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Gespräch N° 35 | Kabinett

Ulrike Lunacek

„Erleben gerade einen Mangel an politischem Willen“

„Trägt die EU überhaupt irgendeine Verantwortung?“, fragt Katharina Zangerl provokant in den Raum. Ihr gegenüber sitzt eine Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Ulrike Lunacek. Die grüne Politikerin ist parteigemäß gegen nationalistische Trips. Umso verwunderlicher, dass sich Lunacek jetzt ein Europa der zwei Geschwindigkeiten wünscht. Über internationalen Neid, belgisches Bier und Soldaten, die das Heimatgefühl fördern.
Dieses Gespräch führte Katharina Zangerl und erschien am 25. April 2017, fotografiert hat Annelein Daar.
Katharina Zangerl
Der Europäischen Union wurde 2012 der Friedensnobelpreis verliehen. Begründet wurde das damals mit der Schaffung von Frieden im Inneren und den Bemühungen um Frieden im Äußeren. Heute, 2017, haben wir ein Mitglied, das die EU verlassen möchte, bewaffnete Konflikte vor der eigenen Haustüre und mit dem Kosovo, ein  Friedensprojekt das weit davon entfernt ist, erfolgreich zu sein. Würde die Europäische Union den Friedensnobelpreis heute noch verdienen?
Ulrike Lunacek
Damals war es sicher einfacher und auch besser zu argumentieren, warum die Europäische Union ihn verdient. Obama bekam den Friedensnobelpreis, obwohl er bis dahin noch gar nicht viel tun konnte. Es stimmt auf jeden Fall, dass es seit 2012 schwieriger geworden ist, das Friedensargument im Zusammenhang mit der Europäischen Union anzuführen. Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Römischen Verträge dürfen wir dennoch nicht vergessen, dass seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Zentraleuropa Frieden herrscht, dass seither nicht mehr eine Generation nach der anderen in Kriege gegeneinander gehetzt wurden. Abgesehen von kleineren Streitigkeiten, wie die zwischen Slowenien und Kroatien, hat gerade das Prinzip der „Zusammenarbeit statt Konfrontation“ die Europäische Union zusammengehalten. Davon bin ich – vor allem wirtschaftlich betrachtet – überzeugt.
Katharina Zangerl
Nichtsdestotrotz mehren sich allmählich die Zweifel am Friedensprojekt EU.
Ulrike Lunacek
Die Bedeutung von „Frieden“ ist für viele junge Menschen heutzutage nicht mehr relevant, weil sie in einer Zeit aufwachsen, in der sie keinen Krieg hautnah erleben müssen. In Europa ist Krieg – ausgenommen am Balkan und in der Ukraine – ein abstraktes Fremdwort geworden.
Katharina Zangerl
Es steht ja nicht zur Debatte, dass die EU es geschafft hat, Frieden unter ihren Mitgliedern zu schaffen. Die Frage wird interessanter, wenn man sich das Wort Frieden, im Sinne Johan Galtungs [norwegischer Mathematiker, Soziologe und Politologe; *1930; Anm.] anschaut. Für ihn ist Frieden mehr als nur die Abwesenheit von Krieg, sondern die Anwesenheit von friedlichen Elementen, Solidarität und Kooperation. Die EU scheint Frieden in diesem Sinne heute nicht zu schaffen. Beispiel: unsolidarische und unkooperative Haltung in der Flüchtlingsfrage.
