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Gespräch N° 53 | Kultur

Michael Lüders

„Wann es kracht, weiß natürlich keiner“

Sun Tzu lehrte in „Kunst des Krieges“ einst, dass nur der, der alles bedenke, siegen werde. In Zeiten der Globalisierung, der immer engmaschiger werdenden Vernetzung der Welt, wird es immer schwieriger, einen Gesamtüberblick zu bewahren. Doch um erfolgreich zu sein, bedarf es der Lösung dieser Herkulesaufgabe. Michael Lüders, einer der führenden Nahostexperten im deutschsprachigen Raum, sprach mit Darius Pidun über russische Atombomben, „good guys“, kollektive Hysterie, die moralische Überhöhung des Westens und warum dieser gerade im Nahen Osten mit seinem Latein (oder Arabisch) am Ende ist.
Dieses Gespräch führte Darius Pidun und erschien am 30. August 2018, fotografiert hat Julius Hirtzberger.
Darius Pidun
Sie haben sich seit Jahrzehnten intensiv mit den unterschiedlichen Konfliktgebieten im Nahen Osten beschäftigt. Im Zuge Ihrer Publikationen und Vorträgen kommen Sie häufig zum Schluss auf die Aussage: „Alles hängt mit allem zusammen.“ Sie möchten das immer ganz bewusst dem Publikum vermitteln. Das klingt jetzt so banal, was meinen Sie eigentlich damit, gerade auf den Nahen Osten bezogen?
Michael Lüders
Wir sind gewohnt, in den politischen und medialen Debatten häufig ein Kleinklein zu betrachten und die größeren Zusammenhänge nicht zu sehen. Es wird viel zerredet. Man kann sagen der Politikstil von Angela Merkel: dass sie sich auf komplexe Fragen gar nicht erst einlässt, sondern sie in ihre Details zerlegt und sich dann in diesen Details verliert, bis man am Ende nicht mehr weiß, was sie eigentlich gesagt hat. Ich versuche, in meinen Betrachtungen die Hintergründe und Zusammenhänge aufzuzeigen und dem Zuhörer oder dem Leser zu vermitteln, wie die Konflikte im Mittleren und Nahen Osten zusammenhängen. Es ist eben nicht so, dass man die Konflikte isoliert betrachten könnte: hier Syrien, da Irak, Israel, Palästina, irgendwo dann Libyen und Jemen. Diese Konflikte haben Gemeinsamkeiten, insoweit als sie von ähnlichen Regierungsformen geprägt sind und alle darunter leiden, dass sie Einfluss von außen haben. Das heißt, von außen wirken Kräfte bzw. Mächte ein, die ihre politischen Vorstellungen auf die jeweiligen Konfliktparteien vermitteln und ihnen diese Vorstellungen aufzwingen wollen, bis hin zum Regimewechsel, und diesen Zusammenhang muss man erkennen. Ganz konkret: Der Krieg in Syrien und der Krieg im Irak sind die rechte und linke Hand des Teufels, die inhaltlich und innerlich zusammenhängen.
Wir sortieren die Konflikte nach „gut“ und „böse“, die Konfliktparteien insbesondere. Das greift nach meinem Empfinden viel zu kurz.Michael Lüders über die mangelnde Zusammenschau aller Zusammenhänge im Westen
Darius Pidun
Sprich, es ist überhaupt nicht möglich, sich ein spezifisches Konfliktfeld – von denen es im Nahen bzw. Mittleren Osten sehr viele gibt – anzuschauen und dabei nicht auch über ein anderes Gebiet zu reden.
Michael Lüders
So kann man das in der Tat wohl sagen. Wenn wir uns zum Beispiel einen Konflikt in Syrien ansehen: Da gibt es so viele Akteure, die dort mitwirken und ihre eigene Agenda haben. Da ist Israel dabei, da ist der Iran dabei, da ist Russland dabei, da sind die USA dabei. Alle Akteure, die in dieser Region etwas zu sagen haben und in der Weltpolitik mitmischen, sind dort präsent und haben ihre eigene Agenda, die sich in Syrien und im Irak nicht unterscheidet. Wenn man die Dinge im Detail betrachtet, beispielsweise den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern: Dieser hat natürlich eine Eigendynamik, aber es gibt zum Beispiel Gemeinsamkeiten, wenn wir auf die Konflikte in der arabischen Welt schauen, mit Blick auf das Herrschaftssystem: Wir neigen häufig dazu, wenn wir die Konflikte dort betrachten, dieses aus einer Perspektive der Menschenrechte und der moralischen Emphase zu tun. Wir sortieren die Konflikte nach „gut“ und „böse“, die Konfliktparteien insbesondere. Das greift nach meinem Empfinden viel zu kurz. Man muss sich immer vor Augen halten, dass die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse dort in den Ländern andere sind als bei uns. Wir sind Industriegesellschaften oder post-industrielle Dienstleistungsgesellschaften und Länder wie Syrien, Irak und Ägypten sowie die arabisch-islamische Welt insgesamt weisen eine hybride politische Kultur auf. Wir haben ein Nebeneinander von Feudalstaatlichkeit, von Industrialisierung und von modernisierten Gesellschaftsformen, aber es ist alles noch nicht wirklich harmonisch gewachsen und wir haben in den meisten Ländern – in allen Ländern der arabischen Welt – eine klare Herrschaft der Herkunft, die sich auch darin äußert, dass zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer religiösen oder ethnischen Gruppe eine entscheidende Rolle für die Identität des Einzelnen spielt, aber auch für das politische Ganze. Wer macht welche Politik mit welchen Interessen? Da sind wir sehr schnell bei der Frage: Welche Familie, welcher Stamm, welche religiöse oder ethnische Gruppe hat die Macht? Diese Zusammenhänge werden in der Regel nicht beleuchtet, wir schauen häufig auf die Akteure und die Ereignisse der Religion nach einem Gut-Böse-Schema: „Assad ist böse, weil er der Schlächter seines Volkes ist.“ Das ist er auch, aber es reicht nicht, es dabei zu belassen und zu sagen: „Er ist ein ‚bad guy’ und jetzt suchen wir nach den ‚good guys‘ und dann am Ende schaffen wir Demokratie in Syrien“. Das funktioniert leider in dieser Form nicht.
Michael Lüders

