Wen ruft der ehemalige Vizekanzler und Ex-ÖVP-Chef an, wenn er mit „Europa“ sprechen will? Warum Michael Spindelegger der Meinung ist, dass man in Europa zu Solidarität verpflichtet werden sollte und warum er nichts von den „Vereinigten Staaten von Europa“ hält, erklärt er im Gespräch mit Muamer Bećirović.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 26. Mai 2016, fotografiert hat Julien Pflanzl.
Muamer Bećirović
Herr Spindelegger, sind wir – in Europa – nicht ein wenig scheinheilig, wenn wir einerseits weniger Flüchtlinge wollen und andererseits einen Deal mit der Türkei kritisieren, der die Flüchtlingsströme nach Europa merklich verringern könnte?
Michael Spindelegger
Das kann man immer vorwerfen. Aber meiner Meinung nach sind zwei ganz wesentliche Punkte beachtlich: Zum einen muss sichergestellt werden, dass Migrationswellen kontrollierbar bleiben. Als den europäischen Staaten letztes Jahr die Kontrolle reihenweise abhandengekommen war, wurde die Notwendigkeit von regulierenden Maßnahmen deutlich. Eine unkontrollierte Migration ist weder für die heimische Bevölkerung noch für die, die migrieren, gut. Zum anderen dürfen wir in all dem Trubel jene Prinzipien und Werte nicht vergessen, die uns in Europa so stark und einzigartig gemacht haben. Ganz wichtig ist unter anderem, dass wir die Menschenrechte auch abseits des Papiers in der Praxis leben und hochhalten.
Muamer Bećirović
Haben Sie Verständnis für all jene, die diesen Flüchtlingsdeal mit der Türkei kritisieren? Können Sie nachvollziehen, dass dieselben mit keinem wie Erdogan verhandeln wollen, gleichzeitig aber nach einer Reduktion der Flüchtlingszuströme schreien?
Michael Spindelegger
Ich glaube, dass wir – ungeachtet, wer nun gegenüber sitzt – zunächst stets das Gespräch suchen müssen. Meine Erfahrung als ehemaliger Außenminister hat mich gelehrt, dass man versuchen muss, dem anderen die eigenen Grundsätze zu vermitteln. Wer nicht redet, wird auch nicht ernst genommen. Gerade mit der Türkei haben wir – meines Erachtens – ein neues, interessantes Kapitel der europäischen Migrationsaußenpolitik geschaffen, indem wir damit begonnen haben, uns mit den Transitstaaten an einen Tisch zu setzen, um einen fairen Kompromiss zu finden. Ich finde, dass eine ganz gute Lösung gefunden wurde. Einerseits können wir damit sicherstellen, dass alle Flüchtlinge registriert werden, andererseits schaffen wir durch die Möglichkeit des Rückflusses freie Kapazitäten für Flüchtlinge in Europa. Man kann diesen Schritt durchaus als richtungsgebend betrachten.
Muamer Bećirović
Europa nahm 2015 über 1,2 Millionen Flüchtlinge auf. An der libyschen Küste machen sich bereits zusätzliche 200.000 auf den Weg nach Europa. Die Europäische Kommission schätzt, dass es von 2016 bis 2017 weitere drei Millionen Flüchtlinge nach Europa verschlagen wird. Sind diese großen Menschenbewegungen nicht erst der Anfang des Tanzes mit der Globalisierung?
Michael Spindelegger
Das kann sein. Vor allem in unserer heutigen Zeit der rasanten Kommunikation ist es schwer zu erfassen, welche Ereignisse Menschen letztlich dazu bewegen ihre Heimat zu verlassen. Gerade deshalb glaube ich nicht, dass diese Zahlen zweifelsfrei stimmen. Da gibt es zu viele Unsicherheiten. Jedenfalls wird die Zahl sich an unserer Migrationspolitik in Europa orientieren.
Muamer Bećirović
Aber glauben Sie, dass die europäische Bevölkerung gewillt ist noch weitere Flüchtlingsströme mitzumachen? In Deutschland zeigt sich zum Beispiel mittlerweile, dass – als Zeichen des Protests – immer mehr Deutsche die AfD wählen.