Unser Wohlstand beruht stark auf der Ausbeutung anderer.Ulrike Lunacek über die europäische Wirtschaftspolitik
Ulrike Lunacek
Der Zerfall Jugoslawiens zeigt, wie wichtig das Prinzip von „Kooperation statt Konfrontation“ ist. Die Kriege am Westbalkan wurden damals durch das Ausgrenzen und Auseinanderdividieren ethnischer Gruppen gefördert. Und viele dieser Konflikte sind bis heute noch immer nicht zur Gänze überwunden. Im Gegensatz dazu, schafften wir es innerhalb der Europäischen Union demokratische Grundregeln, wie zum Beispiel Minderheiten- oder Frauenrechte, zu festigen. Dafür werden wir international sehr beneidet. Wir haben in Europa Sozialmodelle, die freien, öffentlichen Schulzugang und eine Krankenversicherung für alle ermöglichen. All das ist ein Ausdruck von Frieden, der mehr als nur die bloße Abwesenheit von Krieg ist. Die Europäische Union hat viel Positives geleistet, nicht nur in Europa, sondern auch weltweit. Es ist jedoch nicht zu verleugnen, dass wir seit den 1990er Jahren eine neoliberale Wirtschaftspolitik erleben, die vor allem den sozialen Ausgleich stark unter Druck setzt. Aus meiner Erfahrung heraus, die ich noch aus meiner NGO-Vergangenheit in der Entwicklungspolitik habe, übe ich vor allem sehr viel Kritik an dem Umstand, dass unser Wohlstand und wie wir diesen aufgebaut haben, stark auf der Ausbeutung anderer beruht. Wir sehen das zum Beispiel bei der Ressourcenausbeutung in Afrika oder den Freihandelsabkommen …
Katharina Zangerl
… die teilweise konfliktverstärkend sind.
Ulrike Lunacek
An sich ist es ja nicht verkehrt, den Menschen zu helfen, indem wir Wirtschaftsbeziehungen über den Handel aufbauen und ihnen bei der Schaffung von demokratischen Strukturen zur Seite stehen. Wenn wir unsere wirtschaftlichen Stärken dafür einsetzen, geht es den Menschen natürlich besser. Leider haben wir derzeit das Problem, dass zum Beispiel Interessen von Konzernen überwiegen, sodass wir mit dem Freihandel unter anderem die Ausbeutung von Fischfanggründen in Westafrika begünstigen und so den Menschen dort, ihre Überlebensgrundlage nehmen.
Katharina Zangerl
Können Sie sich erklären, weshalb wir in der EU derzeit unvermögend sind, große Fragen gemeinsam zu lösen?
Ulrike Lunacek
Ich habe da zwei Positionen in mir: Die eine sagt, dass die Europäische Union in vielen Krisen gewachsen und stärker geworden ist. Die andere sagt, dass wir momentan in einer Situation sind, wie wir sie zuvor noch nie hatten. Wir erleben gerade einen Mangel an politischem Willen, gepaart mit strukturellen Defiziten.
Katharina Zangerl
Können Sie auf den fehlenden politischen Willen näher eingehen?
Ulrike Lunacek
Wenn Sie sich beispielsweise die Schaffung des Euro anschauen, werden Sie erkennen, dass die Staaten zwar durchaus gewillt waren, dafür etwas an nationaler Souveränität abzugeben. Doch gleichzeitig verabsäumte man es in der neoliberalen Wirtschaftspolitik, eine tatsächlich gemeinsame Fiskalpolitik, eine gemeinsame Steuerpolitik, die das Steuerdumping von Unternehmen vor allem innerhalb der EU verhindert hätte, zu schaffen.
Ulrike Lunacek