© Julius Hirtzberger

Darius Pidun
Sie gehen ja in Ihrem sehr erfolgreichen Buch „Wer den Wind sät“ auf einen Plan ein, der sinngemäß die Überschrift trägt: „Sieben Länder in fünf Jahren“. Was hat es mit dem Plan auf sich? Worum geht es da genau?
Michael Lüders
Es gab in der amerikanischen Administration nach 9/11, nach den Terroranschlägen des 11. September 2001, strategische Überlegungen, wie man die Region des Nahen bzw. Mittleren Ostens gemäß amerikanischer Vorstellungen neu sortieren könnte. Diese Vorstellungen waren widersprüchlich. Da hatte das Pentagon andere Vorstellungen als das Weiße Haus und die CIA. Wir neigen dazu, wenn wir die Politik der USA betrachten, diese als durchdacht und homogen zu betrachten. Das ist sie aber nicht unbedingt. Es gibt globalisierende Machtzentren, die einander nicht immer gewogen sind. Es gab aber Überlegungen im Bereich der Geheimdienste und des Pentagons, vor allem im Zuge der sogenannten Neokonservativen, der „Neocons“, die eine bestimmte Ideologie vertraten, nämlich die Region politisch zu durchpflügen, Diktaturen abzuschaffen und durch Demokratien zu ersetzen. Das klingt erstmal gut und uneigennützig, aber gemeint war im Wesentlichen, Regime abzulösen, die nicht pro-westlich sind, und sie durch pro-westliche Regime zu ersetzen. Das betraf verschiedene Länder in der Region, allen voran Syrien, Irak, Iran, aber auch Länder wie Libyen, Jemen und andere. Wenn wir die Dinge aus der Perspektive des Jahres 2018 betrachten: Es hat nicht in sieben Ländern Regimewechsel gegeben und auch nicht in fünf Jahren, aber wir haben eine Regimewechselagenda, die immer noch nachwirkt. Unter Barack Obama wurde das gebremst. Anders als sein Vorgänger George W. Bush erkannte Obama, dass die Region zu viele Konfliktherde hat, insbesondere im Irak, in Syrien und Libyen, und wir wollen nicht noch ein neues Fass aufmachen. Seit Donald Trump an der Macht ist, ist aber das Iran-Thema sehr in den Vordergrund gerückt. Das ist nicht unbedingt ein kohärentes politisches Konzept. Es sind nicht die gesamten politisch Verantwortlichen in den USA, die so denken, aber ein erheblicher Teil der politisch Verantwortlichen, der Machthaber, wollen einen Regimewechsel im Iran, was konkrete Gründe hat, auf die wir vielleicht noch zu sprechen kommen. Im Kern gibt es in Teilen der amerikanischen Machtelite ein hegemoniales Denken, das darin besteht, zu sagen: „Regime, die uns nicht gefallen, wollen wir beseitigen und durch pro-westliche, pro-amerikanische ersetzen.“
Im Kern gibt es in Teilen der amerikanischen Machtelite ein hegemoniales Denken, das darin besteht, zu sagen: „Regime, die uns nicht gefallen, wollen wir beseitigen und durch pro-westliche, pro-amerikanische ersetzen.“Michael Lüders über die Ansprüche einer Großmacht
Darius Pidun
Man muss doch fairerweise sagen, wenn Sie davon sprechen: Hat es denn nicht in jüngster Vergangenheit, seitdem Hassan Rohani der Präsident im Iran ist, eine Orientierung hin zu mehr Pro-Westlichkeit gegeben? Wenn ich da jetzt an die teilweise stattfindende Liberalisierung von Bürgerrechten denke, die zwar langsam, aber zumindest stückweise in Gang gekommen ist, wenn ich an die Öffnung bezüglich wirtschaftlicher Beziehungsmöglichkeiten mit dem Westen denke, da war keine so starke Blockadehaltung wie noch unter Mahmūd Ahmadīneschād. Warum ist der Iran gerade den Neokonservativen in den USA immer noch ein Dorn im Auge? Wieso ist der Iran der eigentliche Höhepunkt dieses „Sieben Länder in fünf Jahren“-Plans?
Michael Lüders
Dieser damalige Plan „Sieben Länder in fünf Jahren“ ist im Grunde genommen nicht mehr als Plan existent, aber hat sozusagen in verinnerlichter Form in den Köpfen bestimmter Akteure weitergewirkt. Der Iran ist ein sehr komplexer Fall. Die Paradoxie könnte eigentlich nicht größer sein. Die innenpolitische Lage im Iran ist natürlich widersprüchlich. Es gibt ein politisches System, das in Teilen repressiv Macht ausübt, in anderen Teilen wiederum durchaus Mechanismen der Konfliktregulierung innerhalb der verschiedenen Machteliten hat. Unter Obama wurde das Ziel aufgegeben, einen Regimewechsel im Iran herbeizuführen. Das war unter George W. Bush noch Agenda, aber selbst George W. Bush erkannte: „Wir haben zu viele Konflikte, Brände, Ölfässer in der Region. Wir können nicht noch ein Fass aufmachen.“ Unter Obama kam es 2015 zum Abschluss des Atomabkommens und obwohl es funktionierte, obwohl die internationale Atomenergiebehörde ihn immer wieder bestätigte, dass sich der Iran an alle Auflagen des Atomabkommens hält, kündigte Trump am 8. Mai dieses Atomabkommen auf und bezeichnete es als einen der schlechtesten Deals aller Zeiten. Interessanterweise warf er dem Iran nicht Vertragsbruch vor, sondern sagte, der Iran habe gegen den Geist des Abkommens verstoßen, was natürlich eine fast schon philosophische Dimension ist. Ein Vertrag ist ein Vertrag und gegen den Geist, gegen den Esprit, zu verstoßen, da muss man erst konkretisieren, was es bedeutet. Im Kern ist das Problem das folgende: Der Iran ist das einzig verbliebene Land im weiten Raum zwischen Marokko und Indien, das eine nicht pro-westliche Agenda betreibt. Es ist das letzte verbliebene Macht- und Kraftzentrum, das nicht pro-westlich ist. Alle anderen Länder in diesem weiten Raum sind pro-westlich.
Michael Lüders

