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Gespräch N° 29 | Kabinett

Gerhard Mangott

„Die guten Zeiten Europas sind längst vorbei“

Hat Russland Interesse an einem instabilen Europa? „Zweifellos“, sagt Politikwissenschaftler und Russlandexperte Gerhard Mangott. Warum Barack Obama nie freiwillig nach Europa gekommen ist, Donald Trump Pandorabüchsen öffnet und Vladimir Putin möglichweise schon einen Amtsnachfolger gefunden hat, sagt er im Gespräch mit Muamer Bećirović.

Hinweis: Das Gespräch wurde im November 2016 geführt.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 30. Januar 2017, fotografiert hat Julien Pflanzl.
Muamer Bećirović
Herr Mangott, ist Russland ein politisch instabiles Land? Ich habe Hubert Seipels Buch „Putin.Innenansichten der Macht“ gelesen – darin beschreibt und zeigt der Autor, wie heftig es in Russland zugeht, wenn ein Präsident seine Macht abgibt, und es entsteht ein regelrechtes „Machtvakuum“. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass Russland ein instabiles Land ist?
Gerhard Mangott
Russland ist im Augenblick ein sehr stabiles Land. Natürlich muss man sich fragen, was passiert, wenn der Stabilitätsgarant Wladimir Putin nicht mehr Präsident ist. Und das wird passieren. Weil er nicht mehr in der Politik tätig sein möchte oder kann, oder das Amt vorzeitig verlassen muss, oder auch sterben könnte. Was passiert dann? Das ist die große, offene Frage. Im Augenblick ist die Situation insofern stabil, als es Wladimir Putin geschafft hat, jeglichen Rivalen auf der politischen Bühne Russlands zu verdrängen. Es gibt niemanden mehr, der ihn herausfordern könnte. Die Opposition ist durch gezielte Repression, Inhaftierungen und Verurteilungen stark angeschlagen. Aber Wladimir Putin hat nicht nur die Opposition marginalisiert, er hat es auch geschafft, mit seiner neuen Personalpolitik jene Menschen aus allen möglichen Ämtern entfernen zu lassen, die sich ihm entgegenstellen könnten. Das hat mit der Entlassung des Vorsitzenden der staatlichen Russischen Eisenbahnen, Wladimir Jakunin, begonnen und hält bis heute an. Oft handelt es sich dabei um Menschen, denen er persönlich vertraute; Menschen, die ihm gegenüber loyal waren. Menschen, die aber auch ein selbstständiges Gewicht hatten. Die kommen jetzt natürlich auch in die Jahre, und daher beginnt Putin, stattdessen junge Technokraten, die keine Hausmacht besitzen, in wichtige Ämter zu berufen. Der neue Vorsitzende der russischen Präsidialverwaltung Anton Waino kann beispielsweise nicht so gegenüber Putin auftreten, wie sein Vorgänger Sergei Iwanow das konnte. Dieser war ein alter Freund von Putin, aber auch ein Mann mit eigenem Willen und eigener Perspektive. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Auch zeigt sich die russische Stabilität in der anhaltenden Unterstützung für Wladimir Putin, die, laut bei etwa 84 Prozent liegt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Putin eine Außenpolitik betreibt, die von der Mehrzahl der Bürger als richtig angesehen wird: Eine Außenpolitik, die Russland wieder zur Großmacht machen möchte. Russland behauptet ja, ein historisches Anrecht darauf zu haben, eine Großmacht zu sein. Und Putin verfolgt dieses Ziel stetig, in Georgien, in der Ukraine, in Syrien. Das gefällt den Leuten, und deshalb stehen sie nahezu geschlossen hinter ihm. Auch, wenn die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland heute nicht sehr gut ist.
Muamer Bećirović
Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, aber kein russischer Präsident – soweit mir die Geschichte bekannt ist – ist jemals freiwillig gegangen. Außerdem glaube ich, dass die von Ihnen beschriebene Personalpolitik Putins noch einen anderen Zweck erfüllt: Kann es sein, dass Putin will, dass auch nach seiner letzten Amtszeit eine gewisse Stabilität erhalten bleibt? Anders könnte ich mir diese Umbesetzungen nicht erklären. Es stimmt, er entfernt seine Rivalen, aber kann es sein, dass er das Haus, das er gebaut hat, einfach stabil halten will?
Gerhard Mangott
Wenn ich sage, dass es derzeit keine natürlichen Rivalen oder keinen erkennbaren Nachfolger für Putin gibt, dann heißt das nicht, dass es ihn nicht schon gibt. Das heißt, dass es womöglich schon jemanden in der russischen politischen Elite gibt, auf den Wladimir Putin mittelfristig setzt. Jemanden, den er in den Jahren seiner dritten und vierten Amtszeit – diese gilt als ungefährdet – langsam aufbaut, um seine Nachfolge zu übernehmen. Putin hat in einem Interview vor ein paar Monaten einmal gesagt, das müsse ein jüngerer, aber reifer  Mann sein. Mehr hat er uns nicht wissen lassen. Ein jüngerer, aber ein reifer Mann soll sein Nachfolger werden. Es kann gut sein, dass wir ihn schon kennen. Ohne zu wissen, dass Wladimir Putin ihn als seinen Nachfolger vorstellt. Die Frage wird aber sein, ob dieser Nachfolger genauso in der Lage sein wird, die verschiedenen Fraktionen und Clans, welche schließlich die Machtelite in Russland ausmachen, so zusammenzuhalten, wie das bisher Wladimir Putin gelungen ist. Die Stabilität beruht auch darauf, dass es in dieser fraktionierten Elite eine Person gibt, die zwischen den widerstreitenden Interessen vermitteln kann und letztlich dafür sorgt, dass alle etwas bekommen. Diese Person ist Wladimir Putin. Und diese Stabilität hängt demnach auch sehr stark von seiner Persönlichkeit ab. Wir wissen nicht, wie die Persönlichkeit seines Nachfolgers aussehen wird.
