sie nicht von mir kommt. Diese Überzeugung wird mich weiter prägen, und ich werde mich bis zum Ende meiner Tage weder von Karrieren noch von sonst etwas korrumpieren lassen.

Für Othmar Karas (57) begann die politische Laufbahn in der VP-nahen Union Höherer Schüler (UHS). 1981 bis 1990 war er Bundesobmann der Jungen ÖVP und von 1995 bis 1999 Generalsekretär der ÖVP. 1983 zog er für die ÖVP in den Nationalrat, wo er 1985 als damals jüngster Nationalratsabgeordneter den ersten Antrag auf EU-Mitgliedschaft im österreichischen Nationalrat stellte. Seit 1999 ist er Abgeordneter des Europäischen Parlaments, dessen Vizepräsident er von 2012 bis 2014 war. Seit 1989 ist er Präsident des Österreichischen Hilfswerks.