„Ich habe die Wechselfelder des Lebens gesehen und muss mir das von niemandem vorhalten lassen.“ – Matthias Strolz, Vorsitzender der NEOS, lässt sich nicht vorwerfen, ein abgehobener Bonze zu sein. „Ich bin ein Bergbauernkind“, sagt er stolz in die Kamera. Im Gespräch mit Muamer Bećirović spricht er vom „Todeskampf dieser zwei großen, alten Parteien“, der nun von Personenmarken wie Christian Kern oder Sebastian Kurz überschattet werde. Über den Verrückten in Washington, den Nanny-Staat und die Selbsttäuschungen des Alters.
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Muamer Bećirović
Du hast früher viel verdient und warst erfolgreich mit deinem Unternehmen. Warum hast du dich mit der politischen Elite des Landes angelegt, obwohl du nicht wissen konntest, ob du überhaupt in den Nationalrat einziehen würdest?
Matthias Strolz
Ich bin meinem Herzen gefolgt – und hab‘ scheiß Angst gehabt. (lacht) Natürlich habe ich gewusst, dass das mein Leben völlig auf den Kopf stellen wird. Die Abwägung zwischen Lust und Angst – in der Psychologie als Angstlust bezeichnet – hat mich jahrelang geprägt. Ich habe mich früh mit Politik beschäftigt, Bücher geschrieben, mich persönlich weiterentwickelt. Als dann meine Kinder durchschliefen, meine Frau kein Veto einlegte – auch wenn ihre Begeisterung bis heute überschaubar ist – und das Unternehmen ohne mich überlebensfähig war –, wurde die Lust größer als die Angst. Es gab – außer zu kneifen – keinen Grund mehr, der mich zurückhalten konnte. Ich bin davon überzeugt, dass „ungelebtes Leben“ einen vergiftet. Und hätte ich mich nicht entschieden, diesen Schritt zu gehen, hätte ich „ungelebtes Leben“ gehabt.
Muamer Bećirović
Aber du wärst doch wohl in jeder anderen Partei untergekommen, sei es bei der Volkspartei oder den Sozialdemokraten. Also wieso hast du es für nötig gehalten, eine neue Partei zu gründen?
Matthias Strolz
Bei den Sozialdemokraten bin ich mir nicht sicher. Da gibt es zwar imposante Leute und durchaus die eine oder andere Idee, die mich interessiert, aber das wäre wohl nicht das Richtige gewesen. Von der ÖVP hatte ich schon während meines Studiums das Angebot, in das Presseteam des Vorarlberger Landeshauptmanns einzusteigen, doch das wollte ich damals nicht. Ich wollte unabhängig sein. Auch deshalb habe ich ein eigenes Unternehmen gegründet und es zwölf Jahre lang geführt. Es ist mir zudem ein großes Anliegen, nie von der Politik abhängig zu sein, weil ich weiß, wie die Politik versucht, Delinquenz herzustellen. Wenn man von einer Partei abhängig ist, muss man der Disziplin gehorchen; tun, was von einem verlangt wird, denn politische Organisationen wissen, wie man in den eigenen Reihen diszipliniert. Dem wollte ich mich entziehen. Ich wollte einfach etwas Neues gründen. Denn ich bin nach wie vor der Meinung, dass das Alte im Sterben liegt. Der Todeskampf dieser zwei großen, alten Parteien ist lang und wird nun von Personenmarken wie Kurz und Kern überstrahlt. Doch hinter den Kulissen geht dieser weiter. Man blicke zum Beispiel nach Frankreich zu den Sozialisten, die sogar im einstelligen Bereich sind. Österreich wird weltweit keine Ausnahme sein.
Muamer Bećirović
Du hast mir damals einmal gesagt, dass Politik eine Droge sei.
Matthias Strolz
Ja, Politik kann eine Droge sein.
Muamer Bećirović
Aber warum entschließt sich ein Christian Kern, der als Chef der ÖBB das Vielfache verdient hat, in die Politik zu gehen? Er weiß doch, dass die Macht als Bundeskanzler in einer rot-schwarzen Konstellation sehr beschränkt ist. Ich kann es mir rational nicht erklären.
Matthias Strolz
So wie ich dich kenne, hast du doch immer eigene Hypothesen. Was denkst du?
Muamer Bećirović
Ich glaube, dass die Lust am politischen Spiel sehr groß ist, dass diese vielleicht sogar das Spannendste ist.
Matthias Strolz
Ja, das glaube ich auch.
Muamer Bećirović
Aber als Hauptgrund?