Gerhard Mangott

© Julien Pflanzl

Muamer Bećirović
Das heißt, Putin denkt schon darüber nach, dass und an wen er sein Amt weitergibt. Das war früher doch nie der Fall. Der russische Präsident Jelzin und alle vorherigen Machthaber Russlands sind nicht freiwillig gegangen. Wladimir Putin denkt anscheinend doch daran, oder?
Gerhard Mangott
Jelzin ist in der Tat freiwillig gegangen. Er hat seinen Rücktritt am 31. Dezember 1999 erklärt. Natürlich hat er es nicht ganz freiwillig gemacht, er wurde von seiner Tochter Tatjana und den Leute, die hinter ihr gestanden sind, sehr stark unter Druck gesetzt. Und die haben ihn aus bestimmten Gründen dazu gedrängt, seinen Rücktritt zu erklären. Gorbatschow konnte auch nicht freiwillig gehen. Er hatte zwar das Amt des Präsidenten inne, aber kein Land mehr, dass er regieren konnte. Und natürlich gibt es viele Spekulationen darüber, dass Wladimir Putin gar nicht von der Macht abtreten könne, weil er Angst um seine persönliche Sicherheit haben müsste. Oder auch Angst um seine Rechtssicherheit, da ihn ein möglicher Nachfolger etwa wegen Korruption oder Amtsmissbrauch klagen könnte.
Muamer Bećirović
Jelzin hat diese Rechtssicherheit aber bekommen, bevor er aus dem Amt geschieden ist. Das scheint also nicht das große Problem zu sein.
Gerhard Mangott
Da haben Sie völlig recht. Das erste Dekret, das Wladimir Putin als amtierender Präsident Russlands am 31. Dezember 1999 unterzeichnet hat, war zivilrechtliche und strafrechtliche Immunität für Jelzin und seine Familie. Sowas müsste es, ob es bekannt wird oder nicht, auch bei der Ablöse von Wladimir Putin im Jahr 2024 geben. Ansonsten ist, und da haben Sie völlig recht, ein Elitenwechsel in Russland nur schwer vorstellbar. Die Machthaber, die abtreten, müssen immer Angst haben, dass die Machthaber, die ihnen nachfolgen, aus irgendwelchen Gründen zurückschlagen. Oder weil es ihren Interessen entspricht, gegen die Vorgängerregierung vorzugehen.
Muamer Bećirović
Das heißt, dass Putins Nachfolger nur jemand sein kann, der das absolute Vertrauen von Wladimir Putin genießt?
Gerhard Mangott
Ja, das wird unabdingbar so sein müssen. Ich kann nicht ausschließen, dass es ein Szenario gibt, wo Putin versuchen wird, an der Macht zu bleiben. Es wäre einfach für ihn, die Verfassung zu ändern und eine dritte konsekutive Amtszeit zu ermöglichen. Und diese Möglichkeit hat es schon einmal gegeben, als seine zweite Amtszeit 2008 zu Ende ging. Er hat damals von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht. Es ist also nicht auszuschließen, dass das im Jahr 2024 anders sein könnte. Aber im Augenblick deutet alles darauf hin, dass wir eine Machtablöse im Jahr 2024 haben werden.
Muamer Bećirović
Spannend. Denken Sie, dass Putin die Stabilität Russlands ein so großes Anliegen ist, dass der dafür bereit ist, die Macht abzugeben?
Gerhard Mangott
Die Stabilität war Wladimir Putin immer wichtig. Wenn Russland eines nicht hatte, als er Präsident wurde, dann waren das Stabilität und Ordnung. Stabilität und Ordnung zu bringen, war eines seiner Kernziele. Es ist nur zu diskutieren, mit welchen Instrumenten und mit welchen Methoden er diese Stabilität wiederhergestellt hat. Darüber muss man sehr heftig streiten, denn diese Stabilität ist auch eine sehr autoritäre Stabilität. Eine auf nur eine Person konzentrierte Herrschaftsordnung, die keinen Freiraum lässt für andere Meinungen, alternative Medien, kritische NGOs, oder oppositionelle Parteien.
Muamer Bećirović
Hat Russland eigentlich nicht großes Interesse an einem instabilen Europa? Wie erklären Sie, dass russische Banken zum Beispiel die französische, europafeindliche Rechtspopulistin Marie Le Pen mitfinanzieren?
Gerhard Mangott
Wenn Russland über Europa nachdenkt, dann hätte es gerne das Europa des 19. Jahrhunderts zurück. Das Europa der Großmächte. Und die Großmächte arrangieren untereinander, was geschehen soll, was verhindert werden soll. Sie teilen sich den Kontinent in Interessensphären auf. Das ist das Europa, das Russland am liebsten hätte. Russland hat immer ungern mit der Europäischen Kommission oder gar mit dem Europäischen Parlament gesprochen. Nein, Russlands Europapolitik war immer eine Politik, die mit Deutschland sprechen wollte. Die mit Frankreich sprechen wollte. Die mit Italien direkt sprechen wollte, und mit den anderen Größen innerhalb der Europäischen Union. Ein solches Europa wünscht sich Wladimir Putin zurück. Ein Europa, das weniger supranational ist; ein Europa, in dem die nationalstaatlichen Akteure wieder stärker hervortreten. Die von Ihnen angesprochene Unterstützung für Marine Le Pen ist eine, die nicht der Destabilisierung Frankreichs dienen soll; sondern eine, die in Betracht zieht, dass Marine Le Pen unter Umständen zur Präsidentin gewählt wird. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber es ist nicht völlig ausgeschlossen. Hier unterstützt die russische Seite also einen politischen Akteur in der Europäischen Union, der eine realistische Chance auf Macht oder Machtbeteiligung hat. In anderen Staaten unterstützt Russland Parteien, die zur inneren Destabilisierung der Situation beitragen. Dazu gehört wohl die Unterstützung der AfD. Diese Unterstützung dient sicherlich dazu, die CDU und damit die Position der Kanzlerin Merkel zu schwächen. Eine Person, die Wladimir Putin gerne aus dem Kanzleramt in Berlin entfernt sehen würde.