© Julius Hirtzberger

Darius Pidun
Meinen Sie damit, dass der Iran mit Russland eng verflochten ist, wenn Sie von nicht pro-westlich sprechen? Was genau ist an dem Iran weniger pro-westlich als zum Beispiel an Saudi-Arabien?
Michael Lüders
Die Frage, die Sie stellen, hat mehrere Ebenen. Zunächst einmal muss man darauf hinweisen, dass die Islamische Revolution, die 1979 stattfand, gerade aus der Sicht der USA wegen der damaligen Geiselnahme von mehreren Dutzend amerikanischen Diplomaten noch immer ein Stachel im Fleisch ist. Das ist zwar alles Jahrzehnte her, man ist aber bei solchen Fragen in den USA ein wenig nachtragend und das ist nicht verwunden, diese Idee der Revolution. Dass nun diese Revolution 1979, die sogenannte Islamische Revolution, die um eine Generation zeitversetzte Antwort auf den von den USA und Großbritannien initiierten Militärputsch 1953 gegen den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mossadegh war, woraufhin der Schah ein pro-westliches Regime im Iran etablierte – pro-westlich im Sinne von pro-amerikanisch und pro-israelisch – das übersieht man sehr gerne im Westen. Diese historische Dimension wird in der Regel nicht gesehen. Der Iran hat ein schlechtes Image, zum Teil aufgrund der Repression im Inneren selbst verschuldet, aufgrund einer nicht immer erbaulichen Außenpolitik, aber der Iran ist in seiner politischen Ausrichtung gerade im Syrien-Konflikt ein Bündnispartner Russlands und auch von Baschar al-Assad. Es ist den westlichen Staaten nicht gelungen, ihre Agenda in Syrien durchzusetzen, nämlich einen Regimewechsel herbeizuführen, Assad von der Macht zu fegen und dort ein pro-westliches Regime an die Macht zu bringen. Dieser Plan des Westens, dieser Stellvertreterkrieg, den der Westen, die Türkei und die Golfstaaten gegen Russland, Iran und Assad führten, hat der Westen de facto verloren. Man überlegt nicht nur in Washington D. C.: „Wie kann man diesen Einfluss Russlands und Irans zurückbringen?“.
Ein anderer Aspekt, der eine ganz wesentliche Rolle spielt, ist, dass die Abneigung gegenüber dem Iran sehr tief in Israel und bei pro-israelischen Interessensgruppen in den USA verwurzelt ist. Für sie ist der Iran aus verschiedenen Gründen die Inkarnation des Bösen, nicht zuletzt durch die Unterstützung der Hisbollah, der Partei Gottes im Libanon, die man in Israel als eine Bedrohung sieht. Seit Bill Clinton gab es immer wieder Versuche, die Daumenschrauben beim Iran anzusetzen und das Land unter Druck zu setzen, in der Hoffnung, das Regime zu schwächen und einen Regimewechsel herbeizuführen. Die Präsidentschaft Mahmud Ahmadineschāds, der von 2005 bis 2013 an der Macht war, trug natürlich zur Verschlechterung der Wahrnehmung des Irans im Westen bei, nicht zuletzt wegen der wiederholten antisemitischen Übergriffe von Ahmadineschād mit seinen Beschimpfungen Israels. Das erweckte im Westen den Eindruck, dass der Iran ein gefährliches Land sei.
Darius Pidun
Deswegen hat es ja auch die weitläufigen Iran-Sanktionen gegeben, gerade wegen dem Regime unter Ahmadineschād.
Michael Lüders
Genau, und das alles wurde dann insoweit überwunden, als mit Rohani ein Gemäßigter an die Macht kam. 2015 gab es das Atomabkommen. Eigentlich hätte man sagen müssen: „Wunderbar, der Iran bewegt sich in die richtige Richtung.“ Vor allem kann man durch diesen Kontrollmechanismus das Atomabkommen so weit beobachten, dass es dem Iran nicht möglich sein wird, die Atombombe zu entwickeln. Es gibt allerdings mächtige Kräfte unter Trump, die mittlerweile wieder auf einen Regimewechsel setzen.
Das Interessante bei diesen Regimewechselideologen ist, dass für sie gemachte Erfahrungen aus der Vergangenheit überhaupt keine Rolle spielen.Ob George Santayana auch in diesem Zusammenhang recht behält?
Darius Pidun
Da haben wir ja zum Beispiel Stephen Bannon. Er ist nun ja nicht mehr unmittelbar – zumindest offiziell – im Weißen Haus tätig. Viele Experten sagen dennoch, dass sein Einfluss nicht minder schwach ist und dass er immer noch einen wahnsinnig starken Einfluss auf Trump ausübt, gerade hinsichtlich der Iran-Frage. Da hat man von Vornherein gesagt: „Wir wollen uns in vielen Gebieten im Gegensatz zu unserem Vorgänger Barack Obama aus den meisten Konfliktgebieten heraushalten, aber der Iran ist unsere oberste Priorität.“ Jetzt hat Donald Trump diesen neuen Sicherheitsberater, John R. Bolton, der eigentlich – wenn ich das richtig verstanden habe – auch eher zu dem neokonservativen Flügel gehört. Gibt es da konkrete Unterschiede hinsichtlich der Ideologie eines Stephen Bannons und eines John R. Boltons?
Michael Lüders
Wenn es darum geht, einen Regimewechsel herbeizuführen, gibt es keinerlei Unterschiede. Es gibt eine bestimmte Schicht von Politikern von Lobbyisten in den USA, die von dem Gedanken besessen sind, dass der Iran eine Bedrohung darstelle und dass es auch keinen Sinn mache, mit dem Iran zu verhandeln, weil dieses Regime bösartig sei – es werden auch genau solche Vokabeln verwendet, moralisierende Begrifflichkeiten – und seine Politik nicht ändere, weswegen nur eines helfe, nämlich der Regimewechsel. Das Interessante bei diesen Regimewechselideologen ist, dass für sie gemachte Erfahrungen aus der Vergangenheit überhaupt keine Rolle spielen. Beim Regimewechsel im Irak haben wir die Folgen gesehen, die sich daraus ergeben haben. Der Regimewechselversuch in Syrien ist zunächst gescheitert. Die Ergebnisse sind Staatszerfall, Anarchie, Chaos und Flüchtlingsbewegung. In Libyen haben wir einen Regimewechsel gesehen: ein wunderbarer Erfolg, ironisch gesprochen, Afghanistan, Jemen, dito. Überall, wo der Westen versucht hat, mit militärischer Intervention einen Regimewechsel herbeizuführen, sind die Ergebnisse Verelendung der Lebensverhältnisse von Millionen Menschen, Instabilität, Chaos und Erstarken radikaler islamistischer Bewegungen. Das alles ist so offenkundig, dass man es wirklich nicht übersehen kann. Trotzdem glauben diese Leute, sie müssten nichts aus ihren Fehlern lernen. John R. Bolton findet die Invasion des Irak, die er im Jahr 2003 guthieß, nach wie vor gut und richtig. Er bewertet dies als einen Erfolg. Man will jetzt einen Regimewechsel im Iran. Wie will man den erreichen? – Genauso plump wie man das im Falle Syriens oder Iraks gemacht hat: Man setzt auf eine Opposition und glaubt, dass diese Opposition dann in der Lage wäre, die Macht zu übernehmen, wenn man ihr nur Waffen und Geld gibt. Das hat nicht geklappt. Im Falle Irans sind das vor allem die sogenannten Volksmuschahedin, auf die Bolton gesetzt hat. Diese Volksmudschahedin sind eine neo-stalinistische Bewegung mit einer demokratischen Fassade. Ihren Sitz haben sie in Paris, sie sind aber auch in den USA vertreten.