© Annelein Daar

Katharina Zangerl
Ein Ausdruck von unterschiedlichen Interessenslagen unter den Mitgliedsstaaten.
Ulrike Lunacek
Das Problem der EU sind ihre Strukturen. Geschaffen wurden sie von den Regierungen der Mitgliedsstaaten, nicht aber von gesamteuropäisch-demokratischen Vorgängen, wie zum Beispiel einem supranationalen Parlament. Die einzelnen Regierungen sind zwar gegenüber ihrem eigenen Volk demokratisch legitimiert, nicht jedoch von einem Gesamt-EU-Elektorat. Entscheidungen, die alle EU-Bürger gleichermaßen betreffen, werden daher auch von Regierungen anderer Staaten getroffen, auf die man als Wähler keinen Einfluss hat. Auch wenn das Europäische Parlament seit 2009 „Ko-Gesetzgeber“ geworden ist, machen in erster Linie die Regierungen der Mitgliedsstaaten die europäischen Gesetze. Die Regierungen sind auf EU-Ebene die Legislative, deren Gesetze sie dann national als Exekutive umsetzen. Und das ist ein Manko. Das verletzt den Gedanken der Gewaltenteilung. Man kann nicht Exekutive und Legislative zugleich sein. Gerade dieser Bruch jeglicher Gewaltenteilung stellt für mich das größte, strukturelle Problem dar. Verschärft wird es durch die Weigerung der einzelnen Regierungen, gesamteuropäische Lösungen zu finden. Man ist nicht bereit, für Dinge einzustehen, die einem auf nationaler Ebene mitunter Kritik von rechts, rechts-außen und Anti-EU-Parteien einbringen könnten. Wir haben Mitglieder von Regierungen, die auf EU-Ebene etwas beschließen, nur damit sie zuhause sagen können, dass die anderen es waren. Es ist aber irgendwie verständlich. Wieso sollte man auch Gesetze auf EU-Ebene schaffen, die es einem auf nationaler Ebene erschweren, wiedergewählt zu werden?
Katharina Zangerl
Ich bin mir nicht sicher, ob eine strukturelle Reform am Frieden im Inneren wirklich etwas ändern würde. Denn eine solche Reform berührt letztendlich immer nur die Eliten. Frieden im Inneren muss jedoch von den Gesellschaften selbst ausgehen, von den Menschen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Denkt man aber an das Unverständnis über die Griechenlandkrise, die ungelöste Flüchtlingsfrage oder das Gezeter über Arbeiterinnen aus anderen EU-Staaten wird einem schnell klar, dieser intergesellschaftliche Frieden ist nicht präsent. Wir führen zwar keinen Krieg mehr innerhalb der EU, aber kann man vom „inneren Frieden“ sprechen, wenn die Menschen auf dieser Ebene kaum solidarisch und kooperativ sind? Es mag ganz oben in der elitären Etage Zusammenarbeit stattfinden, zurzeit mehr schlecht als recht, aber dennoch. Intergesellschaftlich allerdings sieht es hier noch ganz anders aus.
Ulrike Lunacek
Andere Strukturen sind schwer zu etablieren, vor allem wenn man im Rat einstimmig abstimmen muss, um etwas zu ändern. Ich glaube kaum, dass jemand bereitwillig den Ast abschneidet, auf dem man sitzt. Und gerade dieses Problem spielte eine große Rolle in der Griechenlandkrise. Starre Strukturen machten es praktisch unmöglich, entsprechend auf die Fehler aus der Vergangenheit zu reagieren.
Katharina Zangerl
Schon klar. Aber ist das Problem nicht gerade, dass die normale Bürgerin nicht wirklich nachvollziehen kann, woher zum Beispiel Griechenlandkrise kam? Was kann die EU beispielsweise tun, um ernsthafte Kooperation und Solidarität mit einfachen Mitteln zu fördern – ohne dabei für den Laien schwer verständliche Konzepte zu verwenden?
Ulrike Lunacek
In Griechenland gab es ein großes Problem aufgrund von fehlender Bankenregulierung.
Katharina Zangerl
Das ist aber keine Antwort auf die Frage, warum eine Art Unfrieden in der EU herrscht.
Ulrike Lunacek
Also Moment, es herrscht hier kein Unfrieden. Sie müssen wissen, dass ich mir immer schwer tue, zu sagen, es sei alles schrecklich.
Katharina Zangerl
Ich behaupte auch nicht, dass alles schrecklich sei, aber die Völkerverständigung bleibt großen Teils aus. Es sei denn, man bewegt sich in einer anderen Welt. Man nimmt an  „Erasmus“ teil, reist viel und hat Freunde und Bekannte in ganz Europa verteilt.
Ulrike Lunacek
Ja, genau das ist das, was viele andere nicht haben …
Katharina Zangerl
Die EU schafft mit solchen Austauschprogrammen hervorragende Völkerverständigung zwischen einigen. Abseits dessen hatte man aber zum Beispiel beim Thema Griechenland absolut kein Interesse gehabt, EU-weit den Menschen die Problematik näherzubringen. Warum sollte auch die deutsche Regierung großartig Öffentlichkeitsarbeit dazu leisten, zumal sie nicht von Griechen, sondern von Deutschen gewählt wird?
Ulrike Lunacek
Ein Problem dieser Krise war, dass wir im EU-Parlament eine keynesianische Lösung gefordert hatten – sprich: die Politik soll in Krisenzeiten investieren, und nicht in Kauf nehmen, dass Menschen auf der Straße landen. Letztlich blieben unsere Rufe unerhört, die deutsche Politik gab den Ton an und setzte einen harten Austeritätskurs für Griechenland fest.
Katharina Zangerl
Ja, aber das ist den Leuten doch wurscht.
Ulrike Lunacek
Na aber Moment! Niemand hat die Griechen davor gefragt, ob sie eine solche Sparpolitik wollen. Und Griechenland würde heute ganz anders aussehen, wenn Deutschland und Frankreich nicht auf Austerität gepocht hätten. Sparen anordnen, aber Hauptsache darauf bestehen, dass Griechenland zunächst einmal noch seine deutschen und französischen Forderungen aus den Rüstungskäufen begleicht. Hätten wir doch damals in Griechenland das umgesetzt, was wir im EU-Parlament gefordert hatten: In die griechische Wirtschaft investieren, damit die Menschen nicht reihenweise arbeitslos werden oder mit viel weniger Einkommen auskommen müssen.
Türe im Büro von Ulrike Lunacek