Muamer Bećirović
Das heißt letzten Endes aber doch, dass Russland daran interessiert ist, ein instabiles Europa vorzufinden.
Gerhard Mangott
Zweifellos. Die Konsequenz eines Wahlsieges von Marine Le Pen in Frankreich wäre eine ganz andere Europäische Union. Marine Le Pen hat ganz offen angekündigt, dass sie ein ähnliches EU-Austrittsreferendum durchführen wird, wie das Vereinigten Königreich es vor wenigen Monaten getan hat. Sie hat auch gesagt, dass sie ein Europa der Vaterländer haben will, wie es Charles de Gaulle bezeichnet hat, und kein integriertes supranationales Europa. Natürlich ist diese Konzeption von Europa, wie sie gerade rechtsnationale Parteien und Politiker vertreten, eine, die dem russischen Verständnis von Europa sehr nahe kommt.
Muamer Bećirović
Waren die russischen Beziehungen zu Europa nicht schon einmal besser? Unter Kanzler Schröder haben sich Europa und Russland doch ganz gut verstanden. Seit Merkel an die Macht kam, war die russische Haltung gegenüber Europa plötzlich eine ganz andere.
Gerhard Mangott
Ja, weil auch noch ein anderer ging. Es war nicht nur Gerhard Schröder, der 2005 das Kanzleramt verlassen musste; es war auch Jaques Chirac, der später aus dem Amt scheiden musste, und Nicolas Sarkozy kam an die Macht. Das hat Europa für Russland wesentlich verändert. Einen, den man in dieser Konstellation noch erwähnen muss, ist Silvio Berlusconi, der in Italien an der Macht war und großes Interesse an intensiv bilateralen italienisch-russischen Beziehungen hatte. Dieses personelle Gerüst ist weggefallen. Und plötzlich war diese Bilateralisierung der europäischen Politik für Russland nicht mehr in dem Maße möglich, wie das zuvor der Fall war. Gleichzeitig haben all die Bemühungen, das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland zu vertiefen, wie etwa die Modernisierungspartnerschaft, die man 2010 beschlossen hat, oder die gemeinsamen Räume, über die man 2003 in St. Petersburg diskutiert hat, nicht wirklich gefruchtet. Nichts von dem hatte wirklich großes politisches Gewicht.
Muamer Bećirović
Mir scheint, als sähe Russland die Europäische Union heute eher nicht als Verbündeten oder Partner, sondern als Störfaktor.
Putin versteht Europa als den Vasallen der Vereinigten Staaten, denn Europa mache letztlich das, was im Interesse der Vereinigten Staaten ist.Gerhard Mangott über die Beziehung Russlands zur Europäischen Union
Gerhard Mangott
Das hängt mit einem zweiten Aspekt zusammen, den ich bis jetzt noch nicht angesprochen habe: Russland – oder konkreter: Wladimir Putin – sieht Europa nicht als einen selbstständigen Akteur an. Putin versteht Europa als den Vasallen der Vereinigten Staaten, denn Europa mache letztlich das, was im Interesse der Vereinigten Staaten ist. Vor allem das heutige Europa mit den jetzigen Staatenlenkern in Deutschland, Frankreich und Großbritannien erfülle die Interessen der USA. Dass die Beziehungen zu Schröder und Chirac so gut funktioniert haben, hängt auch damit zusammen, dass es ein formatives Ereignis für diese politische und persönliche Nähe gab, und das war die Diskussion in Europa um den Irak-Krieg der Vereinigten Staaten, der im März 2003 begonnen hat. Da hat Kanzler Schröder, zum Teil aus Überzeugung, zum Teil aus wahltaktischen Überlegungen – Deutschland war damals nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrates – kategorisch gegen diese Intervention argumentiert. Dasselbe war in Frankreich unter Chirac der Fall. Damit ist diese Achse Paris-Berlin-Moskau, beziehungsweise auch die persönliche Achse Chirac-Schröder-Putin entstanden. Und die hat lange nachgewirkt. Deshalb war es auch so wichtig und entscheidend für die Veränderung der russischen Europapolitik, dass diese Männer, mit denen diese formative Erfahrung stattgefunden hat, dann plötzlich nicht mehr im Amt waren.
Muamer Bećirović
Ist diese Achse oder Beziehung gänzlich gestorben?