Matthias Strolz
Ein Vergleich, den ich dafür gerne verwende, ist das Dschungelcamp. Politik mag anspruchsvoller – und vor allem echt – sein, doch die Elemente sind ähnlich. Wie im Regenwald hinter jedem Baum ein Fallstrick oder eine Schlange lauern kann, ist dir in der Politik nicht jeder wohlgesonnen. Dann taucht da und dort eine beeindruckende Blume oder eine andere schöne Überraschung auf. Es ist jeden Tag etwas Neues. Die Politik hält sich teilweise für den Nabel der Welt. Das halte ich für eine falsche Annahme – auch wenn es natürlich ein „glamorous business“ ist. Dazu kommt noch die Ambivalenz der Leute. Die, die am meisten über Politik herziehen und diese als das Letzte verurteilen, sind bei Grillpartys plötzlich extrem interessiert und nett. Man wird auch selten auf Grillpartys beschimpft, obwohl man als Politiker in den Beliebtheitsrankings meist – gemeinsam mit Prostituierten, Journalisten und Bankern – weit unten angekommen ist. Der Bürger ist extrem gespalten. Und natürlich gibt Politik einem auch einen Kick. Als „Haupttrigger“ ist aber hoffentlich auch ganz viel Idealismus dabei.
Muamer Bećirović
Bist du dir da sicher? Oder ist das nur eine Hoffnung?
Matthias Strolz
Selbst der junge Michael Häupl ist mit Idealismus eingestiegen.
Muamer Bećirović
Eingestiegen ja, aber hinausgekommen ist er anders.
Matthias Strolz
Genau deshalb wollen ja die NEOS einiges anders machen: Amtszeitbeschränkungen einführen – bei uns gibt es keinen Häupl oder Pröll.
Muamer Bećirović
Aber wozu, wenn sie wieder gewählt werden?
Matthias Strolz
Die Runde der Speichellecker wird immer kleiner, dafür intensiver. Das Anfüttern wird immer unappetitlicher, die strukturelle Korruption sinkt in den politischen Alltag ein. Bei den NEOS haben wir Prozesse, offene Vorwarnungen, Transparenz von Finanzen, Amtszeitbeschränkungen. Das machen wir anders.
Muamer Bećirović
Bezüglich Idealismus: Ich bin jetzt seit einem halben Jahrzehnt im politischen Geschäft und meine Beobachtung ist, dass zwar alle wissen, was zu tun ist, es aber nicht machen. Die Konzepte und Maßnahmen liegen alle schon in der Schublade, aber die Angst vor einem möglichen Machtverlust ist größer als der Gedanke an Idealismus. Mir würde in der Politik niemand einfallen, der seine Macht aufs Spiel setzen würde, um Sachen umzusetzen oder das Richtige zu tun. Ich gebe dir ein anschauliches Beispiel: Acht Jahre Faymann werden in der Geschichte Österreichs definitiv als verlorene Geschichte eingehen, oder etwa nicht?
Matthias Strolz
Ich erhebe den Anspruch, dass ich das anders mache. Ich möchte, dass, wenn ich von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt werde, sie sich sicher sein können, dass ich meinem Gewissen folge. Ich möchte Erneuerung bringen. Ich bin nicht von der Politik abhängig und ich möchte es nie sein. Ich muss nicht Politik machen, ich will Politik machen. Deswegen will ich NEOS auch in Regierungsverantwortung sehen. Ich will diese Kraft an den Hebeln der Macht erleben. Nirgendwo in Österreich ist die Macht besser aufgehoben als bei uns. Wir werden sie anders leben. Wenn wir das nicht tun, dann soll man uns nicht wieder wählen. Denn Österreich braucht keine fünfte Parlamentskraft, nur damit es „more of the same“ gibt. Österreich braucht etwas Neues, um aus diesen strukturellen Verhärtungen herauszukommen. Und die sind auch das Problem: Während man mir unter vier Augen sagt, was zu tun sei, geschieht nach außen hin nichts. Das bringt mich zur Verzweiflung.
Muamer Bećirović
Ja, das verstehe ich.
Matthias Strolz
Unter vier Augen gibt es für viele Dinge eine Mehrheit. Doch sobald sie in die qualifizierte Öffentlichkeit kippen, evaporiert die Vernunft und steigt hinauf, um dann irgendwo zwischen Klubzwang, Unvernunft, Fußfesseln eines Landeshauptmanns oder einem anderen „Scheiß“ zu verschwinden, der sie daran hindert, etwas weiterzubringen. Das nervt mich. Aber wir [NEOS; Anm.] sind frei von Fußfesseln. Deshalb glaube ich, dass wir diesem Land viel geben können.
Muamer Bećirović
Gerhard Schröder hat mit der „Agenda 2010“-Reform bewusst in Kauf genommen, die Wahl zu verlieren. Es liegt also an Personen, die tun müssen, was sie für richtig halten. Dieses Phänomen, bei dem die Leute Dinge einfach durchziehen – trotz massivem Widerstand aus den eigenen Reihen –, gibt es in Österreich nicht. Wieso nicht?
Matthias Strolz
Das ist wie bei Matteo Renzi, der gesagt hat, dass, wenn er scheitern sollte, er gehen werde – und jetzt kämpft er sich wieder zurück. Das ist eine Qualität, von der wir mehr haben wollen. Doch ich kann das nicht moralisieren. Ich kann nur versuchen, es anders zu leben. Wir [NEOS; Anm.] wollen diese Qualität bringen. Aber wenn wir diese Qualität nicht bringen sollten, braucht man uns auch nicht.
Muamer Bećirović
Also hast du keine Erklärung, wieso das in Österreich so ist?