© Annelein Daar

Katharina Zangerl
Also haben die anderen Mitgliedsstaaten falsch reagiert?
Ulrike Lunacek
Das war ja auch der große Kritikpunkt an Frau Merkel damals.
Katharina Zangerl
Und wie steuert man jetzt der Abneigung entgegen, der bei so manchem aufkommt, wenn ausländische Bauarbeiter in der Umgebung arbeiten? Wie entgegnet man jemandem, der hier  nicht mehr an eine solidarische, europäische Gemeinschaft, sondern nur mehr an Ausländer denkt, die einem die Arbeit wegnehmen? Glauben Sie, dass die EU dagegen etwas erfolgreich unternehmen kann, mit Programmen wie „Erasmus“ ?
Ulrike Lunacek
Solche Programme gehören ausgebaut. Es sollte auch ein „Erasmus“ für Lehrlinge geben. Doch ob die Regierungen der Mitgliedsstaaten das umsetzen, ist eine andere Frage.
Katharina Zangerl
Trägt die EU überhaupt irgendeine Verantwortung?
Ulrike Lunacek
Wir, als Steuerzahler, finanzieren das ja. Gerade in diesen Bereichen braucht es die europäischen Gelder und die Eigenverpflichtung der einzelnen Mitgliedsländer, einen Beitrag zu leisten. Eine Schulwoche bei der EU in Brüssel sollte mehr als nur eine Gelegenheit für Jugendliche sein, belgisches Bier zu trinken. Man darf aber nicht unterlassen, die Ursachen zu erkennen und zu ergründen, weil man sonst zu kurz greift. Die europäische Politik werden wir nicht verändern können, wenn wir nicht zuvor die Ursachen für ihre Probleme angehen.
Katharina Zangerl
Dafür fehlt aber eine Öffentlichkeitsarbeit der EU.
Ulrike Lunacek
Die EU verfügt über knapp ein Prozent der Gelder, die die Staaten haben.
Katharina Zangerl
Das würde doch dann für  ein paar Poster und Events ausreichen.
Ulrike Lunacek
Naja, die Events die gibt’s ja auch. Nur die erreichen nicht zwingend viele. Für große Medienkampagnen reicht das Geld schlichtweg nicht aus. Vielleicht schaffen wir es ja im Vorfeld der Europawahl kurzfristig genügend Aufmerksamkeit zu generieren, aber verglichen mit der Berichterstattung über die nationalen Regierungen, geht die EU in den Medien regelrecht chancenlos unter.
Katharina Zangerl
Warum nutzt die EU dann nicht die Zeitungen in den einzelnen Ländern als Kommunikationskanal?
Ulrike Lunacek
Theoretisch ginge das sicherlich, doch praktisch fehlen dafür die Gelder.
Katharina Zangerl
Geld allein kann doch nicht die Lösung sein. Leidet die EU nicht viel mehr unter einem Imageproblem?
Ulrike Lunacek
Ich bin aus Niederösterreich. Bevor ich nach Innsbruck gegangen bin, um zu studieren, befand ich mich in einer Blase, die nur den großen Wasserkopf, den Großraum Wien, umfasste. Mir war vieles nicht bewusst, bis ich aus dieser Blase ausgebrochen bin. Genau das ist die Krux des Imageproblems: Wenn Menschen nicht die Möglichkeiten haben, aus ihrer gewohnten Umgebung herauszukommen, wird es schwer, ihre negative Wahrnehmung zu ändern. Viele Menschen sind sich zum Beispiel nach wie vor unklar, ob wir in Europa überhaupt zusammengehören.
Katharina Zangerl
Was meinen Sie mit, dass den Menschen unklar sei, ob wir überhaupt zusammengehören? Wem ist das unklar? Den Gesellschaften oder den politischen Eliten?
Ulrike Lunacek
Vor allem denjenigen, die das Vertrauen an die Problemlösungsfähigkeit Europas verloren haben. Dass die Eliten wissen, dass Europa zusammenhalten muss, steht – glaube ich – nicht zur Debatte.
Katharina Zangerl
Mich stört es, wenn Politiker ständig davon sprechen, dass die Menschen das Vertrauen verloren hätten. Man kann doch nichts verlieren, was nie da war.
Ulrike Lunacek
Oh doch, das Vertrauen war da.
Katharina Zangerl
Das sehe ich anders.
Ulrike Lunacek
Na sicher.
Ulrike Lunacek