Gerhard Mangott
Zweifellos. Es gibt keine gute persönliche Beziehung zwischen Angela Merkel und Wladimir Putin. Es gibt ein äußerst gespanntes Verhältnis, das man alleine an der Körpersprache der beiden ablesen kann. Auch die Politik Merkels hat mit der Schröder’schen Russlandpolitik nichts zu tun. Obwohl Merkel einen Koalitionspartner hat, der diese Tradition der sozialdemokratischen Ostpolitik anschließen möchte. Und Außenminister Steinmeier zeigt ja immer wieder, dass er eine etwas andere Position zu Russland hat als Frau Merkel. Aber Merkel und Putin, nein, die können nicht wirklich miteinander. Das hat auch damals diese Szene gezeigt, als Putin, wissend, dass Merkel Angst vor Hunden hat, sie mit seinem schwarzen Labrador begrüßt hat, um ihr deutlich zu machen: „Du bist hier auf meinem Hof. Und ich bin hier der Stärkste. “ Auch Hollande als Präsident Frankreichs hat kein persönliches Verhältnis zu Wladimir Putin. Und selbst Renzi, der innerhalb der Europäischen Union jetzt gegen neue Sanktionen gegen Russland auftritt, hat es nicht. Das, was wir damals hatten, haben wir heute nicht mehr.
Muamer Bećirović
Ist das ein Nachteil für Europa? Letzten Endes ist Russland gar nicht einmal so weit entfernt von einzelnen Europäischen Mitgliedsstaaten. Das lässt die europäische sanktionslastige Außenpolitik doch vollkommen irrational erscheinen.
Gerhard Mangott
Die Geografie Europas wird sich nicht ändern. Russland wird nicht geografisch weiter nach Osten rücken und sich von Europa entfernen. Russland wird aus diesen Gründen immer der große Nachbar Europas bleiben. Die europäische Union oder die europäischen Staaten müssen Klarheit darüber haben, wie sie mit diesem Nachbarn umgehen. Auch, wenn es ein schwieriger Nachbar ist. Mit Sanktionen zu versuchen, das Verhalten dieses Nachbars zu verändern, war von Anfang an aussichtslos. Putins außenpolitisches Kalkül hat sich in keinster Weise geändert. Mit Sanktionen kann man Russland nicht beeindrucken. Die Frage ist, ob man trotz der Außenpolitik Russlands, die in vielen Bereichen das internationale Recht verletzt, mit Russland ein Gespräch führen und zu einem Ergebnis kommen kann, das russische Interessen berücksichtigt. Wir haben heute in der internationalen Politik die Wahl zwischen zwei Optionen: Die eine Option ist die Abschreckung. Das ist die Option, welche die Nordatlantische Allianz gewählt hat, mit der Vorwärtsstationierung von Truppen in Richtung Polen, Estland, Lettland und Litauen. Die Option der Abschreckung läuft auch unter dem Begriff „Reassurance“: Den osteuropäischen Staaten soll versichert werden, dass man sie im Falle eines – letztlich völlig unwahrscheinlichen Angriffs – auch verteidigen würde. Zu dieser Taktik gehören auch die Sanktionen gegen Russland. Die Option der Abschreckung läuft allerdings nur auf einen modifizierten, neuen Kalten Krieg hinaus. Dann gibt es aber noch die andere Option, die heftig umstritten ist. Die nennt sich Akkommodation. Diese besagt, dass Russland eine strukturell gewachsene Unzufriedenheit mit seiner Position in der internationalen Ordnung hat, vor allem, was die Sicherheitsarchitektur Europas betrifft. Russland fühlt sich bedroht. Und die Frage ist: Kann man Russland entgegenkommen, um sein Bedrohungsgefühl zu überwinden? Wie schafft man es, diesem Misstrauen, dass auf beiden Seiten vorhanden ist, zu begegnen? Eine solche Linie der Akkommodation wird von vielen auch als Appeasement bezeichnet. Das ist es aber nicht. Appeasement war in den 30er-Jahren eine Politik der Zugeständnisse um jeden Preis, weil es galt, einen neuen Krieg zu verhindern. Chamberlain wollte Hitler möglichst alles zugestehen, nur, um keinen zweiten europäischen Krieg zu haben. Akkommodation bietet keine Zugeständnisse um jeden Preis an. Akkommodation ist eine Verhandlungsstrategie, mit deren Hilfe man versucht, gemeinsam rationale Lösungen zu finden, die eben auch die Interessen des Anderen berücksichtigen. Ich sehe im Augenblick überhaupt keine Chance für.
Muamer Bećirović
Können Sie erklären, wieso das so ist? Sehen Sie – immerhin haben Sie vorhin gesagt, dass Russland das so sieht sieht – Europa als einen Vasallen?
Gerhard Mangott
Europa ist vor allem kein außenpolitischer Akteur. Trotz gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik ist Europa, wenn man von der Sanktionsfrage absieht, kein einheitlicher außenpolitischer Akteur. Was sich aber schon zeigt, ist, dass es von amerikanischer Seite immer wieder substanziellen Druck auf europäische Staaten gibt, die europäische Außenpolitik der Außenpolitik der Vereinigten Staaten anzugleichen. Das passiert im Augenblick wieder, und zwar in der Frage der verschärften Sanktionen gegen Russland wegen des Syrien-Konflikts, wegen des Bombardements von Ost-Aleppo. Hier gibt es natürlich amerikanischen Druck auf jede Regierung in Europa, die keine weiteren Sanktionen gegen Russland anstrebt. Und kleine Staaten können diesem Druck nicht widerstehen.
Muamer Bećirović
Kann Europa also ein Spielball Amerikas und Russlands werden? Bei der Ukraine ist es ja beinahe so gewesen.
Gerhard Mangott
Das würde ich so nicht sehen. Auch nicht im Fall der Krimkrise. Nein, ein Spielball wird Europa nicht werden. Europa wird es nicht einfach haben, eine gemeinsame Position gegen Russland zu entwickeln und aufrecht zu halten. Und europäische Staaten werden unter amerikanischem Druck stehen, eine Russland-Politik zu formulieren, die man in Washington für richtig hält. Aber dieses Konzept des Spielballs würde ich nicht aufgreifen.