Matthias Strolz
Ich glaube schon, dass die strukturelle Versteinerung unseres Politsystems in Österreich eine ganz hohe Qualität hat. Wir hatten die höchste Rate an Parteimitgliedschaften einer westlichen Demokratie. Wir hatten keinen politischen Pendelschlag, sondern ein Machtkartell, in dem über 70 Jahre ganze Lebensläufe ganzer Familien jahrzehntelang auf Parteizugehörigkeit aufgebaut wurden. Diese Struktur erodiert zwar allmählich – jedoch mit einem langen Echo. Ich sehe es am Land, wenn in einem Gemeindesaal eine NEOS-Veranstaltung stattfindet. Da gibt es Leute, die auf ihrem Fahrrad sechs Mal rund um den Gemeindesaal fahren, bis ich sie frage, was los sei. Als Antwort bekomme ich dann, dass sie Angst hätten, dass teilzunehmen für ihr und das Leben ihrer Angehörigen negative Konsequenzen haben könnte; weil irgendjemand anwesend sein könnte, der Protokoll über diejenigen führt, die der Veranstaltung beiwohnen.
Muamer Bećirović
Geht das wirklich so weit?
Matthias Strolz
Naja, es könnte schon den Unterschied ausmachen, ob zum Beispiel das Enkelkind den begehrten Kindergartenplatz bekommt, oder nicht.
Muamer Bećirović
(verwundert) Ernsthaft?
Matthias Strolz
Ja natürlich. Die Leute haben im großen Stil Schiss. Daran haben aber nicht nur Rot und Schwarz Schuld, sondern auch die Blauen und Grünen. Wir haben nun bald ein digitales Melderegister. Das heißt, man kann zukünftig ein Volksbegehren in jeder Gemeinde unterstützen. Doch die Parlamentskräfte – ausgenommen wir – haben beschlossen, dass, sobald neue Parteien kommen, diese Unterstützungserklärungen in allen Bundesländern brauchen und diese am Heimatgemeindeamt abgegeben werden müssen. Obwohl es technisch leicht wäre, die Abgabe überall zu ermöglichen, wird bewusst diese Hürde der Bürgereinschüchterung aufrechterhalten, weil Konkurrenz nicht erwünscht ist. Das ist der Geist, der in diesem Land weht. Das müssen wir sprengen. Da bin ich Sprengmeister! Das ist unser Auftrag. Man weiß, dass diese Einschüchterung funktioniert, und daher wird sie aufrechterhalten – mit Hilfe von Blau und Grün.
Muamer Bećirović
Aber nochmal zurück zu der Frage, ob es jemanden gäbe, der, um das Richtige zu tun, seine Macht auf das Spiel setzen würde. Wie viele Politiker kennst du in Österreich, die das wirklich in Erwägung ziehen würden?
Matthias Strolz
Das ist so eine Schwarz-Weiß-Frage, bei der man nicht so leicht sagen kann, wer in welchem Lager anzusiedeln ist. Ich würde mir natürlich mehr Politiker mit aufrechtem Gang wünschen, mehr Rücktrittskultur. Ich wünsche mir mehr Risiko – als Rückansicht der Chance. Ich will für Chancen stehen. Und Chancen sind immer mit Risiko verbunden.
Muamer Bećirović
Ist unsere politische Kultur Schrott?
Matthias Strolz
Über weite Strecken ist sie echter Schrott, der über den Haufen gefahren und weggeräumt gehört. Wir müssen einen Stein nach dem anderen aus dieser Ruine der Macht hinaustragen und mit ihnen etwas Neues bauen. Ich bin überzeugt: Österreich ist an einem Wendepunkt. Nach sieben Jahrzehnten ist das System an seinem Ende angelangt – die Frage ist, was danach kommt. Ich denke nicht, dass das alte System noch zu retten ist, auch wenn diese Entwicklung derzeit von Personenmarken, wie Kern und Kurz, überblendet wird. Es ist wie mit einem Auto, das völlig kaputt ist und trotzdem nochmal neu lackiert wird.
Muamer Bećirović
Der deutsche Bundeskanzler Schmidt hat einmal gesagt, wer Visionen habe, solle zum Augenarzt gehen. Nehmen wir uns geschichtliche Beispiele heraus – um von der Umsetzung von Visionen zu sprechen: Figl und Raab wollten die Alliierten weghaben und die österreichische Nation festigen. Kreisky wollte Österreich modernisieren und hat dies durchgesetzt. Schüssel hatte den Plan, mehr Privat, weniger Staat, und hat ihn durchgesetzt. Aber so richtige Visionen hat letzten Endes fast niemand umgesetzt. Bis auf ein paar Einzelpersonen ist kaum jemandem ein großer Wurf gelungen. Sind Visionen nicht eigentlich etwas Entbehrliches? Wieso bleibt man nicht pragmatisch?