© Annelein Daar

Katharina Zangerl
Menschen, die ihr Leben lang in der EU wohnen, kennen nicht einmal die drei großen EU-Institutionen. Es ist einfach zu wenig, zu sagen, dass das Vertrauen verloren gegangen wäre. Das ist ein Standardspruch, der an sich keine Aussagekraft hat.
Ulrike Lunacek
Das Vertrauen der Menschen in die Politik, oder in die da oben, ist sicherlich massiv gesunken – verglichen mit den 1970er und 80er Jahren. Ich, als Pro-Europäerin, finde es schade, – und ja, das mag vielleicht ein wenig pathetisch klingen – dass wir es nicht geschafft haben, eine Art „europäisches Heimatgefühl“ zu erzeugen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Menschen in der EU einfach ein technokratisches Bürokratiemonster sehen, bei dem man sich nicht wirklich zuhause fühlt. Die EU hat zwar einen gemeinsamen Hauptstadtsitz, zu dem alle eigentlich einen Bezug haben, zu dem es ein Entstehungsnarrativ gibt. Doch irgendwie ist es nicht in den Köpfen präsent.Uns ist es halt nicht gelungen, bei denen, die nicht das Glück haben, viel reisen zu können, eben jenes europäische Heimatgefühl zu erzeugen, das die sogenannten „Eliten“, die Gutgebildeten haben.
Katharina Zangerl
Kann der Brexit hier als Chance gesehen werden?
Ulrike Lunacek
Man könnte ihn als eine Krise, aber auch als Chance sehen. Als damals zu „Pulse of Europe“ europaweit Menschen auf die Straße gegangen sind, um ein Zeichen für Europa zu setzen, erwachte in mir die Hoffnung, dass die Menschen durch die zerstörerische Tour der Rechten und Rechtsaußen wachgerüttelt wurden.
Katharina Zangerl
„Pulse of Europe“ war doch sowas von anti-britisch angehaucht. Ziemlich unfriedlich für einen vermeintlichen „Friedenskontinent“.
Ulrike Lunacek
Nun gut, ich war nicht dabei – mein Terminplan ließ es leider nicht zu. Aber ich finde, dass wir uns eine derartige, parteiunabhängige Initiative nicht zerstören lassen sollten.
Katharina Zangerl
Die Grundidee war ja eh gut.
Ulrike Lunacek
Ich glaube, dass uns dieser Mangel an europäischem Heimatgefühl gerade auf den Kopf fällt. Die Leute nehmen Brüssel als etwas Fremdes, etwas Unvertrautes wahr – als ob wir selbst kein Teil davon wären.
Katharina Zangerl
Und wie ist es mit der EU im Äußeren? Welche Position nimmt sie zwischen Russland und den USA ein? Ist oder wird sie eine vergleichbare Großmacht? Kann sie vielleicht sogar als eine Art neue UNO auftreten– mit mehr Durchsetzungs- und Handlungsfähigkeiten?
Ulrike Lunacek
Wir sind eine humanitäre Weltmacht. Wir sind sicherlich die, die am meisten Mittel zur Hilfe bei humanitären Katastrophen oder in der Entwicklungshilfe beisteuern. Wir treten als EU derzeit auch – in dem neu aufkeimenden „Kalten Krieg“ zwischen den USA und Russland – als Art Großmacht auf, wenn auch nicht so stark, wie ich es gerne hätte. Wobei: Das hat auch wieder sehr viel damit zu tun, dass jeder einzelne Mitgliedsstaat, vor allem die großen, in der Außenpolitik noch immer ihr eigenes Süppchen kochen.
Ulrike Lunacek