 

Gerhard Mangott

© Julien Pflanzl

Muamer Bećirović
Wir wissen ja, dass die russische Bevölkerung nicht jünger wird. Wirtschaftlich scheint es kein großes Umdenken zu geben. Könnte Russland am Ende dieses Jahrhunderts seinen Status als „Global Player“ verlieren? Militärisch ist es wahrscheinlich so, dass Russland ein Global Player bleiben wird. Aber bevölkerungstechnisch und wirtschaftlich sind Europa und Russland doch bald weg von der Bühne.
Gerhard Mangott
Russland ist gerade wieder dabei, seinen Großmacht-Status zurückzugewinnen, und das mit aller Entschlossenheit und Aggressivität, die dazu nötig ist. Russland hat seine militärische Schlagkraft wieder verstärkt, seit die Modernisierung der Streitkräfte im Jahr 2009 ernsthaft aufgenommen wurde. Aber Russland hat keine wirtschaftliche Leistungskraft, die es zur Großmacht macht. Wenn Sie sich das Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten und Russlands ansehen, dann sehen Sie, wie schwach Russland im Vergleich dazu ist. Russland hat es auch nicht geschafft, von einem rohstoffexportierenden Land zu einer Volkswirtschaft zu werden, die mit Fertigprodukten kompetitiv werden kann, wenn man von der Rüstungsindustrie und einigen einzelnen Bereichen absieht. In den großen Bereichen, etwa Luftfahrt, Nanotechnologie, Biotechnologie und Pharmazie ist Russland kein großer Player. Da versucht man zwar seit langem, aufzuholen, aber die technologische Innovationskraft ist viel, viel geringer als die der USA und auch als die der westeuropäischen Staaten. Wirtschaftlich ist dieses Land also nicht in der Lage, seine Großmachtinteressen durchzusetzen. Dieses Land ist wirtschaftlich auch nicht in der Lage, sich einen derart hohen Verteidigungsetat leisten zu können, wie das jetzt der Fall ist. Offiziell 4,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – der Anteil ist vermutlich noch höher – werden momentan in die Streikkräfte investiert. Auch kulturell hat Russland keine große Anziehungskraft. Die Sowjetunion hatte ein ideologisches Gegenmodell zur liberalen Ordnung im internationalen System. Das war der demokratische Sozialismus und die zentral geplante Volkswirtschaft. Also ein Gegenstück zur kapitalistischen Marktwirtschaft mit einer repräsentativen Demokratie. Russland hat das heute nicht. Man versucht, sich als Hüter der sozialkonservativen Werte zu gerieren und argumentiert deshalb auch, Europa sei dekadent. Aber diese Selbstinszenierung als konservative Bastion, die hat nicht diese Strahlkraft, wie sie die Sowjetunion damals hatte.
Muamer Bećirović
Aber ist Russland bewusst, dass es am Ende des 21. Jahrhunderts nur noch eine kleine Figur am großen Schachbrett sein wird?
Gerhard Mangott
Wladimir Putin weiß um die strukturellen Risiken, denen sich Russland ausgesetzt sieht. Er weiß um die nicht-funktionierende Diversität der Wirtschaft, und auch um die mangelnde Kompetivität in den Hochtechnologie-Sektoren und die schrumpfende Bevölkerung. Die Bevölkerungszahl wird zurückgehen, und die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung geht aufgrund der extrem schwachen Geburtenrate ab 1987 – die sich erst im Jahr 2005 oder 2006 wieder gebessert hat – ganz deutlich zurück. Ein kleiner Hinweis am Rande: Im Jahr 2006 gab es immer noch mehr Abtreibungen als Lebendgeburten in Russland. Putin ist sich dieses demografischen Risikos bewusst. Und diese schrumpfende arbeitsfähige Bevölkerung wird auch dazu führen, dass das russische Wachstum schmal und gering bleibt. Das Land ist unterbevölkert. Wenn man die Krim dazuzählen möchte, so hat Russland derzeit etwa 145 Millionen Einwohner, und das bei einem unfassbar riesigen Territorium. Der Großteil dieser Einwohner lebt im europäischen Teil. Und wir erleben noch immer eine Migration von Ostsibirien und dem Fernen Osten in den europäischen Teil Russlands. Die weite Landfläche östlich des Ural ist absolut unterbevölkert, und das wird in Russland auch als ein Sicherheitsrisiko gesehen. Kann man diese Gebiete halten, wenn man sie nicht beherrscht – im Sinne von besiedelt, bewirtschaftet und kontrolliert? Diesen Risiken ist man sich in Russland durchaus bewusst. Nur sehen sich die Russen am Ende des 21. Jahrhunderts nicht als eine kleine Nation, die an diesen Aufgaben gescheitert ist; nein, in Russland ist man zuversichtlich, dass man diese Aufgaben meistern wird. Und, dass Russland zurückkommen wird.
Muamer Bećirović
Ich habe nicht das Gefühl, dass Russland aktiv viel dafür tut.
Gerhard Mangott
Naja, was die Demografie betrifft, hat man schon ein bisschen etwas gemacht. Die Sterberate ist gegenüber den späten 80ern und 90ern deutlich zurückgegangen, und vor allem die Geburtenrate ist momentan höher als in den meisten Staaten Westeuropas. Aber sie ist immer noch gering.
Muamer Bećirović
Unternimmt man nun etwas, oder blickt man einfach optimistisch in die Zukunft?