© Julius Hirtzberger

Darius Pidun
… aber sie leben mehrheitlich im Exil …
Michael Lüders
Es sind fast ausschließlich Exilanten. Die Volksmudschahedin sind im Iran selber quer durch alle Lager verhasst, nicht zuletzt deswegen, weil sie – sie waren ursprünglich auf Seiten von Ruhollah Chomeini, da hat man sich aber mit dem schiitischen Klerus überworfen – in den Irak gegangen sind und auf Seiten Saddam Husseins gegen ihr eigenes Land gekämpft haben. Sie haben in den vergangenen Jahren wiederholt zusammen mit den USA und den amerikanischen und israelischen Geheimdiensten Mutmaßungen zufolge zumindest vier iranische Atomwissenschaftler umgebracht und sind sozusagen eine Kraft, auf die man in den USA und Israel glaubt, setzen zu können, um einen Regimewechsel herbeiführen zu können. Dieser Gedanke ist völlig abwegig, weil diese Bewegung überall im Iran – in allen Gruppierungen und sozialen Schichten – als Terrorinstitution gesehen wird. Sie hat keinerlei Verbindung mit der iranischen Bevölkerung, aber Bolton setzt auf diese Leute. Er hat auf ihrem Jahreskongress gesprochen und erklärt, dass es bis zum 40. Jahrestag der Revolution, spätestens im Januar 2019, einen Regimewechsel geben wird.
Darius Pidun
Er hat bei derselben Konferenz, vor ziemlich genau einem Jahr, unter anderem noch sinngemäß gesagt: „Noch vor Ende des Jahres 2018 wird auf den Straßen in Teheran die Verdrängung bzw. die Zerstörung des Mullah-Regimes gefeiert werden.“ Wenn man über diese Aussage nachdenkt: Haben wir da eine baldige US-Invasion zu erwarten bzw. ist das überhaupt denkbar?
Michael Lüders
Man weiß natürlich nicht, in welchen Kategorien die US-Amerikaner denken. Sie haben ja zunächst einmal im Zuge der Aufhebung des Atomabkommens die Sanktionen gegen den Iran verstärkt, insbesondere im Rahmen der sogenannten sekundären Sanktionen, die im Falle Irans entscheidend sind. Normalerweise wäre es völlig undenkbar, dass zum Beispiel die Gesetze Österreichs laut der österreichischen Regierung auch in Deutschland und Frankreich gelten sollen. Da würde jeder den Vogel zeigen. Wenn man eine Weltmacht ist, kann man das aber machen und das machen die Amerikaner. Sie sagen: „Wir stellen alle Firmen unter Strafe, die im Iran Handel treiben.“
Normalerweise wäre es völlig undenkbar, dass zum Beispiel die Gesetze Österreichs laut der österreichischen Regierung auch in Deutschland und Frankreich gelten sollen. Da würde jeder den Vogel zeigen. Wenn man eine Weltmacht ist, kann man das aber machen und das machen die Amerikaner.Michael Lüders über die Auswirkungen von realer Macht
Darius Pidun
… also die europäischen?
Michael Lüders
Das betrifft insbesondere die europäischen, denn die Amerikaner selber betreiben mit dem Iran kaum Handel. Das heißt, alle europäischen Firmen, die gleichzeitig mit dem Iran und den USA Handel treiben, werden in den USA juristisch belangt. Da die USA ein ungleich größerer Handelspartner sind, ist das Kalkül der Amerikaner gut. Die Firmen werden sich aus dem Iran-Geschäft zurückziehen. Die Überlegung ist auch ebenso zynisch wie in der Sache richtig. Das tun die vielfach auch. Einige haben schon angekündigt, dies zu tun, unter anderem Peugeot. Das ist für die iranische Wirtschaft ein großes Problem. Die sekundären Sanktionen sind der Versuch, das Regime wirtschaftlich zu strangulieren. Das bedeutet, dass im Grunde keine Firma mehr Handel treiben kann. Nicht mal Pistazien könnte man legal aus dem Iran importieren, wenn man nicht eine Anklage in den USA riskieren wollte, immer unter der Voraussetzung, dass man gleichzeitig Handel treibt. Wer das nicht tut, dem kann das egal sein. Das ist der erste Schritt.
Darius Pidun
Sehen Sie das konkret als eine Art Druckmittel, um europäische Staaten sozusagen als Verbündete für eine potentielle US-Invasion ins Boot zu holen?
Michael Lüders
So weit würde ich nicht gehen, aber auf jeden Fall sagen die US-Amerikaner zunächst einmal zu den Europäern: „Liebe Bündnisfreunde, ihr könnt uns mal! Uns ist völlig egal, was ihr wollt oder nicht wollt!“, denn die Europäer wollen ja bekanntlich am Atomabkommen festhalten. Das ist aber den Amerikanern egal. Die Stimmung ist dementsprechend schlecht. Wir haben auch auf dem G7-Gipfel in Kanada gesehen, dass die Stimmung zwischen den USA und der Europäischen Union sicherlich noch nie so schlecht war wie in den vergangenen Monaten. Das ist dem erratischen und dem egomanen Politikstil von Donald Trump maßgeblich zuzuschreiben. Was kommt danach? Darüber kann man nur spekulieren. Die Israelis und Iraner führen bereits einen Stellvertreterkrieg in Syrien und beschießen sich dort gegenseitig. Ich glaube nicht, dass die Amerikaner militärisch intervenieren werden, wie sie es im Irak getan haben. Das ist ausgeschlossen. Ich kann mir aber vorstellen, dass sie gezielt irgendwelche Anlagen bombardieren …