Matthias Strolz
Ich glaube, dass beides vorhanden sein sollte. Visionen müssen der Leuchtturm sein, der als Anker die Richtung vorgibt; der zeigt, welche Richtung zu gehen ist. Dieser Richtung folgend, sollte man dann pragmatisch kleine Schritte gehen. Ich möchte einen anderen Österreicher dagegenhalten: Karl Popper und seine offene Gesellschaft. Er hat gesagt, Politik und Demokratie seien immer – und notwendigerweise Stückwerk. In einer Demokratie geht man kleine Schritte, und ich glaube, das macht auch Sinn für die Menschen. Die großen Schritte geht ein Diktator in Nordkorea. Aber nicht einmal der Verrückte in Washington [Donald Trump; Anm.] kann große Schritte gehen. Das ist auch sinnvoll so, sonst macht er in seinem Wahn einen großen Schritt Richtung „roten Knopf“. Da sind wir alle froh, dass das gar nicht so schnell geht. Aber um kleine Schritte sortiert in eine Richtung gehen zu können, braucht man einen Leuchtturm, einen Nordstern. Deshalb ist es mir ein Anliegen, diesen noch einmal bei NEOS zu formulieren. Meine Vision für Österreich ist Flügelheben, Neuaufladen. Ich habe die Vision, dass wir in diesem Land das Leben selbst in die Hand nehmen können; dass in jedem von uns etwas schlummert.
Muamer Bećirović
Wieso hat eine FPÖ dann mehr Zulauf als NEOS? Ihr [NEOS; Anm.] macht weitaus vernünftigere Politik, veröffentlicht ein Wirtschaftsprogramm, ein Bildungsprogramm – doch es scheint nicht zu reichen. Wieso?
Matthias Strolz
Ja, das tut ab und zu weh und ich stelle mir diese Frage auch. Auf der anderen Seite kann ich nur das machen, was ich für richtig halte. Und da sind wir genau bei dem Punkt: Wenn ich überlege, was ich tun müsste, damit ich möglichst viele Stimmen kriege, dann wüsste ich, was ich medial plakatieren müsste. So etwas wie „Auße mit de Tschuschen“ könnte ich dann im Bierzelt schreien, während jeder Anwesende ein paar Liter Bier bekommt. Aber das bin ich nicht.
Muamer Bećirović
Kannst du mir erklären, wieso solche Maschen funktionieren?
Matthias Strolz
Weil die Menschen sich nach Klarheit sehnen, in diesen volatilen, unsicheren und problembehafteten Zeiten.
Muamer Bećirović
Aber die haben sie ja zu Haiders Zeiten gehabt. Die haben sie ja immer.
Matthias Strolz
Dann kommt einer wie der Herr Strache, der sagt, er werde das ganz einfach wieder „easy peasy“ in Ordnung bringen. Ich kann nicht versprechen, dass ich alles sofort in Ordnung bringe. Aber ich habe die Kapazität, die Welt zu einer besseren mitzugestalten. Wir können in Österreich Chancen anstatt Ängste kultivieren. Das ist mein Versprechen. Das klingt ein bisschen komplizierter. Ich kann versprechen, dass es – wenn wir an der Macht sind – für künftige Generationen mehr Chancen geben wird, ihre Flügel zu heben. Ich kann sogar garantieren, dass wir das Pensionssystem so umbauen werden, dass sich die nächste Generation an Pensionisten auch darauf verlassen kann. Das sind die Versprechen, die ich machen und auch einhalten kann. Wenn wir all das nicht machen würden, werden unsere Mitglieder uns sicherlich nicht in der Regierungsverantwortung sehen wollen. Das halt nicht so plakativ wie „Hey, komm‘ vorbei! Wir hauen den Schuldigen, trinken dabei ein Bier und fühlen uns erleichtert vom Schmerz des Alltags“.
Muamer Bećirović
Du willst doch an die Macht?
Matthias Strolz
Ja, aber nicht zu jedem Preis.
Muamer Bećirović
Du musst ja keine nationalsozialistisch-angehauchten Reden schwingen. Wäre es nicht dennoch eine Möglichkeit, ein Bierzelt zu veranstalten?
Matthias Strolz
Natürlich arbeiten wir auch mit Inszenierungen. Wir sind jetzt keine Moralapostel, die sich öffentlich zum Rosenkranz treffen. Natürlich müssen wir NEOS geerdeter werden, runter vom Intellektuellen. Die Leute müssen vermehrt verstehen, wofür wir stehen – und das braucht seine Zeit. Es gab einen, der gleichzeitig mit mir gestartet ist, 40 Millionen Euro mehr zur Verfügung hatte, dazu einen bekannten Namen [die Rede ist vom „Team Stronach“; Anm.]. Den habe ich überrundet. Heute haben die meisten den Namen schon verdrängt. Das nächste Etappenziel ist, die Grünen zu überholen. Ich glaube, sie hatten ihre Chance, Veränderung zu bringen. Sie waren damals auch ganz wichtig in Österreich, haben im Moment aber nicht den „Punch“, nicht die Kraft. Wir haben sie, diese Kraft. Wir, NEOS, haben Spinat gegessen. Und ich glaube, die Menschen werden das erkennen.
Muamer Bećirović
Das Wort „opportun“ bedeutet, das zu tun, was in einer Situation angebracht oder nützlich ist. Sollte diese Eigenschaft eigentlich nicht jeder fähige Politiker mitbringen?