Gerhard Mangott
Man hat zum Beispiel versucht, die Geburtenrate zu steigern, indem man das sogenannte Mutterschaftskapital eingeführt hat, eine großzügige finanzielle Zuwendung an Familien für ihr erstes Kind, noch mehr für ihr zweites Kind und noch mehr für ihr drittes Kind. Man hat also finanzielle Anreize geschaffen, um die Geburtenrate anzuheben. Hilfreich war natürlich damals der wirtschaftliche Aufschwung. Denn wenn Menschen, wenn junge Familien ihre persönlichen Chancen als besser einstufen und eine positive Erwartungshaltung haben, was ihr Haushaltseinkommen betrifft, werden sie eher die Entscheidung treffen, Kinder zu bekommen. Man ist also schon ein großes Stück weitergekommen. Dennoch ändert das nichts an der Tatsache, dass Russland eine ganze Generation fehlt: Es fehlt die Generation zwischen 1987 und 2005. Deswegen werden wir bald eine Überalterung der russischen Bevölkerung sehen. Diese Leere wird sich nicht füllen lassen.
Muamer Bećirović
Wie wird sich Russland außenpolitisch orientieren? Etwa an den anderen BRICS-Staaten? Wird es ein stärkeres Bündnis mit China geben, oder gar eine Allianz zwischen Peking und Moskau?
Gerhard Mangott
BRICS ist für viele schon etwas von gestern. Russland wächst nicht, Russland ist in einer Rezession: 2015 ist das Bruttoinlandsprodukt um ganze 3,8 Prozent gesunken, 2016 werden es vermutlich abermals 0,6 Prozent Rückgang sein. Wenn es in Russland wieder Wachstum geben wird, dann fällt dieses wohl jur sehr gering aus –  bei etwa 1 bis 1,5 Prozent, mehr ist es nicht. Das ist nicht das Russland, das mit seinem Anfangsbuchstaben in die BRIC-Staaten hineingekommen ist. Die Wachstumsraten zwischen 2000 und 2008 lagen durchschnittlich bei 6,9 Prozent jährlich. Aber davon kann Russland heute nur träumen. Und es werden Träume bleiben. Auch Chinas Wachstum ist geringer geworden: Die chinesische Wirtschaft wächst noch immer, aber das Wachstum ist aus strukturellen Gründen nicht mehr so groß wie in den letzten Jahrzehnten. Man mag sich auch fragen, was Südafrika noch in den BRICS verloren hat. Dabei kann es sich höchstens um eine politisch motivierte Entscheidung handeln. Indien hat auch seine Probleme, und von Brasilien brauche ich gar nicht zu reden. Die großen Hoffnungen, die man mit Brasilien verbunden hat, die haben sich längst zerschlagen. BRICS ist etwas, das vielleicht schon tot ist, nur erklärt es niemand für tot, weil es als alternatives Modell zur westlichen, liberalen Ordnung verstanden wurde. Aber natürlich bleiben die russisch-chinesischen Beziehungen ein wichtiger Faktor der russischen Außenpolitik. Und hier konnten wir schon eine sehr starke Annäherung zwischen Russland und der Volksrepublik China sehen. Mit der europäischen Sanktionspolitik der letzten Jahre hat man Russland unter Druck gesetzt, diese Beziehungen zu intensivieren. Und das ist auch gelungen – zwar nicht ganz in dem Ausmaß, wie man es sich in Russland erhofft hatte, aber es gibt momentan sehr gute, persönliche Beziehungen zwischen Putin und Xi Jinping in China und wachsende Zusammenarbeit. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind, was das Volumen des Handels betrifft, etwas zurückgegangen, weil sich Russland viele Importe einfach nicht leisten kann; wenn das aber überwunden sein wird, wird der Handelsaustausch zwischen den beiden wieder wachsen. Auch im Bereich der Energieexporte denkt Russland mittelfristig asiatischer und will seine Energiemärkte diversifizieren. Nicht, dass Europa als Energiemarkt verschwinden wird, keineswegs. Es soll allerdings einen alternativen Markt für russische Energieprodukte geben. Das alles heißt aber nicht – wie es manche befürchtet haben –, es würde jetzt eine Allianz zwischen Moskau und Beijing entstehen. Die Sino-Sowjetische Allianz der 50er-Jahre kehrt sicherlich nicht zurück. Es ist eine Zweckgemeinschaft, eine Interessensgemeinschaft. Aber China würde sich nie in ein antiwestliches Bündnis mit Russland begeben. China hat sehr viel mehr Interesse an den Vereinigten Staaten, politisch und auch wirtschaftlich, als an Russland. Sehen Sie sich Handelsvolumen an. Sehen Sie sich die Direktinvestitionen an. Sehen Sie sich den Gläubigerstatus an, den China gegenüber den Vereinigten Staaten einnimmt. Man sieht, dass die Verflechtung mit den USA viel stärker ist. Wenn die amerikanische Außenpolitik aber aggressiver versucht, den Aufstieg Chinas zur Großmacht zu verlangsamen oder gar zu verhindern, könnte diese Achse zwischen Russland und China stärker werden. Aber das ist im Augenblick nicht der Fall. Und deshalb: Nein, ein echtes Bündnis zwischen China und Russland gibt es nicht.
Muamer Bećirović
Wird das 21. Jahrhundert eine Neuaufteilung der Großmächte dieser Welt mit sich bringen? Europa wird am Ende des 21. Jahrhunderts nur 11 Prozent der weltweiten Wertschöpfung ausmachen. Vor nicht allzu langer Zeit waren es noch 25 Prozent. Ende des 19. Jahrhunderts hat Europa ein Viertel der Weltbevölkerung ausgemacht. Ende des 21ten Jahrhunderts werden es nur noch 5 Prozent sein. Auch Russland wird schrumpfen. Wirtschaftlich, als auch bevölkerungstechnisch. Afrika erfährt eine Bevölkerungsexplosion, die nicht aufzuhalten ist. Die Vereinigten Staaten werden wahrscheinlich nicht mehr so expansionistisch sein, wie sie es früher einmal waren. Herr Mangott, wie sieht die Zukunft aus?
