Karlheinz Töchterle ist Ex-Wissenschaftsminister, Nationalratsabgeordneter und Universitätsprofessor. Gemeinsam stellten wir uns den Fragen, ob die Mehrheit immer Recht hat, woher die Sehnsucht nach einem „starken Mann“ kommt und ob Medien zur „vierten Gewalt“ geworden sind.
Hinweis: Dieses Gespräch wurde zum angegebenen Datum ursprünglich auf muamerbecirovic.com veröffentlicht und auf Kopf um Krone übernommen.
Hinweis: Dieses Gespräch wurde zum angegebenen Datum ursprünglich auf muamerbecirovic.com veröffentlicht und auf Kopf um Krone übernommen.
Muamer Bećirović
Herr Dr. Töchterle, leben wir in einer Fernseh-Demokratie?
Karlheinz Töchterle
Nein, so würde ich das nicht sagen. Klar ist, dass die Medien in unterschiedlichster Form einen gewaltigen Einfluss auf die Politik nehmen. Das Fernsehen ist es aber sicher nicht allein, unter den Jungen zum Beispiel nimmt das Fernsehen an Bedeutung ab. Man agiert vielmehr im Netz.
Muamer Bećirović
Würden Sie sagen, dass die Medien die vierte Gewalt geworden sind, neben der Judikative, Exekutive und Legislative?
Karlheinz Töchterle
Das würde ich so nicht sagen. Die Medien kann man mit diesen Gewalten nicht analog setzen. Die Medien sind eine Kategorie, die wahrscheinlich alle drei Gewalten beeinflusst. Die Legislative beeinflusst sie am stärksten, die Exekutive auch sehr stark, solange sie eine politische und nicht eine klassische ist. Die Judikative zum Teil wohl ebenso.
Muamer Bećirović
Die Medien nehmen unermesslichen Einfluss auf die Politik. Ein Beispiel: Christian Wulff, damaliger Bundespräsident Deutschlands, hat sich die Springer (Anm: Verlag) Blätter zum Feind gemacht. Diese haben dann eine dermaßen wilde Kampagne gegen Wulff gestartet, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund des öffentlichen Drucks, den diese Blätter erzeugen, keine andere Wahl gehabt hat, als gegen den amtierenden Bundespräsidenten zu ermitteln. Wenn eine Ermittlung zustande kommt, dann tritt man als Politiker oft zurück. Da kann man durchaus sagen, dass die Medien eine vierte Gewalt sind.
Karlheinz Töchterle
Die Medien sind eine Gewalt, ohne jeglichen Zweifel. Jedoch würde ich sie mit den anderen nicht gleichsetzen, weil sie kategorial nicht zusammenpassen. Sie sind eine bedeutende gesellschaftliche Macht, das ist keine Frage. Aber die drei Gewalten sind staatlich reguliert und bestimmt, die Medien sind es nicht. Ich möchte aber nicht bestreiten, dass sie mitunter auch die Judikative beeinflussen können.
Muamer Bećirović
Sehen Sie sich Talkshows an: Dort werden Menschen eingeladen, die völlig konträre Positionen vertreten, sich gegenseitig »befetzen« und am Ende geht man raus, ohne eine tiefgehende Diskussion über die Materie gehört zu haben. Zudem dort das »Lange Fragen, kurze Antworten« Prinzip herrscht. Mittlerweile ersetzen diese Talkshows auch Parlamentsdebatten und erinnern mich an Serien des Genre Gossip.
Karlheinz Töchterle
Die Medien machen Dinge, die sich verkaufen. Parlamentsdebatten hingegen haben nicht den Anspruch, sich zu verkaufen, auch wenn sie einem breiten Publikum zugänglich sind. Diese zwei Dinge sind unvergleichbar. Das eine Format existiert, um gesehen zu werden. Das andere ist eine finale öffentliche Diskussion zur Beschlussfassung eines Gesetzes.
Muamer Bećirović
Gehören Journalisten mehr zur politischen Klasse, als zum Journalismus?
Karlheinz Töchterle
Das sehe ich überhaupt nicht so. Journalisten sind keine homogene Gruppe. Da gibt es eine große Bandbreite. Wenn wir also dem Zitat von Helmut Schmidt folgen können, dann müssen wir die Journalisten kategorisieren, da gibt es Gesellschaftsjournalisten, Politikjournalisten, Modejournalisten,Sportjournalisten usw. Nehmen wir den politischen Journalisten: Da gibt es einige wenige, die politisch mitspielen wollen, jedoch würde ich diese als eine Minderheit sehen.