Matthias Strolz
Bis zu einem gewissen Grad, aber auch hier gibt es Schattierungen, Zielkonflikte, Moral sowie Standards, die man sich selbst aufstellt. Ich meine, wenn ich dir jetzt eine runterhaue, könnte das opportun sein, jedoch mache ich das nicht, weil es eben Konventionen gibt, mit denen wir uns das verboten haben. Nichtsdestotrotz bin ich nicht frei von Opportunismus. Aber mich nach dem Opportunismus zu richten, ist nicht mein Leitstern. Ich würde mich sonst anders verhalten – und das wissen die Bürgerinnen und Bürger auch.
Muamer Bećirović
Kannst du nachvollziehen, dass man sagt, Politik sei ein dreckiges Geschäft?
Matthias Strolz
Mitunter natürlich. Ich habe mir vorgenommen, dazu keine Beiträge zu leisten, dass es noch dreckiger wird. Mein Beitrag ist, eine vitalere, lustvollere und hellere Politik zu machen.
Muamer Bećirović
Was unterscheidet eigentlich meine politische Generation von deiner? Ich glaube, dass meine wesentlich pragmatischer ist.
Matthias Strolz
Sind wir nicht beide jung? (lacht)
Muamer Bećirović
Ein bisschen älter bist du schon.
Matthias Strolz
Hm… „Forever young“ ist eine meiner Selbsttäuschungen. Ab und zu vergesse ich, dass wir nicht dieselbe Generation sind. Ich war unlängst in Laab im Walde und sagte zu einem Herren: „Boah, du schaust aus wie 45, 46!“ Er hat mir gesagt, dass er sich auch so fühle, als sei er irgendwie jugendlich. Tatsächlich war er schon 58. Und so geht es mir ab und zu auch. Ich vergesse des Öfteren, dass ich gar nicht mehr so jung bin. Ich glaube zudem, dass diese Frage nicht homogen zu beantworten ist. Es gibt sowohl in deiner als auch in meiner Generation Leute, die im Geiste älter oder jünger sind. Das politische System ist ausdifferenzierter geworden. Es gibt viele Sparten und Nischen.
Muamer Bećirović
Aber hast du nicht das Gefühl, dass die alten politischen Generationen besser waren? Ich bin zweifelsohne davon überzeugt, dass dem so ist.
Matthias Strolz
Nein, das glaube ich nicht. Aber ich glaube, dass die Verführungen größer sind als früher. Das Spielfeld ist ein anderes, die Beschleunigung ist ultimativ.
Muamer Bećirović
Werner Faymann hat innerhalb seiner achtjährigen Amtszeit – bis auf die Steuerreform – kaum etwas bewegt. Wird das politische Personal schlechter?
Matthias Strolz
Ich bin kein großer Faymann-Fan. Ich glaube auch nicht, dass er in der Galerie ganz oben steht. Damals waren das jedoch einfach andere Zeiten. Damals ist der Kaiser zum Beispiel durchs Land gereist, wurde überall verehrt. Zu dieser Zeit hatte er ja auch noch kein Instagram, hat sich nicht überall sehen lassen, war nicht jeden Tag auf Facebook, wurde nicht ständig fotografiert. Er konnte seine intimen Momente für sich alleine behalten. Selbst zu Kreiskys Zeiten fand sich niemand, der über seinen Gang zum Klo berichtete. Heute wird täglich durchgekaut, wer wann wo aufs Klo geht. Oder glaubst du, dass, wenn jene, die du hier so lobst, heute das politische Spielfeld beträten, als leuchtender Stern alle anderen einstecken würden?
Muamer Bećirović
Ich denke schon.
Matthias Strolz
Diese Einschätzung teile ich nicht.
Muamer Bećirović
Die Sachkenntnis der Politiker war damals viel größer. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und mir 30, 40 Jahre alte Talkshows angesehen. Da ist viel mehr Sachkenntnis bei den einzelnen politischen Verantwortlichen vorhanden gewesen. Die politische Kultur war eine ganz andere. Ein Busek hat Kampfabstimmung nach Kampfabstimmung anberaumt, bis er nach oben gekommen ist. Heute wird man so etwas nie wiedersehen, und genau das meine ich damit. In meiner Generation ist es undenkbar, dass es Typen gibt, die alles auf eine Karte setzen, oder die unangenehm auffallen.
Matthias Strolz
Um nicht bescheiden zu sein: Ich habe es gemacht.
Muamer Bećirović
Das stimmt, deswegen rede ich ja mit dir. Du bist ein Idealist.
Matthias Strolz
Ich will nicht sagen: „Ich bin der Idealist und alle anderen ,oasch‘“. Denn sie sind es nicht. Das System ist „oasch“ und wir müssen es über den Haufen fahren. Die Wählerinnen und Wähler müssen begreifen, dass sie mit den alten Parteien „oasch“ wählen.
Muamer Bećirović
Ich kann aber nicht glauben, dass die Politiker früher mit mehr Weisheit und Kenntnis bestückt waren. Heute geht es ja vielmehr um die PR und die Show.