Obama ist in seinen zwei Amtszeiten niemals freiwillig nach Europa gekommen.Gerhard Mangott über die Relevanz Europas für die USA
Gerhard Mangott
Die großen Zeiten Europas sind längst vorbei. Die Jahrhunderte, in denen Europa das Zentrum der internationalen Politik war – soweit man überhaupt von einem internationalen System sprechen konnte –, sind vorbei. Europa hat sich diesen Status selbst zerstört, mit zwei Weltkriegen, und ist damit am Ende des zweiten Weltkrieges in eine strukturelle Abhängigkeit verfallen, vor allem im Bereich der Sicherheit, aber auch im Bereich der Wirtschaft. Dieser Abschied vom europäischen Modell der Welt erfolgte schon vor sehr langer Zeit, nur wird es uns erst jetzt bewusst. Die Irrelevanz der Europäer für andere große Mächte wird zunehmen. Für die Amerikaner wird Europa immer unwichtiger. Obama ist in seinen zwei Amtszeiten niemals freiwillig nach Europa gekommen. Es gab immer einen Anlass: Ein historisches Gedenken, eine Konferenz oder eine andere Großveranstaltung, die in Europa stattgefunden hat, wie etwa die Weltklimakonferenz. Aber er kam nie freiwillig. Europa hat Obama nicht interessiert. Und das wird sich nicht ändern. Wenn die Konfrontation mit Russland wächst, wird es vermutlich auch ein bleibendes Committment für die europäische Sicherheit geben. Aber auch das ist nicht mehr umstritten. Denken Sie daran, dass Donald Trump diese Pandorabüchse ja schon aufgemacht hat! Er hat gesagt: Warum sollten die Vereinigten Staaten für die Sicherheit der Europäer bezahlen? Wozu brauchen wird das Nordatlantische Bündnis? Europa wird also weiterhin relativ an Macht verlieren. Europa wird auch relativ an Wohlstand verlieren. Die goldenen Jahrhunderte Europas sind längst vorbei. Es wird sich schwer tun, sich zu behaupten, am Ende des 21. Jahrhunderts. Die liberale westliche Ordnung, die man nach 1945 geschaffen hat, steht unter Druck. Damit meine ich nicht nur das kleine Europa, nein, sondern die ganze westlich dominierte liberale Ordnung, die von den aufsteigenden Großmächten unter Druck gesetzt wird. Andere Staaten, andere Großmächte werden stark genug sein, um die internationale Ordnung zu ändern. Nicht mit ihr zu brechen, nein; ich sehe keinen Staat, der mit der internationalen Ordnung, so wie sie jetzt ist, brechen möchte. Aber es gibt viele Staaten, die diese Ordnung verändern möchten. Staaten, die ordnungsimmanente Revisionisten sind, wie ich das in meiner Forschung beschreibe. Wir werden uns also auch davon verabschieden müssen, dass der Westen die dominierende Kraft auf diesem Globus ist. Die Macht wird sich verlagern. Es ist nicht mehr das amerikanische Jahrhundert, sondern das asiatische.
Muamer Bećirović
Ist dem so?
Gerhard Mangott
Ich glaube schon.
Gerhard Mangott

© Julien Pflanzl

Muamer Bećirović
Halten Sie es für möglich, dass die führenden Nationen dieser Welt zukünftig gleichberechtigter auftreten? Oder wird es eine Macht geben, die alle anderen dominiert?
Gerhard Mangott
In der Forschung wird zurzeit über zwei Alternativen diskutiert. Kehren wir wieder zu einer multipolaren Ordnung zurück, in der es verschiedene, unterschiedlich starke Großmächte gibt, die versuchen, ihre Interessen einigermaßen gegeneinander auszubalancieren, wie wir dies in Europa vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatten? Oder laufen wir erneut auf eine neue Bipolarität zu, wie wir sie im Kalten Krieg erlebt hatten, als es nur zwei Supermächte gab? Doch in diesem Szenario würde China anstatt der Sowjetunion mit den Vereinigten Staaten konkurrieren. Daneben gäbe es dann gewissermaßen „swing states“, die sich dann auf eine der beiden Seiten schlagen. Es ist jedoch schwer zu sagen, welcher Fall tatsächlich eintreten wird. Möglich sind beide. Zudem ist es keine leichte Aufgabe, vorherzusagen, welche der beiden Alternativen eher eine stabile, internationale Politik verspricht.
Muamer Bećirović
Sie haben einmal auf Twitter gefragt, warum man die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht aufkündige. Wäre es für ein starkes Europa, das auch im 21. Jahrhundert auf der Weltbühne mitreden will, nicht sinnvoll, die Türkei miteinzubinden? Immerhin ist die Türkei ein „junges“ Land, hat unglaublich viel Potential und ist geostrategisch überaus wichtig – Stichwort Schwarzes Meer, Mittelmeer.