Michael Spindelegger
Es ist sehr wichtig, dass mit dem Befinden der Bevölkerung in einem Aufnahmeland sehr sorgsam umgegangen wird. So heißt es im Leitspruch des „Internationalen Zentrums für die Entwicklung von Migrationspolitik“ (ICMPD), dessen Generaldirektor ich seit 1. Jänner 2016 bin: „Migration is about people“. Es geht bei Migration um Menschen – seien dies nun Flüchtlinge oder die einheimische Bevölkerung in den Zufluchtsländern. Wenn man Migration erfolgreich gestalten will, muss man die Menschen und deren Beweggründe, Wünsche sowie Bedürfnisse verstehen und ernstnehmen. Das heißt, dass es wichtig ist, den Betroffenen vor Ort in den Krisengebieten Möglichkeiten und Perspektiven zu geben, wie auch jenen in den Aufnahmeländern.
© Julien Pflanzl
Muamer Bećirović
Zu Ihrem Antritt als Generaldirektor des „Internationalen Zentrums für die Entwicklung von Migrationspolitik“ (ICMPD) haben Sie unter anderem gemeint, dass die aktuelle Flüchtlingskrise aufgezeigt hätte, dass die Strukturen, Mechanismen und Abläufe, um Menschen auf der Flucht Schutz zu bieten, in Europa nur unzureichend funktionieren würden. Ähnliches haben Sie auch zum Grenzschutz gesagt. Inwieweit – glauben Sie – wird die Europäische Union durch diese Entwicklung verändert?
Michael Spindelegger
Ich sehe, dass wir vor einer der großen Herausforderungen unserer, aber auch zukünftiger Generationen stehen. Wer heute nicht damit beginnt, an einem, für die nächsten Jahre funktionierendes Migrationsregime zu arbeiten, der gefährdet die Europäische Union und den Glauben der Menschen an die europäische Integration. Migrationspolitik ist ein sehr sensibler Bereich. Es ist aber notwendig – dort, wo es wichtig ist – neue, bessere Wege zu beschreiten. Wie ist der Rechtsrahmen in Zukunft zu gestalten? Wo beginnt ein solches Verfahren? Beginnt es wirklich erst, wenn ich meinen Fuß auf europäisches Territorium setze, oder schon davor? All das sind Fragen, die uns auf diesen Wegen begleiten werden. Ohne diese wird es nicht gehen.
Muamer Bećirović
Wird es eine Art „Kerneuropa“ geben, das in dieser Hinsicht die Richtung vorgibt?
Michael Spindelegger
Früher hat man diese Ansicht vielfach vertreten. Als ich begonnen habe, politisch aktiv zu werden, war ein „Kerneuropa“ deutlich zu erkennen. Doch haben wir heute noch ein „Kerneuropa“? In mancher Hinsicht sicherlich durchaus. Im Großen und Ganzen aber gibt es 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union, die alle völlig gleichberechtigt sind.
Muamer Bećirović
Stört es die Europäer eigentlich nicht, dass sie die Konsequenzen der Außenpolitik anderer ausbaden müssen, die sie selbst nicht verschuldet haben?
Michael Spindelegger
Es schmerzt, keine Frage. Auf der anderen Seite sieht man, wie sich in solchen Krisensituationen der Blick immer nach Europa wendet. Warum blickt kaum einer nach Asien, Südafrika oder gar zu den USA? Europa bietet Möglichkeiten und Chancen auf ein gutes Leben. Wir haben in Europa Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ganz groß auf unserer Visitenkarte stehen. Und das ist für mich das schönste Kompliment, das man bekommen kann.
Muamer Bećirović
Als sie noch Außenminister waren, gab es nicht wenige Amtskollegen in Europa, die meinten, dass es nervig sei, Dinge ausbaden zu müssen, für die Europa nichts kann.
Michael Spindelegger
Durchaus gibt es immer wieder solche Stimmen. Nur ist die Welt mittlerweile zu einem Dorf geschrumpft, in dem alle gemeinsam von sämtlichen Entwicklungen betroffen sind. Es nützt niemandem darüber zu jammern. Ob man nun Verursacher ist oder nicht: Man muss versuchen Lösungen für die Zukunft zu entwickeln, damit man nicht immer nur kurzfristig auf Tagesaktuelles reagiert.