Matthias Strolz
Die Weisheit leidet sehr – und das in allen Branchen, fürchte ich, nicht nur in der Politik. Die Weisheit hat einen ganz schlechten Stand in dieser beschleunigten Zeit. Denn sie ist ja auch eine Tochter der Ruhe. Und die Ruhe hat keinen Platz mehr auf dieser Welt. Wie man dies ändern könnte, weiß ich nicht, denn die Beschleunigung geht weiter. Politik zu machen, ist auch eine ganz andere Anforderung als vor zwanzig Jahren. Die Landschaft hat sich immens geändert, selbst in den letzten vier Jahren, die wir nun im Parlament sind. Wir bei NEOS sprachen über die wirklichen Herausforderungen für Österreich: Wir machen seit 55 Jahren Schulden. Allein in den letzten acht Jahren haben wir 60 Prozent an Staatsverschuldung zugelegt. Wir kommen in der Bildung nicht weiter, da das Parteibuch immer noch das wichtigste Buch in der Schule ist. Wir haben eine starre Abgabenquote, die wieder steigt.Wir haben die höchste Parteienfinanzierung Europas. Wir sind am oberen Ende, während gleichzeitig für allen möglichen Blödsinn Geld verschwendet wird. All die wirklich wichtigen Themen interessieren die Leute nicht mehr. Es geht nur mehr um Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge.
Muamer Bećirović
Du hast bei Rudi Fuß kritisiert, dass man mit der Burka das Land zwei Wochen lang medial lahmlegen könnte. Wie erklärst du dir das?
Matthias Strolz
Offensichtlich tun sich nicht nur die Politikerinnen und Politiker schwer mit der Beschleunigung, sondern auch die Menschen, die daher eventuell die Abkürzung wählen. Wenn die Komplexität zunimmt, braucht man wohl Abkürzungen, sonst erschlägt einen diese Reizüberflutung. Die Abkürzung beginnt schon bei der Auswahl des Mediums. Ich habe mich einmal mit meiner elfjährigen Tochter unterhalten und gefragt, warum sie immer zur „Österreich“ greife. Sie meinte, da seien am meisten Bilder drinnen, und außerdem schaue sie immer, wo der Papa in den Rankings liegt.
Muamer Bećirović
(lacht)
Matthias Strolz
Die gegenseitige Zuspitzung in der Politik – wer die Nase vorn hat – kann nur aufrechterhalten werden, wenn man sie zum täglichen Drama macht, zu einer Soap Opera mit täglicher Fortsetzungsgeschichte samt dramatischen Bildern und einem halbseitigen Text. Was anderes interessiert kaum noch jemanden. Das Drama interessiert.
Muamer Bećirović
Gibt es auf der anderen Seite nicht eine Sehnsucht nach Weisheit?
Matthias Strolz
Ich hoffe, dass es sie gibt. Mein Wachstum an Weisheit leidet ein bisschen unter meinem politischen Job. Da ist aber auch meine Sehnsucht nach Ruhe. Die Phase, die ich nach der Politik für mich persönlich einläuten werde, wird mit Ruhe zu tun haben.
Muamer Bećirović
Zwei Fragen noch. Warum können die Österreicher nichts mit einer liberalen Partei anfangen? Wieso gibt es die liberale Tradition in Deutschland seit 1945, in Österreich aber nicht?
Matthias Strolz
Da gibt es viele geschichtliche Ansätze. Allein am Ende des 19. Jahrhunderts, als der Liberalismus einmal kurz aufflackerte, wurde er bei uns unterdrückt – einerseits von der Sozialdemokratie, andererseits von der Christdemokratie. Das hat sich nochmals in der Zwischenkriegszeit als Kampf der zwei Blöcke aufgeladen. Da war kein Platz für eine dritte Kraft. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es einfach das Schicksal Österreichs. Die Großparteien teilten sich die Republik als Machtkartell. Das war damals wahrscheinlich richtig so. Die Liberalen hätten zu der Zeit ohnehin keinen Platz gehabt. Österreich war frei. Darüber war man nach zehn Jahren Besatzung froh. Das ist die geschichtliche Erklärung. Die andere Erklärung ist, dass „liberal“ zu sein, noch nie so hip war wie jetzt. Heute bezeichnen sich Leute wie Glawischnig und Kurz als „liberal“ – aber wir sind das Original.
Muamer Bećirović
Wieso gewinnt Justin Trudeau dann als Liberaler und holt sich den Premierministersessel, und in Österreich und Deutschland ist das nicht möglich?
Matthias Strolz
Wer sagt, dass ich nicht Regierungschef in Österreich werde. Ich habe noch Zeit.
Muamer Bećirović
Ja, das stimmt, aber ich schaue mir nur die aktuelle Situation an.