Gerhard Mangott
Das Jahrhundert ist noch jung. Und ich glaube, dass die Türen für die Türkei offen sein sollten. Doch momentan scheint es, als ob die Türkei selbst gar nicht nach Europa will. Erdogan strebt die EU-Mitgliedschaft nicht mehr an. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung sieht ihre Zukunft nicht in der Europäischen Union. Das kann sich aber ändern. In zehn bis 15 Jahren ist die Welt eine andere. Man muss aber sagen, dass die Türkei derzeit die Türen zu Europa selbst verschließt, indem sie systematisch sämtliche Grundsätze einer westlichen Demokratie außer Kraft setzt, für die die Europäische Union einsteht. Wer Europa als Wertegemeinschaft versteht, kann mit diesem Land nicht über den Beitritt verhandeln. Ich glaube, dass es nicht zielführend ist, zu sagen, dass man weiterhin mit den Türken sprechen solle, um so den Einfluss auf das, was in der Türkei gerade passiert, zu wahren. Denn was wir derzeit sehen, ist ein Erdogan, der handelt, wie es ihm beliebt, obwohl die Europäer ihn mit mehr oder minder offenen Armen zum Gespräch einladen.
Muamer Bećirović
Aber hat die Europäische Union nicht bereits jemanden in den eigenen Reihen, der seinen Staat mit autoritären Zügen regiert? Agiert sie da nicht etwas scheinheilig?
Gerhard Mangott
Das Ungarn des Viktor Orban würde ich heute nicht mehr in die Europäische Union aufnehmen. Doch Ungarn ist heute nun einmal Teil der Familie – sozusagen das schwarze Schaf in der Herde. Dementsprechend wird es auch behandelt, auch wenn es nach wie vor ein Familienmitglied ist.
Muamer Bećirović
Ich kann diese Haltung innerhalb Europas nicht nachvollziehen. Mir scheint, als ob man viel zu kurzfristig denkt. Mit ein wenig Auslegungsgeschick ist es ja nicht verkehrt zu sagen, dass die Türkei trotz allem mit der Wertegemeinschaft vereinbar ist. Es läge jedenfalls in unserem Interesse.
Gerhard Mangott
Ja, wenn ich feststelle, dass die Türkei im Augenblick ohnehin nicht mehr in die Europäische Union will, dann muss ich fairerweise auch anerkennen, dass die meisten EU-Staaten die Türkei nie in der Europäischen Union haben wollten. Insofern waren diese Beitrittsverhandlungen eigentlich eine …
Muamer Bećirović
… Farce.
Gerhard Mangott
Ich würde sagen, eine Pflichtübung, in der viele europäische Staaten kein konkretes Ergebnis erreichen wollte. Frankreich hatte sich klar positioniert, ebenso wie Deutschland.
Muamer Bećirović
Schröder hat einen Beitritt immer befürwortet.
Gerhard Mangott
Schröder hat eine andere Haltung dazu gehabt, ja. Aber die CDU-CSU-Regierung – und auch Merkel selbst – sprechen immer noch von der privilegierten Partnerschaft als das alternative Modell zur Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Aber eine türkische EU-Mitgliedschaft haben sie stets verneint.
Muamer Bećirović
Aber für die Wahrung europäischer Interessen braucht es die Türkei.
Gerhard Mangott
Ich denke, dass eine Türkei, wie wir sie jetzt beobachten können, dem Integrationsprojekt Europa mehr schadet, als nutzt. Ich betone an dieser Stelle bewusst „Integrationsprojekt Europa“. Einzelstaatlich ist die Türkei ja weiterhin relevant. Wir alle wissen um die Abhängigkeit Deutschlands und der EU von der Türkei. Das ist, neben den Gesprächen über eine Wiedervereinigung Zyperns,  auch der wirkliche Grund, warum die Beitrittsverhandlungen formal nicht abgebrochen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Europäische Union weiterhin „gravly concerned“ über das, was in der Türkei geschieht, sein wird – ohne dass wirklich etwas geschieht.
Muamer Bećirović
Ich finde ein Zitat von Egon Bar, einer der größten Sozialdemokraten Deutschlands, interessant. „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte, sondern es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal was Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt wird.“ Stimmen Sie dem zu?
Gerhard Mangott
Die Europäer argumentieren gerne, dass sie anders seien. Die Europäer behaupten immer, dass sie eine werteorientierte Außenpolitik verfolgen würden. Das stimmt aber nicht. Die Europäische Union führt schlichtweg keine konsequente Außenpolitik. Auf der einen Seite bestraft sie Russland für seine militärische Aggression gegenüber der Ukraine und prangert zu Recht dessen Völkerrechtsverletzungen an. Auf der anderen Seite brachen europäische Staaten internationales Recht selbst, als man 2003 in den Irak einmarschierte. Derzeit missachtet die Türkei das Völkerrecht mit seiner Präsenz in Syrien, um gezielt gegen die dortigen Kurden in der YPG vorzugehen, ohne dass die EU Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Deutschland exportiert Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien, das unbehelligt Kriegsverbrechen im Jemen begeht. Wo bleibt denn der Ruf nach Untersuchungen gegen Saudi-Arabien durch den Internationalen Strafgerichtshof? Europa unterhält unter anderem gute Beziehungen zu China – und das, obwohl Russland bei Weitem nicht so autoritär ist. Hier werden die Interessen den selbstpostulierten Werten vorgezogen. Dasselbe gilt auch für die Ukraine-Politik der Europäischen Union. Man versucht zu verschleiern, dass man selbst ebenso Interessenspolitik betreibt, wie Russland oder die Vereinigten Staaten. Man versucht darüber hinwegzutäuschen, dass Europa mit der Östlichen Partnerschaft auch seine eigene Einflusssphäre sucht. Die östlichen EU-Drittstaaten werden doch so behandelt, als wären sie ein Teil dieses Einflussgebietes. Zu sagen, dass Europa eine selbstlose Außenpolitik – ohne jedwede Eigeninteressen – betreibt, ist schlichtweg naiv. Das Ganze erinnert mich an Lord Palmerston, der im 19. Jahrhundert gesagt hat, dass Staaten keine ewigen Freunde, sondern nur ewige Interessen hätten.