Muamer Bećirović
Können Sie mir sagen, welche Staaten – Ihres Erachtens nach – sich im Sinne einer funktionierenden, europäischen Migrationspolitik zusammenraufen sollten?
Michael Spindelegger
Alle sind betroffen. Alle müssen etwas beitragen. Wenn wir ein solidarisches Europa haben wollen, muss jeder seinen Beitrag leisten – obgleich nicht zwingend den gleichen. Jeder soll das leisten, das im Rahmen seiner Bevölkerungszahl und Wirtschaftsleistung geht. Dadurch ergibt sich, dass es durchaus unterschiedliche Beiträge oder Zugänge geben kann und wird. Wir müssen die richtige Formel finden. Um uns einigen zu können, müssen wir versuchen einander zu verstehen. Das würde Europa wieder stark machen.
Muamer Bećirović
Aber es gibt dann Staaten, die keine Lust haben und sagen: „Macht es selber!“.
Michael Spindelegger
Die gibt es. Es gibt auch solche Akteure auf nationaler Ebene. Dennoch glaube ich, dass gerade ein Nachdenkprozess im Gange ist. Gerade wir in Österreich, im Zentrum Europas, sind fast ausschließlich nur von EU-Staaten umgeben, und haben daher eine sehr gute Ausgangsposition dahingehend etwas voranzutreiben.
Muamer Bećirović
Ist das Prinzip der Einstimmigkeit im Europäischen Rat nicht längst überholt? Verhindert es nicht, dass auch große Brocken in Bewegung gesetzt werden können?
Michael Spindelegger
Dem stimme ich nicht zu. Es bedarf zum Beispiel bei Vertragsänderungen oder in der Außenpolitik immer die Zustimmung aller. Man kann es sich hier nicht erlauben einfach über jemanden drüberzufahren. Es muss gelingen jeden überzeugen zu können.
Muamer Bećirović
Es wird aber immer welche geben, die allein aus Prinzip „Nein“ sagen – vor allem im Sinne eines gewissen Nationalinteresses.
Michael Spindelegger
Dann sind diese auch keine richtigen Europäer. Meinem Erachten nach ist es notwendig, dass man in Europa in einem gewissen Maß zu Solidarität verpflichtet wird. Auch wenn das manchmal nicht so leicht geht, muss jeder wissen, dass er seinen Beitrag zu leisten hat. Selbstverständlich ist es bei Weitem nicht einfach diese Verpflichtungen dem Bürger auch auf nationalstaatlicher Ebene schmackhaft zu machen. Doch das ist nun einmal europäische Politik – „Spirit of Europe“ sozusagen.
Muamer Bećirović
Was halten Sie von der Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“?
Michael Spindelegger
Wie ich schon immer dazu gesagt habe: Gar nichts. Ich halte nichts davon, ein US-amerikanisches Modell Europa einfach aufzuerlegen. Denn Europa ist etwas Eigenes. Europa ist anders. Europa muss seine eigene „DNA“ finden und gestalten. Deshalb halte ich nichts vom Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ und so wie er gebraucht wird.
Muamer Bećirović
Aber wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht und diese letztlich nicht jedem schmeckt, bedeutet das dann nicht, dass Entscheidungen unmöglich werden? Wäre da ein einfaches „Drüberfahren“ nicht unangebracht?
© Julien Pflanzl
Michael Spindelegger
Genau solch ein Szenario haben wir dort, wo Mehrstimmigkeit im Verfahren vorgesehen ist. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden starke Einschränkungen der Einstimmigkeitserfordernisse implementiert. Jetzt muss man das Ganze mit Leben füllen. Man muss sich davor hüten zu sagen, dass all jene, die der Mehrheitsmeinung nicht folgen, lästig seien. Das einfache „Drüberfahren“ ist schlichtweg uneuropäisch.
Muamer Bećirović
Henry Kissinger (Anm. ehemaliger US-Außenminister) hat einmal über Europa gesagt: „Wen rufe ich an, wenn ich Europa anrufen will?“ Wen würden Sie denn anrufen?