© Annelein Daar

Katharina Zangerl
Sind wir nicht eher sehr amerikanisch beeinflusst?
Ulrike Lunacek
Jein … Nein.
Katharina Zangerl
Nein?
Ulrike Lunacek
Indirekt über die NATO, ja. Aber es sind nicht alle EU-Staaten in der NATO und nicht alle sind Bush 2003 in den Irakkrieg gefolgt. Nun gut, was hätte die EU ohne eigenes Heer auch großartig dort machen sollen? Das ist aber wieder ein anderes Kapitel, das wir in absehbarer Zukunft nicht abschließen werden. Ich glaube auch nicht, dass eine gemeinsame EU-Armee jetzt mehr Vertrauen schafft.
Katharina Zangerl
Würde ein gemeinsames Heer nicht das „Heimatgefühl“ stärken?
Ulrike Lunacek
Ich weiß nicht, ob gemeinsame Soldaten wirklich ein Heimatgefühl fördern können. Wohl eher sollten wir bei unserer Außen- und Sicherheitspolitik anfangen. Die EU ist in diesem Bereich sehr schwerfällig, da sie hier von der Einstimmigkeit im Rat abhängig ist. Die Russland-Sanktionen waren zum Beispiel sehr mühsam zu beschließen. Wenn Frau Mogherini sich lediglich „Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“ – und nicht „Außenministerin“ – nennen darf, dann ist das eine Symbolpolitik, die mir sagt, dass wir die EU-Außenpolitik sehr halbherzig handhaben.
Katharina Zangerl
Wird Frau Mogherini in ihrer Funktion ernstgenommen, wenn sie zu Treffen hinfährt?
Ulrike Lunacek
Nun, meistens ist sie in Begleitung des britischen, französischen oder deutschen Botschafters.
Katharina Zangerl
Und wer ist wichtiger?
Ulrike Lunacek
Meistens der britische und der französische, da beide Staaten im UN-Sicherheitsrat sitzen – wir, als EU, hingegen nicht.
Katharina Zangerl
Wäre das eine Möglichkeit?
Ulrike Lunacek
Zu Zeiten des UN-Generalsekretärs Kofi Annan wurden Anstrengungen unternommen, um den Sicherheitsrat zu modernisieren, wobei sich am Konzept der Vetomächte nicht viel geändert hat. Vor allem die Briten und die Franzosen waren nicht bereit, etwas abzugeben. So wurde mitunter eine Chance vertan, die Europäische Union als außenpolitisches Gewicht zu etablieren.
Katharina Zangerl
An dieser Stelle fällt wieder das Öffentlichkeitsproblem der EU auf. Frau Mogherini ist zum Beispiel nicht allen EU-Bürgerinnen ein Begriff.
Ulrike Lunacek
Keine Frage. Das Problem ist ja gerade, dass sie nicht die europäische Außenministerin ist. Das haben ja vor allem die Briten damals verhindert.
Katharina Zangerl
Jetzt haben wir Brexit, eine neue Möglichkeit?
Ulrike Lunacek
Dazu bräuchte es wieder eine Vertragsänderung, für die man aber wiederum alle Mitgliedsstaaten braucht. Leider sind diese derzeit alle miteinander auf einem sehr nationalistischen Trip. Gerade in der Außenpolitik wird versucht, viel an humanitärer Hilfe zu leisten. Doch die EU als solche ist hier leider kaum sichtbar.
Katharina Zangerl
Da wären wir wieder beim Imageproblem.
Ulrike Lunacek
Die Mitgliedsländer weigern sich, ihre Souveränität in diesem Bereich an die Europäische Union abzugeben. Sie glauben scheinbar, dass sie „kleiner“ werden würden, wenn sie etwas von ihrer Souveränität abgäben. Doch in Zeiten wie diesen, in Zeiten von Klimawandel, Flüchtlingen, zu glauben, dass irgendein Staat das alleine lösen kann, ist absurd.
Ulrike Lunacek