Matthias Strolz
Es ist fantasielos, die aktuelle Situation anzuschauen. Herr Strache hat die FPÖ vor elf Jahren bei vier Prozent übernommen, jetzt ist er bei 34 Prozent. Die Zuschreibung „liberal“ gewinnt deswegen an Kraft, weil wir die liberale Demokratie unter Druck und de facto in Gefahr spüren. Wir könnten die liberale Demokratie verlieren. Wir, die NEOS, sind Fürsprecher einer liberalen Grundhaltung im Sinne von Freiheit und Bürgerrechten – und das wird uns auch in Zukunft helfen. Wir wollen bis 2030 eine Million pinke Erneuerer in diesem Land. Ich halte eine 20-Prozent-Bewegung für möglich.
Muamer Bećirović
Als ich Franz Schellhorn gefragt habe, weshalb liberal in Österreich nicht funktioniere, hat er gemeint, das liege an unserer katholisch-absolutistischen Tradition.
Matthias Strolz
Ja, natürlich. Das spielt ganz massiv hinein. Wir haben einen Nanny-Staat, der sich direkt vom Kaiser abgeleitet hat, der für uns gesorgt hatte. Jetzt haben wir irgendwie die sozialdemokratische, davor die sozialistische Doktrin, die einem zusicherte, dass das Leben von der Wiege bis zur Bahre bereits vororganisiert sei. Wir, NEOS, wollen, dass die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wir denken groß von den Menschen, haben Vertrauen. Wir ködern nicht mit Versprechen. Der Mensch ist unser Maßstab. Der Mensch ist groß.
Muamer Bećirović
Die Assoziation mit dem Liberalismus, die von Leuten außerhalb der politischen Blase getroffen wird, ist meist Bonzentum.
Matthias Strolz
Ja, weil der Markt in Österreich schlecht beleumundet ist. Marktwirtschaft gilt als verdächtig.
Muamer Bećirović
Es heißt, die Liberalen würden die tagtäglichen Probleme der einfachen Leute nicht kennen.
Matthias Strolz
(sehr entschieden) Das ist Bullshit! Bei einer Kundgebung haben die Linken den JUNOS, den jungen, liberalen NEOS, „Scheiß Akademikerkids!“ zugerufen. (mit ironischem Unterton) Das war sehr nett, aber ist einfach nur echter Bullshit, den ich nicht akzeptieren kann. Ich stamme aus einer Bergbauernfamilie. Ich bin mit leeren Händen, aber einer glücklichen Kindheit und solider Bildung nach Wien gekommen. Ich habe mein Leben selbst gestaltet, habe zwanzig Jahre ehrenamtlich gearbeitet.
Muamer Bećirović
Es geht ja nicht um dich, sondern um die Partei selbst.
Matthias Strolz
Ja, aber es gibt genügend Leute wie mich. Unter uns sind oberösterreichische Schafsbauern, Migrantenkinder. Meine Büroleiterin ist damals aus Jugoslawien geflüchtet.
Muamer Bećirović
Genauso wie ich.
Matthias Strolz
Genauso wie du. Meiner Büroleiterin wurde das ja auch nicht in die Wiege gelegt. Sie hat in Österreich faire Chancen bekommen. Die Migrationswelle aus Jugoslawien wurde damals gut bewältigt. Die tschetschenische Flüchtlingswelle hingegen wurde von beiden Seiten nicht gut gehandhabt. Es war eine Mischung zwischen völligem Staatsversagen und einer Vernachlässigung der Pflichten junger [tschetschenischer; Anm.] Burschen und Mädchen. Das trifft vor allem auf die Burschen zu, weswegen heute die höchste Quote an Jihadisten und die höchste Rate an organisierter Kriminalität in Österreich von dieser Bevölkerungsgruppe ausgeht.
Muamer Bećirović
Wie antwortest du Leuten, die meinen, du wüsstest nicht, wie es dem „einfachen“ Mann geht?
Matthias Strolz
(noch entschiedener als zuvor) Bullshit! Ich habe als Briefträger, als Forstarbeiter gearbeitet. Ich bin ein Bergbauernkind. Ich bin mit achtzehn Jahren zum ersten Mal ans Meer gefahren – damals zu meiner Maturareise. Ich will den Scheiß echt nicht hören, weil er nicht stimmt. Und wenn mir das jemand so sagen würde, würde ich antworten: „Du lügst!“. Außerdem gibt es genug Leute wie mich, mit denen ich diese Bewegung geschaffen habe. Das sind keine „Rich Kids“, die nichts anderes zu tun haben, als sich am Vormittag die Nägel bemalen lassen, um dann am Nachmittag ein wenig Politik zu betreiben. Mein Schwiegervater war zehn Jahre lang demenzkrank; ich weiß, was es heißt, meinen Vater an einer Herzkrankheit zu verlieren. Ich habe die Wechselfelder des Lebens gesehen und muss mir das von niemandem vorhalten lassen. Und wenn es dann doch jemand versucht, dann bitte: Bullshit! Go home! Lüge!
Muamer Bećirović
Letzter Punkt. Der erste bosnische Präsident [Alija Izetbegović, 1923–2003; Anm.] hat einmal gesagt, Macht mache entweder Leute kaputt oder sie gäbe kaputten Leuten eine Chance. Was ist das Wichtigste, das du im Umgang mit der Macht gelernt hast?