Michael Spindelegger
Ich glaube, dass unsere heutigen Welt eine gänzlich andere als jene des Kalten Krieges, auf den sich Henry Kissinger in dieser Aussage bezog, ist. Damals gab es nur zwei Telefonnummern, die auf der Bühne der Weltpolitik bedeutend waren: Einerseits die des US-Präsidenten, andererseits die des Generalsekretärs der KPdSU (Anm. Kommunistische Partei der Sowjetunion). Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Heute sehen wir ein weitaus vielfältigeres, komplizierteres Bühnenbild der Weltpolitik. Die Antwort auf wessen Nummer ich nun im gegebenen Fall wähle, ist in diesen Tagen sehr verschieden. So rufe ich zum Beispiel Frau Mogherini (Anm. derzeitige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik) in Fragen der Außenpolitik an. Für Angelegenheiten grundsätzlicher Natur, in der die Nationalstaaten eine wichtige Rolle spielen, wähle ich den Präsidenten des Europäischen Rates. Für alles andere gibt es den Kommissionspräsidenten.
Muamer Bećirović
Werfen wir einmal einen Blick auf das Minsker Abkommen (Anm. 2014 unterzeichnetes Abkommen v.a. für einen begrenzten Waffenstillstand im derzeitigen Ukraine-Konflikt): Vorrangig hat Angela Merkel (Anm. derzeitige deutsche Bundeskanzlerin) dieses verhandelt, nicht Mogherini. Wie kann in diesem Fall die EU-Außenbeauftragte ernstgenommen werden, wenn nicht sie, sondern die deutsche Kanzlerin das Abkommen zustande gebracht hat?
Michael Spindelegger
Man muss da hinter die Kulissen schauen und erkennen, dass Angela Merkel ihr Vorgehen in dieser Causa mit den europäischen Partnern abgestimmt hatte. Ich glaube, dass dieses Beispiel zeigt, wie verschiedene Ländern zusammenarbeiten können, indem sie – je nach Angelegenheit – Aufgaben an diejenigen delegieren, die, mit ihren speziellen Kontakten und Erfahrungen, am besten für alle, Sachen verhandeln können.
Muamer Bećirović
Was denken Sie, warum wir Österreicher, aber auch Europäer generell, bei Veränderungen so skeptisch sind? Leben wir auf einem Kontinent der Seligen?
Michael Spindelegger
Ein wenig, ja. Wenn wir uns mit anderen Kontinenten vergleichen, können wir mit Stolz auf vieles verweisen, das uns einzigartig macht. Das bringt auch Nachteile mit sich, da dadurch andere mit voller Neid und Missgunst auf uns schauen könnten. Aber ich glaube, dass wir mit der Europäischen Integration einen Pfad zum dauerhaften Frieden geschaffen haben. Das ist schon etwas Großartiges. Das darf man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Muamer Bećirović
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Überlegungen Europa als dritte Kraft zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten zu etablieren. Wäre das heute nicht mehr als angebracht? Europa als eine eigene Weltmacht?
Michael Spindelegger
Ich bin der Ansicht, dass sich auch die Bedeutung des Begriffs „Weltmacht“ heute stark gewandelt hat. So kennen wir diesen Ausdruck unter anderem unter militärischen Gesichtspunkten. Unter diesem Licht sind die USA eine Weltmacht. In Fragen rund um die Wirtschaft kann man durchaus auch von der Weltmacht Europa sprechen, da große Staaten wie China oder die USA sich nur dann auf einen Kompromiss (wie z. B. dem gemeinsamen Abbau von Handelshemmnissen) einlassen, wenn das Gegenüber entsprechend bedeutend ist. Aber auch die innerliche Stärke der EU definiert uns als Weltmacht. Diese Stärke müssen wir pflegen. Unsere Zukunftsaufgabe ist, unsere Stärken am Verhandlungstisch besser einzusetzen, um die europäischen Institutionen zu stärken. Diese Zielsetzung ist im Sinne aller EU-Mitgliedsländer, die zusammen eine enorme Marktmacht mit rund 550 Millionen Menschen bilden.
Muamer Bećirović
Aber sind Europa bzw. die Europäische Union an sich nicht ein wenig instabil?