© Julius Hirtzberger

Darius Pidun
… da muss ich kurz einhaken: Sie halten es wirklich für ausgeschlossen, dass sich derartige Invasionen oder militärische Interventionen wie im Irak im Iran in naher Zukunft wiederholen werden?
Michael Lüders
Nichts ist unmöglich, aber ich halte es deswegen für sehr abwegig, weil der Iran ein Land von der vierfachen Größe Deutschlands und ein gebirgiges Land ist. Da kann man nicht wie im Irak intervenieren, wo man mit Bodentruppen reingegangen ist. Es war alles flach: Das heißt, die Panzer konnten bis Bagdad durchrollen. Das geht im Iran nicht. Außerdem hat der Iran 80 Millionen Einwohner. Wenn man ein Besatzungsregime gegen 80 Millionen Einwohner aufbauen will – selbst, wenn man ein paar Leute findet, die für einen arbeiten – reicht das nicht. Die Amerikaner werden das alles indirekt machen, aber sie können natürlich aus der Luft Angriffe fliegen und dergleichen, immer auch die Iraner provozieren. Nehmen wir einmal an, die Iraner schießen irgendwann zurück, sie fühlen sich provoziert. Dann könnte die USA – alles Spekulation, aber es gibt hier unendlich viele Möglichkeiten – sagen: „Wir haben hier einen NATO-Bündnisfall. Unsere Kriegsschiffe sind im Persischen Golf angegriffen worden.“ Und dann? Es gibt da verschiedene Mechanismen. Ich glaube, die Amerikaner werden sukzessive versuchen, die Daumenschrauben immer enger zu setzen, in der Hoffnung und Annahme, es wird irgendwann einen Aufschrei gegen das Regime geben. Das wird auf keinen Fall erfolgen. Deswegen nicht, weil es zwar viel Kritik und Unzufriedenheit der Menschen mit dem Regime im Iran gibt, aber die Iraner sind auch gleichzeitig sehr große Patrioten. Wenn ihr Land bedroht ist, dann stehen sie zusammen, dann endet die Kritik am Regime. Außerdem darf man nicht den Fehler machen – und den machen viele im Westen – nur auf die westlich-orientierte Schicht in Teheran zu schauen, auf die geschätzt drei bis fünf Millionen Iraner, die pro-westlich sind und wie wir ticken, aber das ist keine kritische Masse. Die Mehrheit der Bevölkerung ist arm und hat nach wie vor – vor allem die etwas weniger Gebildeten – große Wertschätzung für das Regime, vor allem, weil das Regime sie auch ernährt. Wenn ich keine Jobperspektive und Ausbildung habe, dann schließe ich mich dem Pasdaran, der Revolutionsgarde, an, und habe einen Job. Das ist immer ganz wichtig in einem Milieu, das von Armut geprägt ist. Solche Leute sind dankbar und das darf man nicht unterschätzen. Man darf nicht nur auf die pro-westliche Elite in Teheran schauen und selbst, wenn 10.000 Leute in Teheran, einer zwanzig Millionen Einwohnerstadt, auf die Straße gehen, kann man dies zur Kenntnis nehmen, jedoch ist dies keine revolutionäre Masse, die das Regime aus dem Sattel fegen könnte.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist arm und hat nach wie vor – vor allem die etwas weniger Gebildeten – große Wertschätzung für das Regime, vor allem, weil das Regime sie auch ernährt.Michael Lüders warnt davor, die mehrheitlich ländliche Bevölkerung Irans zu unterschätzen
Darius Pidun
Das heißt – wenn ich Sie richtig verstanden habe – es war die Hauptabsicht, damals gegen Baschar al-Assad vorzugehen, dass man damit eine Hebelwirkung auf den Iran haben würde, weil man den iranischen Einfluss in Syrien zumindest zurückdrängen und damit letztendlich auch dem Iran ziemlich direkt schaden könnte. Ist das das Hauptmotiv des Westens gewesen?
Michael Lüders
In Syrien meinen Sie?
Darius Pidun
Ja, genau.
Michael Lüders
Der Konflikt in Syrien hat verschiedene Ebenen. Zunächst einmal muss man sagen, dass in den 2000er-Jahren, vor allem in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre, die Regierung Bush dazu überging, das Regime in Teheran über den Umweg Syrien ins Visier zu nehmen. Man tat dies, indem man zum Beispiel die syrische Opposition im Ausland bewaffnete und Sanktionen gegen Syrien verhängte. Das Kalkül war: Syrien ist neben Russland der engste und einzige Verbündete Irans in der Region. Wenn es gelingt, dieses Regime zu schwächen oder gar zu stürzen, dann sind gleichzeitig auch Russland und der Iran geschwächt.
Michael Lüders

© Julius Hirtzberger

Darius Pidun
Es geht also auch um Russland?
Michael Lüders