Matthias Strolz
Dass Macht Möglichkeit bedeutet. Macht ist eine Ressource. Sie ist wie ein Messer, wie Wasser. Du kannst mit einem Messer jemanden erstechen, aber du kannst mit einem Messer auch Brot schneiden. Du kannst mit Wasser jemanden ertränken – oder selbst daran ertrinken. Du kannst aber auch darin schwimmen und ein tolles Sinneserlebnis haben. Gleiches gilt für die Geschwindigkeit beim Radfahren. Sie kann ein Wahnsinnserlebnis sein und einen weit bringen, oder man kann grob verunfallen und zugrunde gehen. Ich glaube, Macht hat das Potential, einen brutal zu verbiegen. Jedoch: Ohne Macht ist Politik sinnlos. Sie lebt vom Ergebnis. Aber: Ich bin hier in keiner Philosophie-Vorlesung. Ich will Österreich verbessern. Ich will den neonationalistischen Abschotterern keinen Platz lassen – auch nicht den Linkspopulisten, die für noch mehr Schulden und noch mehr Steuern einstehen. Ich will den aufrechten Gang des Menschen und die freie Chancengesellschaft kultivieren. Ich glaube, das ist ein großartiges Angebot. Und dafür brauche ich Macht. Deshalb werde ich beim nächsten Mal sagen: Wir sind ein gutes Stück gekommen, wir NEOS. Beim ersten Mal haben wir einen Hebel von fünf Prozent bekommen. Jetzt brauchen wir einen deutlich größeren. Was wir bis jetzt gezeigt haben, war ein Appetizer. Wer Lust auf Veränderung und Erneuerung hat, soll uns seine Stimme geben. Was gut ist, darf gut bleiben. Was nicht gut ist, wird angepackt und verbessert.
[Hier endet die Videoaufzeichnung. Dies hielt beide jedoch nicht davon ab, weiter zu diskutieren.]
Muamer Bećirović
Du bist der Erste, den wir zu einem Videogespräch bitten. Ich finde es immer wieder beeindruckend mit welcher Kraft und Energie du sprichst.
Matthias Strolz
(lacht) Sonst macht es ja keinen Sinn zuzuhören.
Muamer Bećirović
Ich kenne wenige Politiker mit einer großen Portion Idealismus. Also habe ich dich ausgewählt, weil ich mich gefragt habe, mit wem man denn über Idealismus diskutieren könne. Da fiel mir gleich Matthias Strolz ein.
Matthias Strolz
Ja, aber ich glaube, es steht mir nicht, und ich maße es mir auch nicht an, hier als Richter zu sitzen und zu sagen, meine Kollegen dieser Zunft besäßen keinen Idealismus. Das ist so, als ob der „OMO“-Vertreter hier wäre und sagt, „Ariel“ sei schlecht.
Muamer Bećirović
Als weniger idealistische Politköpfe würde ich Lopatka oder Cap bezeichnen.
Matthias Strolz
Beide sind sicher mit Idealismus ausgestattet und beide tragen ihn noch in sich. Ich war einmal bei Cap, da war er noch SPÖ-Klubobmann, und habe ihm erzählt, wie wir das machen wollten. Seine Augen waren weit offen, und er hat dabei gegrinst. Weißt du warum? Weil ich ihn an seine politische Jugend zurückerinnerte. Er erinnerte sich wieder daran, wie golden seine idealistischen Zeiten waren. Dann kam er wieder zu sich und war wieder ernst. Wie du siehst: In ihm wohnt noch irgendwo der Idealismus. Der Mensch ist nie gut oder schlecht, in jedem von uns wohnt der Abgrund. Füttere ich den Abgrund, dann wird er größer. Auch in mir wohnen der elende Opportunismus, der Neid und die Missgunst. Deswegen werde ich nicht verlogen hier sitzen und behaupten, ich sei ein Idealist und die anderen nicht. Ich füttere meinen Idealismus tagtäglich, obwohl er ab und zu leiden muss.
Muamer Bećirović
Aber es fehlen einfach Personen, die den Stift in die Hand nehmen und ihr Ding durchziehen. Entweder man schafft es, oder man geht. Renzi, Schröder, Kohl haben es gemacht. Ich meine, das ist eine politische Klasse, die heute rar geworden ist.
Matthias Strolz
Ich vermisse es auch, Politiker zu erleben, die sich trauen, Risiken einzugehen. Wobei: Aus meiner Position heraus, klingt das schon sehr moralisierend.
Muamer Bećirović
Es geht darum ausschließlich darum richtige Maßnahmen fürs Allgemeinwohl resolut zu setzen – so nach dem Motto: „Wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann probiere ich’s so oft es geht, wennÄs dann nicht klappt, gehe ich!“.
Matthias Strolz
Wenn man Kreisky als Beispiel nimmt: Er hat gesagt: Wir machen die Zwentendorf-Abstimmung und wenn ich verliere, bin ich weg. Er ist aber geblieben. Die Geschichte wird aber auch sehr selektiv geschrieben.
Muamer Bećirović
Ja, natürlich.
Matthias Strolz
Und natürlich brach man auch des Öfteren sein Wort.