Muamer Bećirović
Kommen wir wieder zur Demokratie: Was halten Sie von der Behauptung »je mehr direkte Entscheidungen durch das Volk, desto unregierbarer das Land?“
Karlheinz Töchterle
Das würde ich nicht sagen, ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass das Problem aller modernen Demokratien ihre Repräsentativität ist. Je größer das Gemeinwesen ist, desto größer ist die Repräsentation. Sie sind ja, wie ich sehe, philosophisch veranlagt. Kennen Sie das philosophische Problem zwischen Präsenz und Repräsentanz? Ein Problem, das seit Platon und vor allem in der Postmoderne intensiv diskutiert wird. Man such zwar ständig Präsenz, aber man findet sie selten. So ist es auch in der Politik: Eine direkte Demokratie ist ‚präsenter‘ bzw. näher an der Präsenz als eine repräsentative Demokratie. Damit will ich sagen, was näher bei der Präsenz ist, ist demokratischer.
Muamer Bećirović
Gehen wir es etwas pragmatischer an. Am Beispiel der direkten Demokratie: Haben nicht zu viele außenstehende Faktoren Einfluss auf die Entscheidungsfindung in einer direkten Demokratie, wie eben die Medien oder etwa der Populismus? Oder am Beispiel des ESM-Vertrags: Sie und ich wissen genau, dass der niemals durchgegangen wäre, wenn man das Volk direkt darüber entscheiden gelassen hätte, dennoch war er nötig.
Karlheinz Töchterle
Die Frage ist, ob etwas sein darf, was das Volk in einer Demokratie nicht will. Dies ist eine grundsätzliche Frage. Die Frage ist auch, ob die Mehrheit immer Recht hat. Mit dieser Frage setzt man sich seit Jahrtausenden auseinander. Wenn ich jetzt ein radikaler Demokrat wäre, dann müsste ich sagen, dass jede Entscheidung gegen die Mehrheit des Volkes undemokratisch ist.
Muamer Bećirović
Das nächste Zitat, Herr Professor. »Die Demokratie setzt die Vernunft im Volke voraus, welche sie erst hervorbringen soll.« Würden Sie dem so zustimmen? Fehlt es dem Volk an der Einsicht in die Komplexität?
Karlheinz Töchterle
Das Volk ist sehr unterschiedlich politisch gebildet. Es ist ein inhomogenes Gebilde, mit mehr oder weniger gebildeten Menschen und selbst wenn sie so gebildet wären wie Sokrates, dann wüssten sie auch, oder gerade deshalb, dass sie vieles nicht wissen. Irgendwo findet jegliche Einsicht ihre Grenze. Die Frage ist auch immer, ob die Vernunftgründe immer ausschlaggebend sind. Meines Erachtens sind sie nicht ausschlaggebend für eine politische Entscheidung. Sie spielen eine Rolle, aber die entscheidenden Argumente sind Interessensargumente, nicht Vernunftargumente.
Muamer Bećirović
Jetzt wo Sie es ansprechen: Den letzten Satz finde ich besonders interessant. Alle Zahlen belegen, dass wir uns dieses Sozialsystem, das wir jetzt noch haben, auf Dauer nicht leisten können. Eigentlich leben wir und die vorherigen Generationen auf die Kosten der darauffolgenden Generationen. Selbst wenn man etwaige Reformen generationsgerechter anlegen würde, dann wäre jede Regierung bei der nächsten Wahl abgewählt.
Karlheinz Töchterle
Die Frage ist auch, ob die Sozialpolitik nachhaltig sein kann und nachhaltig sein muss. Was heißt auf Kosten der nächsten Generation?
Muamer Bećirović
Ökonomisch.