Michael Spindelegger
Ja und nein. Wir sind halt eine Gemeinschaft, in der derzeit 28 verschiedene Interessen eine Rolle spielen. Gerade diese Vielfalt macht uns durchaus sympathisch. Bei uns wird eben nicht alles über einen Leisten geschlagen. Nicht nur der einzelne Bürger, sondern auch die Staaten selbst, haben die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung. Dass es dann oft schwer – aber nicht unmöglich – wird, einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist klar.
Muamer Bećirović
Warum herrscht in Österreich Ihres Erachtens nach eine derart euroskeptische Ansicht? Und das, obwohl jeder zweite Arbeitsplatz in Österreich vom Export abhängig ist?
Michael Spindelegger
Einerseits haben wir uns sehr schnell daran gewöhnt, dass Wohlstand, Verteilung sowie die vielfältigen Möglichkeiten und Annehmlichkeiten einfach da sind. Keiner will heute beispielsweise mehr missen, dass wir ein Schengen-Abkommen haben. Ganz im Gegenteil: Jetzt wird durch die ganzen Einschränkungen des Grenzverkehrs im Zuge der Migrationskrise bemerkbar, was die Reisefreiheit eigentlich wert ist. Erst seitdem ich wieder Grenzkontrollen passieren muss, spüre ich wieder bewusst, dass ich nicht mehr in Österreich bin. Selbiges gilt für den Euro. Während man damals für jedes Land einzeln Geldwechseln musste, müssen wir uns heute mit dieser Lästigkeit nicht mehr herumschlagen. All das sind Errungenschaften, die erst dann wieder bewusst wahrgenommen werden, wenn sie infrage gestellt werden. Und so glaube ich, dass wir alle ein bisschen bequem geworden sind. Gerade in Zeiten, in denen es wieder unbequemer wird, müssen wir unsere gemeinsamen Errungenschaften in den Mittelpunkt stellen und immer im Kopf behalten, was wir zusammen geschafft haben und noch schaffen können.
Muamer Bećirović
Helmut Schmidt (Anm. ehemaliger deutscher Bundeskanzler) sagte einmal, dass sich Deutsche und Franzosen zusammensetzen müssten, um etwas in der Europäischen Union weiterbringen zu können – so wie zum Beispiel: Helmut Kohl und François Mitterrand, Konrad Adenauer und Charles de Gaulles oder Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing. Läuft es nicht darauf hinaus, dass – wenn man etwas voranbringen will – man unbedingt darauf achten muss, dass Deutsche und Franzosen sich verstehen?
Michael Spindelegger
Damals war das sicher so. Das war auch gut so. Denn, dass ehemals verfeindete Staaten erstmals nach einem Jahrhundert, in dem man sich zweimal gegenseitig bekriegt hatte, an einem Strang ziehen, ist etwas Außergewöhnliches. Jedoch hat sich auch das mittlerweile ein wenig überholt. Heute gibt es immer wieder verschiedene Allianzen zwischen den unterschiedlichsten Staaten in der EU, die allesamt etwas vorantreiben wollen. Das sind bei Weitem nicht mehr nur Frankreich und Deutschland. Es gibt da etliche andere Staaten – auch kleinere – die sich zusammenschließen, um Initiative zu ergreifen. Ein Bespiel ist der Westbalkangipfel im heurigen Frühjahr, zudem Österreich geladen hatte. Die Dominanz der deutsch-französischen Achse wurde zugunsten eines multizentrischen Europa zurückgedrängt. Das finde gut so. Das muss in einem vielfältigen Europa sein.
Muamer Bećirović
Gerhard Schröder (Anm. ehemaliger deutscher Bundeskanzler) schreibt in seiner Biografie darüber, dass immer, wenn die Europäische Union versucht hatte, eine gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik zu etablieren, die Amerikaner dazwischengefunkt haben, weil sie das nicht wollten. Würde uns ein bisschen mehr Unabhängigkeit nicht gut tun?
Michael Spindelegger
Unabhängigkeit, ja. Das klingt auch großartig und einleuchtend. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass selbst wir nur begrenzte Möglichkeiten haben – auch als globale Wirtschaftsmacht. Doch eine militärische Macht ist Europa nicht. Gerade da sehe ich eine der zukünftig großen Ziele der Europäischen Union: die Stärkung der militärischen Macht. Diese verlangt von uns aber einen äußerst sorgsamen Umgang mit ihr ab. Aber ja, es gibt auch Beispiele der jüngsten Vergangenheit, wo mehr Unabhängigkeit von den Amerikanern besser gewesen wäre und daraus muss man lernen.