Ja. Das Kalkül war indirekt, über die Schwächung von Baschar al-Assad auch den Iran zu treffen. Man hatte sich gesagt: „Das ist das schwächste Glied in der Kette: Hisbollah, Syrien, Iran.“ Das war das Kalkül von George W. Bush. Dieses Kalkül ging aber aus verschiedenen Gründen nicht auf. Von der arabischen Revolte, die in Syrien 2011 passierte, waren auch die Akteure im Westen überrascht. Sie setzten natürlich sehr schnell mit dem Ziel auf die sogenannte Opposition, dieses Regime zu stürzen. Sie erkannten aber nicht, dass dies nicht so einfach ist. Wir neigen dazu, den Konflikt in Syrien so zu betrachten: Da gibt es auf der einen Seite ein schurkisches Regime – vertreten durch Baschar al-Assad – auf der anderen Seite eine verzweifelt um ihre Freiheit kämpfende syrische Bevölkerung, die kollektiv dieses Regime beseitigt sehen möchte. Wir im Westen – mit unserer stets werteorientierten Politik – haben sozusagen gar keine andere Wahl, als diesen verzweifelt um ihre Freiheit kämpfenden Syrern beizustehen. Das ist – plakativ gesagt – das Kalkül westlicher Politik gewesen: „Wir helfen der Bevölkerung gegen den Diktator. Wenn der gestürzt ist…“ – er gehört ja der alawitischen religiösen Minderheit an – „…werden die Sunniten die Macht übernehmen, weil sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen.“ Ein neues sunnitisches Regime: Das bedeutet auch die Beendigung der privilegierten Beziehung mit dem schiitischen Iran. Das bedeutet auch, dass der Waffennachschub für die Hisbollah nicht mehr über syrisches Territorium führen kann. Die Hisbollah hätte somit ein ernsthaftes Problem. Außerdem wären Russland und der Iran in der Region geschwächt. Es ist aber alles ganz anders gekommen, vor allem deswegen, weil der Westen die Kräfteverhältnisse in Syrien völlig falsch eingeschätzt hat, anders als Russland und Iran.
Darius Pidun
Das ist sozusagen die machtpolitische Ebene, wenn man über die Absichten spricht. Wenn man nun über wirtschaftliche Interessen, die auch immer in der Vergangenheit eine große Rolle gespielt haben, spricht: Es gibt immer wieder Theorien, die sagen: „Syrien hat sich aufgrund der engen Verknüpfung mit Russland gegen Ölpipelines aus Saudi-Arabien und Katar gestellt.“ Das wäre der eigentliche Hauptgrund. Was halten Sie generell von diesen Theorien?
Wir im Westen – mit unserer stets werteorientierten Politik – haben sozusagen gar keine andere Wahl, als diesen verzweifelt um ihre Freiheit kämpfenden Syrern beizustehen.Michael Lüders über die Moralisierung von Geopolitik
Michael Lüders
Es sollte ursprünglich in den 2000er-Jahren eine Pipeline von Katar über Saudi-Arabien und die Türkei nach Europa gebaut werden. Diese Gaspipeline stieß in Russland logischerweise auf wenig Gegenliebe, weil das natürlich den Preis für Gas insgesamt reduzieren würde und somit wäre eine Haupteinnahmequelle für Russland reduziert. Dazu kam es schlussendlich nicht, da Russland Syrien davon überzeugte, die Pipeline nicht zu bauen. 2009 stellte Baschar al-Assad öffentlich klar, dass diese Pipeline über syrisches Gebiet nicht gebaut werden wird. Das war nicht der entscheidende Grund, aber einer der Faktoren, der dazu führte, dass man sich gesagt hat: „Der ‚Bursche‘ muss weg.“ Das ist aber nicht der einzige Grund. Man darf bei diesen Konflikten generell nicht denken, dass es nur einen Grund gibt: Das ist ein Bündel von Motiven. Das war nur einer der Gründe, warum al-Assad im Westen in Ungnade fiel, weil dieser sehr lukrative Pipelinebau nicht stattfinden konnte. Als 2011 die Protestbewegung begann, machte das Regime den Fehler, diese mit äußerster Brutalität niederzuschlagen und verschiedene Staaten, allen voran die USA, die Türkei, die Golfstaaten und etwas später die Europäische Union, sagten sich: „Wunderbar, wir unterstützen diese Opposition und können auf diese Art und Weise al-Assad stürzen.“ Diese Opposition, wie sie gerne verharmlosend genannt wird, besteht aber im Wesentlichen aus Dschihadisten, die aus dem Irak in Richtung Syrien eingesickert sind. Es ist sehr wichtig, sich dies vor Augen zu halten, weil das mit dem offiziellen Narrativ der Sichtweise, wie hier der Krieg bei uns eingeordnet wird, in Syrien nicht übereinstimmt. Es war nicht die gesamte syrische Bevölkerung gegen das Regime von Baschar al-Assad, interessanterweise die religiösen Minderheiten im Süden gar nicht. Das Rückgrat des Aufstandes gegen al-Assad waren vor allem verarmte Sunniten. Man kann sagen, es war das sunnitische Prekariat in den Großstädten und im ländlichen Raum, die keine Perspektiven und Jobs hatten. Dann kamen auf einmal dschihadistische Gruppierungen, vor allem aus dem Umfeld des „Islamischen Staates“ und von al-Qaida, die diesen Leuten Jobs als Kämpfer anboten. Wenn ich keine Perspektive bzw. Alternative habe, dann ist das natürlich eine Option.
Darius Pidun
Bei der aktuellen Gemengenlage, gerade in Hinblick auf den Iran: Wenn man unter anderem betrachtet, dass die europäischen Interessen und die amerikanischen Absichten wahrscheinlich selten so weit auseinanderlagen, würde es implizieren, dass es schon eine ganz pragmatische Notwendigkeit einer wieder engeren Beziehung zwischen Europa und Russland geben muss. Welche Implikationen aus Ihrer Analyse würden Sie für die Beziehung Europas mit Russland sehen?