Karlheinz Töchterle
Dann gebe ich Ihnen recht. Sozialpolitisch bezweifle ich das. Wir häufen Schulden an, das stimmt. Wenn wir aber wissen, wer die Gläubiger sind, dann müssen wir uns fragen, ob die Gläubiger bedient werden müssen. Am Beispiel Griechenlands. Es gibt viele Fälle, wo Gläubiger nicht bedient werden. Dann ist die Aussage, dass wir Schulden aufnehmen auf Kosten der nächsten Generationen, relativiert. Ohne dass ich das aktuelle griechische Modell vertreten will, ich denke nur in großen Räumen. In der Geschichte waren periodische Entschuldungen die Regel. In allen antiken Gesellschaften gab es diese Entschuldungen, die musste es geben, weil das Kapital immer mehr Geld anzieht und der Zins immer mehr Menschen in die Schuldenfalle treibt. Dann kamen die Entschuldungen und die Gläubiger sind um ihr Geld umgefallen. In analog modernen Gesellschaften gibt es diese Entschuldungen auch, nur viel komplexer und verdeckter. So kann man die Behauptung, dass wir bezüglich des Sozialsystems auf Kosten der nächsten Generationen leben, bestreiten.
Muamer Bećirović
Dann hake ich gleich mal nach: Bundestagswahlkampf in Deutschland. Merkel hat damals gesagt, dass man die Mehrwertsteuer erhöhen wird müssen und hat die Wahrheit gesprochen. Aufgrund dieser Wahrheit hat sie prozentuell Punkte verloren. Die SPD hingegen hat dies verneint, womit sie an Popularität gewonnen und am Ende gemeinsam in der Koalition mit Merkel die Mehrwertsteuer erhöht hat. Vertragen demokratische Gesellschaften die Wahrheit nicht, oder wollen sie diese nicht hören?
Karlheinz Töchterle
Es ist doch häufig so, dass man unangenehme Wahrheiten nicht hören will (lacht). Dies ist doch ein menschliches Phänomen. Sie haben es auf die Demokratie bezogen. Das Wesen der Parteien ist, dass sie wiedergewählt werden wollen. Dabei müssen sie sich in möglichst günstigem Licht den Wählern präsentieren. Da greifen die Parteien manchmal zu Aussagen oder zu Versprechungen, die sie dann nicht halten können. Das kann man als Unwahrheit bezeichnen, wenn sie es besseren Wissens tun, es kann aber auch sein, dass sie das wirklich wollen, aber an der Realität scheitern. Es gibt unterschiedliche Grade bei der Unwahrheit. Klar ist, dass man die nächsten Wahlen gewinnen will, und das führt auf jeden Fall zu Beschönigungen und Unschärfen, von mir aus auch zu Unwahrheiten.
Muamer Bećirović
Herr Töchterle, jetzt wecken Sie das große Interesse in mir, Sie zu fragen, wo Sie die Demokratiedefizite in Österreich beziehungsweise international sehen.
Karlheinz Töchterle
International habe ich leider nicht den Überblick. Jedoch ist Fakt, dass wir ein Bundesstaat sind, mit neun Bundesländern. Dann haben wir diverse Kammern, wo es Pflichtmitgliedschaften mit Pflichtbeiträgen gibt. Diese Kammern, eben weil sie Gelder aus den Zwangsmitgliedschaften haben und damit auch Politik machen, können und müssen für diejenigen eintreten, von denen sie das Geld erhalten. Wir haben in Österreich eine Fülle an Kräften, die nicht parlamentarisch sind. Es gibt zwar die Kammerwahlen, letztlich fungieren diese aber außerhalb der Legislative und Exekutive als politische Faktoren.
Muamer Bećirović
Finde ich spannend. Jetzt wo Sie es erwähnen: Gibt es denn nicht zu viel Machtaufteilung im Lande? Die Bürger haben sich noch nie so sehr nach Autorität gesehnt wie heute. Bruno Kreisky ist ein Beispiel, der gerne auf den Tisch gehaut hat. Die Menschen mögen ihn immer noch.
Karlheinz Töchterle
Die Sehnsucht nach dem ‚starken Mann‘ bzw. dem ‚Vereinfacher‘ resultiert daraus, dass sich der Mensch nach Klarheit und Sicherheit sehnt. Der Mensch mag Eintracht lieber als Zwietracht. Er mag Klarheit lieber als Unklarheit. Allein unsere Sprache legt uns das nahe. Jedoch ist unsere Demokratie sowohl unausweichlich mit Kompromissen als auch unausweichlich mit Konflikten versehen. Demokratie undjeder Pluralismus haben hier einen schweren Stand gegenüber der urmenschlichen Sehnsucht nach Klarheit, Einfachheit und Harmonie. Wenn dann solche Menschen kommen, die entweder durch Populismus, wie Sie sagen, oder vernunftgeleitet Klarheit schaffen, dann finden sie Zulauf.