Muamer Bećirović
Wäre denn eine Annäherung zu Russland nicht auch sinnvoll?
© Julien Pflanzl
Muamer Bećirović
Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns immer wieder in dieser alten Schablone wiederfinden, in der wir uns dann eher bei den Amerikanern als bei den Russen wiederfinden.
Michael Spindelegger
Selbstverständlich wäre es gut, wenn Europa mit Russland zukünftig ein viel stärkeres Bündnis eingeht. Mit Bündnis sind hier die Erleichterung des Handelsaustauschs und die Ermöglichung gegenseitiger Wertschöpfung gemeint. Das kann nur im Interesse Europas sein. Ich betone auch, dass wir auf vielen Standbeinen – nicht nur ein, zwei wenigen – stehen sollten. Man muss aber auch sagen, dass gerade Europa dann reagieren muss, wenn ein Staat wie Russland einen Teil eines anderen Staates de facto annektiert, wie zum Beispiel die Krim. Da muss reagiert werden. So einfach kann man das nicht vor der eigenen Nase passieren lassen. Denn sonst könnte jeder – ohne Rücksicht auf andere – damit anfangen, das zu tun, was ihm gerade lieb ist.
Muamer Bećirović
Können Sie nachvollziehen, dass Russland keine Freude mit der NATO-Osterweiterung hat und sogar der Ansicht ist, dass diese eine Bedrohung ist?
Michael Spindelegger
Ich habe dafür durchaus Verständnis. Das rührt aber auch daher, dass Österreich kein NATO-Mitglied ist, sondern ein neutrales Land. Ich glaube, dass militärische Gleichgewichte in einer gewissen Weise bewahrt werden müssen. Es ist nicht gut, wenn eine Seite eine Vormachtstellung einnimmt. Am wichtigsten ist, dass diese Balance auf einem möglichst niedrigen Niveau gehalten wird. Leider sehen wir in letzter Zeit das genaue Gegenteil. Wo man sich früher beispielsweise der Abrüstung von Atomwaffen verpflichtet hatte, sehen wir heute, dass die einstigen Versprechen leider nicht mehr so ernst genommen werden.
Muamer Bećirović
Zum Schluss: Eines habe ich bei Ihnen nie so recht verstanden: Sie haben jungen, politischen Nachwuchs in die Welt gesetzt, bei dem ich mich nur wundern konnte. Letztlich hat man doch nichts davon, wenn man jemanden Junges nimmt und zu etwas macht, obwohl dieser weder über eine Basis noch irgendeine andere starke Position innerhalb der Partei verfügt. Was brachte Ihnen das? Sie hätten doch auch Jemanden nehmen können, der den Ländern und den Bünden in der ÖVP zusagt. Haben Sie da nicht ein großes Risiko auf sich genommen?
Michael Spindelegger
Das ist mein Politikverständnis. Wenn man für Österreich tätig wird, muss man zunächst Personen nehmen, die im Regierungsteam ihre Aufgabe hervorragend bewältigen können. Das trifft auf Sebastian Kurz (Anm. derzeitiger ÖVP-Außen- und Integrationsminister), ebenso wie zum Beispiel auf Wolfgang Brandstetter (Anm. derzeitiger, parteiloser Justizminister, für ÖVP) oder damals Johanna Mikl-Leitner (vormalige ÖVP-Innenministerin) zu. Den politischen Nachwuchs muss man jedoch auch immer mitberücksichtigen. Denn dieser wird eines Tages das Steuer übernehmen. Darauf muss er vorbereitet werden. Gerade Sebastian Kurz ist für mich jemand, der sich schnell zu einem besonders talentierten, jungen Politiker aufgeschwungen hat. Ich habe ihn lange beobachtet und gefördert. Ich glaube, dass er derjenige ist, der eines Tages auch den Anspruch stellen könnte, Österreich zu führen – unter Umständen auch als Bundeskanzler.