© Julius Hirtzberger

Michael Lüders
Ich würde denken, dass Europa so schnell wie möglich die Beziehung zu Russland normalisieren sollte und von dieser Eskalationsspirale Abschied nehmen sollte, die zweierlei zur Folge hat: eine ständige Dämonisierung Russlands und zum anderen den Unwillen, mit Russland wieder eine normale Ebene zu finden. Mittlerweile hat die Art und Weise, wie mit Russland umgegangen wird, fast schon die Züge einer kollektiven Hysterie. Ich verweise nur auf das Beispiel des vermeintlichen Giftanschlags auf das Ehepaar Skripal in Großbritannien, ein übergelaufener russischer Agent, der mit seiner Tochter in Großbritannien lebt. Dann kam dieser Anschlag auf ihn und seine Tochter mit dem angeblich tödlichsten Nervengift der Welt, Nowitschok. Sie überlebten ihn und es gibt bis heute nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Russland als Täter dahintersteckt. Dessen ungeachtet sagten aber die USA und 18 EU-Staaten unmittelbar danach einfach aufgrund der Behauptung der britischen Premierministerin Theresa May: „Das müssen die Russen gewesen sein. Eine andere Erklärung gibt es gar nicht.“ Man wies circa hundert russische Diplomaten aus. Ich halte das alles für Sandkastenspiele und es ist mir rational nicht nachvollziehbar, dass sich die Europäische Union, hier insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel, so willfährig gegenüber dem Vorstand aus Washington D. C. zeigt und seitens der NATO auf Russland ständig Druck ausübt. Es gibt viele sachliche Gründe, warum man gegenüber russischer Politik kritisch sein kann. Es gibt aber keinen Grund, Russland zu dämonisieren. Man kann sehr wohl und zu recht die Annexion der Krim verurteilen. Man muss aber gleichzeitig auch zur Kenntnis nehmen, dass diese im Westen als aggressiv empfundene Politik Putins nicht zuletzt auch ganz maßgeblich eine Reaktion auf die ständige Osterweitung der NATO war. Man muss sich einmal in Erinnerung rufen: 1989 fiel die Berliner Mauer. Die Russen zogen sich damals zurück. Das hätten sie nicht tun müssen. Sie hätten auch sagen können: „Wir bleiben!“ Und dann? Sie zogen sich also zurück und parallel bzw. zeitversetzt dazu betrieb die NATO eine ständige Osterweiterung. Die Angebote von Putin, die er wiederholt gemacht hat, zum Beispiel auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die Beziehung zum Westen bzw. zur NATO auf eine andere Ebene zu stellen, sind alle ins Leere gelaufen. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass vor allem die USA in Russland und China geostrategische Rivalen sehen, die sie klein halten wollen. Europa versteht nicht, dass die europäischen Interessen in diesem Kontext andere sind als die der USA. Vielleicht beginnt jetzt ein kleiner Sinneswandel, weil auch die größten Transatlantiker spätestens nach dem blamablen Gipfel in Kanada in der vorigen Woche begriffen haben: „Die US-Amerikaner und vor allem die Regierung Trump sind nicht unsere Buddys und wir müssen uns neu sortieren.“
Man muss sich einmal in Erinnerung rufen: 1989 fiel die Berliner Mauer. Die Russen zogen sich damals zurück. Das hätten sie nicht tun müssen. Sie hätten auch sagen können: „Wir bleiben!“ Und dann?Michael Lüders über die NATO-Osterweiterung nach dem Ende des Kalten Krieges
Darius Pidun
Warum hat sich die Beziehung der Europäer zu den Russen gerade auch schon vor der Annexion der Krim dermaßen verschlechtert? Als Gerhard Schröder damals noch Bundeskanzler in Deutschland war, waren die Beziehungen auf einem sehr guten Weg. Wladimir Putin redete im deutschen Bundestag. Das hatte fast freundschaftliche Züge. In Österreich sind die Beziehungen eigentlich traditionell relativ entspannt und zumindest produktiv. Gab es da einen Knackpunkt? Was ist da geschehen?
Michael Lüders
Ich glaube nicht, dass es den einen Knackpunkt gab, sondern, dass es einen sukzessiven Druck und Ermahnungen aus den USA gegeben hat, um diese Beziehung nicht zu eng werden zu lassen. Es liegt nicht im geostrategischen Interesse der USA, wenn ein Wirtschaftsraum zwischen der Europäischen Union und Russland entsteht. Es ist für die Amerikaner günstiger, wenn die Europäer zum Beispiel das durch Fracking hergestellte, überteuerte Erdöl, das auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig ist, einkaufen und nicht das Erdgas aus Russland, um nur ein Beispiel zu nennen. Die USA sind – so wie ich es sehe – eine Weltmacht im Niedergang, die sich nicht damit abfinden mag, dass auch andere Akteure in der Weltpolitik aufgetreten sind, namentlich Russland und China, die ihre eigene Agenda und Interessen haben. Normalerweise müsste man sich über diese Interessen austauschen und sich die Frage stellen, wie ein Interessensausgleich hergestellt werden kann. Die Hardliner in den USA, die Falken, wie sie vor allem durch den neuen nationalen Sicherheitsberater John R. Bolton verkörpert werden, wollen nicht den Kompromiss mit anderen, sondern die Beibehaltung der eigenen Dominanz mit allen Mitteln, auch militärischen. Sie wollen mit Drohkulissen erreichen, dass die andere Seite nachgibt. Diejenigen, die diese Logik vertreten, sahen sich natürlich in dieser Entwicklung gegenüber Nordkorea durch das Treffen zwischen Donald Trump und Kim Jong-un am 12. Juni 2018 in ihrer Einstellung bestätigt, dass man Druck ausüben und massive Forderungen stellen muss. Irgendwann knickt die Gegenseite ein. Das ist die Überlegung. Man glaubt auch mit Blick auf Russland, dass man das Land so sehr unter Druck setzen kann, dass es irgendwann sagt: „Das ist uns alles zu riskant. Wir knicken ein.“ Das funktioniert aber so in der Politik nicht. Die Russen haben – ob uns das gefällt oder nicht – ihre eigenen geostrategischen Interessen und diese kann man gut oder richtig finden, sie sind aber da. Wir im Westen neigen dazu, diese geopolitischen Interessen zu dämonisieren und zu sagen: „Pfui, das ist böse! Das dient nicht dem Menschen. Russland unterdrückt. Es gibt keine Freiheit.“ und so weiter. Das kann man auch alles kritisieren. Das ändert aber nichts an der Legitimität geopolitischer Interessen. Das Problem für Russland ist, dass Russland wirtschaftlich schwach ist, anders als China. Bei den Chinesen versuchen die USA auch, das Land durch Handelssanktionen in die Knie zu zwingen. Das kann aber niemals gewinnen. Das wissen die Amerikaner auch, weil die Volkswirtschaften beider Länder zu sehr ineinander verflochten sind. Die Handelsbeziehungen zwischen den USA und Russland betragen – wenn ich mich richtig erinnere – gerade einmal 10 Prozent des Handelsvolumens zwischen Deutschland und den USA. Man glaubt von amerikanischer Seite, man könne beliebig Druck ausüben. Das tut man nicht nur auf Handelsebene, sondern auch über die NATO. Es ist mir persönlich ein großes Rätsel, dass sich europäische Politiker dieser Linie, die vor allem aus den USA vorgegeben wird, so vorbehaltlos anschließen, obwohl europäische Interessen in diesem Zusammenhang andere sind als die der USA. Ich glaube aber, dass dieses ganze negative Russlandbild an alten Stereotypen bzw. Denkmustern anknüpft: Der Russe war in der deutschen Wahrnehmung während des Kalten Krieges der Feind, im Zweiten Weltkrieg sowieso. Ich glaube, dass diese kulturellen Muster nachwirken. Es ist mir anders nicht erklärlich, wenn man Artikel wie etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) liest, in der kürzlich in einem Leitartikel der deutsche Außenminister Heiko Maas gepriesen wurde, den viele für ein ausgesprochenes Leichtgewicht halten, weil er nämlich – so die Argumentation des Artikels – harte Kante gegenüber Putin fährt und das sei gut. Er hätte endlich den historischen Ballast aus der Zeit der Ostpolitik abgelegt, dieser Quatsch bezüglich Egon Bahr, Willy Brandt etc. Er hätte sich jetzt davon emanzipiert und wurde sehr positiv dargestellt. Da fragte ich mich bei der Lektüre, wie verblendet dieser Autor sein muss, wenn er einen Kurs der Konfrontation der Deeskalation vorzieht.
Michael Lüders