© Annelein Daar

Katharina Zangerl
Victoria Nuland, Obamas Chefin für die US-Außenpolitik in Europa, erregte ja damals die Gemüter mit ihrem Ausspruch „Fuck the EU“. Sie hat sich damals darüber aufgeregt, dass die EU zu unentschlossen gewesen sei, dass sie nicht gewusst habe, wie sie agieren solle. Stimmt dieses Bild? Ist die EU ein Haufen von orientierungslosen Chaoten, die keine kohärente Außenpolitik zustande bekommen?
Ulrike Lunacek
Also die USA haben sich mit ihrer Außenpolitik der letzten Jahre auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert – siehe unter anderem Irak. Was die Ukraine betrifft, wollte die EU klarerweise ein Assoziierungsabkommen. Die angedachte NATO-Erweiterung war keine Entscheidung der EU – und ich halte diese auch für einen Fehler. Aber ein Assoziierungsabkommen ist etwas anderes als eine NATO-Erweiterung.
Katharina Zangerl
Dieses „Fuck the EU“ war ja als Antwort, auf die Unfähigkeit der EU außenpolitisch zu handeln, gedacht.
Ulrike Lunacek
Eben. Und da steckt ein strukturelles Problem dahinter. Manche finden, dass wir unsere Beziehung zu Russland verbessern sollten, andere meinen, dass wir uns an die USA halten sollten. Wie sollen wir denn 28 verschiedene Meinungen unter einen Deckel bringen?
Katharina Zangerl
Wann wird die EU es schaffen, gemeinsame Interessen zu definieren und auch umzusetzen?
Ulrike Lunacek
In Zeiten von Orban, Kaczyński und Co, stellen sich vielleicht diejenigen endlich auf die Beine, die für eine politisch, wirtschaftlich und sozial stärkere EU plädieren, und sagen: „Wir machen das!“.
Katharina Zangerl
Und wie sieht’s mit einem Europa der zwei Geschwindigkeiten aus?
Ich bin derzeit für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.Ulrike Lunacek zur Zukunft der EU
Ulrike Lunacek
Es wird, befürchte ich, darauf hinauslaufen. Ich war bis vor zwei Jahren völlig gegen diese Idee, weil ich die Angst hatte, dass ein Prozess einsetzt, der ein paar in den Mittelpunkt des Geschehens treibt, während andere hinausgeschleudert werden. Wir sehen aber gerade, wie manche sich von selbst aus dem gemeinsamen Prozess entfernen. Und wenn wir es nicht schaffen, uns unseren Möglichkeiten anzupassen, uns neu zu konsolidieren, werden weitere Mitgliedsstaaten dem Ruf nach dem EU-Austritt folgen. Diese Gefahr existiert – und ich will auf keinen Fall, dass sie sich realisiert. Insofern ja, ich bin derzeit für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.
Katharina Zangerl
(leicht verwundert) Ja?
Ulrike Lunacek
Die EU wird sich nicht weiterentwickeln können, wenn sie ständig warten muss, weil irgendwer, aus irgendeinem Grund blockiert. Wenn wir nämlich ständig warten müssen, wenn wir ständig zögern müssen, werden wir noch mehr Schaden anrichten, als wenn wir versuchen, etwas voranzubringen, das vielleicht nicht immer jedem passt.