© Julius Hirtzberger

Darius Pidun
Heißt das, dass Sie sich für eine Außenpolitik à la Willy Brandt, Egon Bahr, im österreichischen Kontext auch Bruno Kreisky, in Schweden Olof Palme aussprechen, die auch damals zur Entspannung zwischen Mitteleuropa und Russland wesentlich beitrug. Ist genau das Ihre Forderung?
Michael Lüders
Die Zeiten haben sich geändert. Die Ostpolitik der 1970er-Jahre kann man nicht in der Gegenwart 1:1 fortfahren, aber ich glaube, man muss von dem moralisch überhöhten Anspruch wegkommen, eine Wertegemeinschaft zu sein und ständig im Namen vermeintlicher Werte eine Politik der Konfrontation zu betreiben. Politik ist grundsätzlich interessegeleitet und hat mit Moral – jenseits von Rhetorik – sehr wenig zu tun. Diese Interessen gilt es, klar und deutlich zu benennen.
Darius Pidun
Da muss ich einwerfen: In der Politik geht es auch um knallharte Verhandlungen. Wird ein Verhandlungspartner, der seine echten Interessen knallhart benennt, überhaupt ernst genommen?
Ich muss russische Politik nicht mögen, aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass Russland mindestens so viele Atombomben wie die USA hat und eine Politik der ständigen Konfrontation nicht zielführend ist.Ist eine ständige Moralisierung der Politik zielführend?
Michael Lüders
Man kann natürlich nicht vor laufender Kamera verhandeln. Man muss das in den Hinterzimmern machen, man muss sich treffen und austauschen und man muss informelle Kontakte haben. Zur Zeit der Ostpolitik war es so, dass auf allen Politikebenen Deutschland Kontakte zu russischen Counterparts hatte. Wenn also Egon Bahr wissen wollte, was in Russland los war, wenn es irgendeine Verstimmung in der Politik gab, wo es einfach notwendig war, informelle Rücksprache zu halten, ohne, dass es zu einem Eklat auf höherer Ebene kommt, griff man zur Telefonnummer des Counterparts auf russischer bzw. damals sowjetischer Seite, redete miteinander und klärte ab, wie die Lage war, wodurch deeskaliert werden konnte. Heute ist es so, dass diese Kontakte unterhalb der Ebene von Außen- und Wirtschaftsministerium in Richtung Russland kaum noch vorhanden sind. Das heißt, wenn irgendein Konflikt da ist, dann wird er auf hoher Ebene angesprochen. Das muss sehr förmlich geregelt werden. Die informelle Ebene fehlt. Der Kern der Ostpolitik, Egon Bahr und Willy Brandt, waren keineswegs Freunde der Sowjetunion und des Kommunismus. Sie wären nie auf die Idee gekommen, zu sagen: „Ihr Sowjets reißt erst einmal die Berliner Mauer ab. Wenn ihr das gemacht habt, dann sehen wir weiter. Dann überlegen wir, ob wir euch ein paar wirtschaftliche Vorteile verschaffen.“ Das wäre nicht gegangen. Sie wären auch gar nicht auf die Idee gekommen, so zu denken. Heute ist das aber das vorherrschende Denkmuster. Es werden Fakten geschaffen und man setzt der anderen Seite die Pistole auf die Brust und sagt: „Ihr müsst jetzt aber!“. Darauf lassen sich aber die Russen und Chinesen nicht ein, weil sie sagen: „Wir haben auch!“. Ich muss russische Politik nicht mögen, aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass Russland mindestens so viele Atombomben wie die USA hat und eine Politik der ständigen Konfrontation nicht zielführend ist. Anstatt häufig die moralische Überhöhung in den Vordergrund zu stellen, wäre es doch eigentlich hilfreicher, auf der Ebene von Pragmatismus kleine Schritte zu machen und zu sehen, wie man deeskalierend wirken kann. Diese Ebene fehlt mir.
Darius Pidun
Lassen Sie mich noch zu einem letzten Punkt kommen, den ich außergewöhnlich spannend finde. Sie beschreiben in Ihrem Buch „Wer den Wind sät“, – wenn ich Sie richtig verstanden habe – dass es dem Westen egal ist, ob es in irgendeinem Land im Osten einen Diktator gibt oder welches politische System dort vorherrscht, er muss nur pro-westlich sein. Im Zuge dessen haben Sie auf das Beispiel in Ägypten verwiesen, wo man mit Abd al-Fattah Said Husain Chalil as-Sisi ja auch einen sehr autoritären Herrscher derzeit vorfindet. Jetzt haben wir in Deutschland, in Österreich, generell in Europa in den letzten Jahren mehr oder weniger fast ausschließlich über die Flüchtlingskrise geredet. Ich weiß nicht, wie häufig das analysiert wurde. Welche Schlagwörter immer wieder fallen sind unter anderem: „Es muss mehr Hilfe vor Ort geben.“ Auf der anderen Seite ist auch das Thema Flüchtlingsursachenbekämpfung immer wieder in den Mittelpunkt gerückt. Da haben Sie auf die Situation der Ägypter hingewiesen. Wenn man sich das syrische Beispiel anschaut und das dann in Vergleich setzt, wie man den ägyptischen Fall behandelt: Inwiefern kann die Situation in Ägypten für Europa noch relevant werden?

© Julius Hirtzberger

Michael Lüders
Ägypten ist das bevölkerungsreichste arabische Land mit mindestens 90 Millionen Einwohner. Die wirtschaftlichen Rahmendaten in Ägypten sind katastrophal. Wäre das Land ein Unternehmen, müsste es schon längst Konkurs anmelden. Dadurch, dass as-Sisi pro-westlich und auch pro-saudisch ist, bekommt er Geld, um zu überleben. Das Land wird nicht pleitegehen und as-Sisi fährt die Linie: „Ich bin zu groß, um scheitern zu können, denn wenn 90 Millionen Menschen keine Perspektive haben und wenn erstmal die Wanderbewegung einsetzt – das wollen die Europäer nicht, das will niemand – werden die mich weiter unterstützen.“ Das ist sein Kalkül. Das funktioniert auch durchaus, denn die westlichen Staaten sind sehr unkritisch gegenüber der Politik as-Sisis. Nur as-Sisi ist nicht fähig, dem Land in wirtschaftlicher Hinsicht irgendeine Perspektive zu geben. Es gibt nichts, was beispielsweise einer Mittelstandsförderung auch nur nahekommen würde. Was es gibt, ist eine Ausplünderung der Staatskasse zugunsten der Oligarchen, der Machtelite aus Politik und sehr reichen Unternehmern. Darunter wird quasi nichts getan, für den Sockel der sozialen Pyramide, mindestens 40 Millionen Ägypter, die nicht lesen und schreiben können und keinen Job haben. Für die macht er nichts. Das ist ein Sprengsatz, der sich hier entwickelt und entzündet und man glaubt, dass man as-Sisi durch Geldgeschenke dazu bringen kann, dass er die Grenzen dicht hält. Das funktioniert im Augenblick, aber die Frage ist, wie lange das noch gut geht. Ich wage da keine Prognose. Ich denke, es wird in Ägypten irgendwann zu Hungeraufständen kommen, weil zu viele Menschen zu wenig zu essen haben. Auf Dauer geht das nicht gut, aber wann es kracht, weiß natürlich keiner.
Darius Pidun
Verbirgt sich dahinter ein potentieller neuer Flüchtlingsstrom, der auch Europa betreffen könnte?
Michael Lüders
Theoretisch ja, aber die größere Gefahr ist im Augenblick hier und heute die weitere Entwicklung mit allem, was mit dem Iran zusammenhängt. Wenn der Iran tatsächlich angegriffen werden sollte, dann werden sich die Iraner nicht einfach angreifen lassen und sagen: „Pech gehabt.“, sondern werden reagieren. Dann wird die ganze Region dort mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen werden, was natürlich zusätzliche Flüchtlingsströme produzieren wird. Wenn wir über Flüchtlinge reden, dann sollte man in der Tat alles tun, um es nicht mit dem Iran zum Konflikt kommen zu lassen. Ich sehe da zurzeit die größere Gefahr als in Ägypten, was aber in einem Jahr schon wieder anders aussehen kann. Ägypten ist ein Sieb, wo das Wasser durchläuft, und irgendwann wird es ganz kaputtgehen.
Michael Lüders‘ neues Buch „Armageddon im Orient“ ist am 30. August 2018 bei C.H. Beck erschienen. In diesem bietet er unter anderem weiterführende Analysen zu den im Gespräch behandelten Themenkomplexen. Es ist hier erhältlich.