Muamer Bećirović
Gut, kommen wir zu Innsbruck: Diese Stadt, die eine kleine Sparkasse hat, wird von Staatswegen überwacht. Nur die größten Hedgefonds dieser Welt werden staatlich nicht überwacht, dabei haben sie einen immens großen Einfluss auf die Politik, die Gesellschaft und die Ressourcen aller Welt. Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass der Politik in einigen Sachen die Hände gebunden sind?
Karlheinz Töchterle
Sicher. Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine sehr rasante Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsweise erlebt, vor allem durch die Digitalisierung. Man ist nun in der Lage, weltweit und innerhalb weniger Sekunden riesige Geldsummen zu verschieben. Dies hat Dimensionen angenommen, die unheimlich sind und die wir nicht im Griff haben. Die Politik kann dieses Phänomen gar nicht im Griff haben. Sie gibt sich Mühe, eine gewisse Kontrollfunktion auszuüben. Ehrlich gesagt kann man nur hoffen, dass es hier selbstregulierende Kräfte gibt.
Muamer Bećirović
Selbstregulierende Kräfte?
Karlheinz Töchterle
Ja, selbstregulierende Kräfte. Ich sehe die Macht nicht, die das in den Griff bekommen kann. Der Kommunismus hat versucht die Macht des Kapitals zu brechen. Er ist kläglich daran gescheitert, und niemand wünscht sich den Kommunismus zurück. Stellen Sie sich doch einmal die Frage, mit welchen außer mit totalitären Mitteln man diese Geldwirtschaft in den Griff bekommen könnte. Ich sehe diese nicht. So kann ich nur hoffen, dass die Geldwirtschaft sich selbst gewisse Regeln gibt, weil sie sich ja selber schadet, wenn sie außer Rand und Band gerät. Das kann der Geldwirtschaft auch nicht nützen.
Muamer Bećirović
Wie sieht die Möglichkeit der Bändigung mit dem Verbund von Staaten aus?
Karlheinz Töchterle
Ja, diese Option ist möglich. Diese könnten regulierend eingreifen. Zum Beispiel durch das Austrocknen von Steueroasen oder etwa durch eine gewisse Kontrolle des Bankensektors. Es mag in den Medien zwar selten zu hören sein, aber hier arbeitet die Politik auf Hochtouren. Doch sie bekommt Gegenwind. Dieses Problem werden nur Staatenverbünde lösen.
Muamer Bećirović
Es standen mal drei »Goldmann Sachs«-Bankiers vor Gericht. Auf Kaution von 400 Millionen Dollar konnte man sie freikaufen. Das ist ein Tagesumsatz von Goldmann Sachs. Sie kauften sie frei, als wäre absolut nichts gewesen. Kann man sich mittlerweile mit Geld alles kaufen, Herr Töchterle?
Karlheinz Töchterle
Ich bin nicht der Meinung, dass man sich mit Geld alles kaufen kann. Es gibt Werte, die nicht materiell gebunden sind. Auch die Politik kann man nicht kaufen, davor schützt ihre pluralistische Verfasstheit. Erst kürzlich habe ich mit jemandem über die österreichische Realverfassung debattiert, mit ihren unzähligen Akteuren. Da brachte mein Gegenüber ein Argument, dem ich nichts entgegensetzen konnte: Die Vielzahl ebenjener Akteure verhindert gewissermaßen die Käuflichkeit der Politik. Er hat mir ein Land genannt, wo man sich ein Gesetz buchstäblich »kaufen« konnte. Bei uns wäre das nicht möglich, weil da so viele Mitspieler am Feld sind, da müsste man schon das ganze Land kaufen. Das geht gar nicht. Daraus lerne ich, dass Pluralismus und viele Entscheidungsträger, ja sogar verschiedene Machtebenen, so mühsam sie auch sein mögen und sie uns teilweise auch stören, auf jeden Fall ein Garant dafür sind, dass die Politik hierzulande kaum käuflich ist.
Muamer Bećirović
Ist der Kanzler ein Soldat der Partei? Weil ohne seiner Partei sieht es für den Kanzler momentan ja nicht sehr rosig aus.
Karlheinz Töchterle
Da muss ich Ihnen widersprechen. Am Beispiel unseres Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner sieht man, dass dem nicht so ist. Er bezieht Positionen, die nicht unbedingt die typische ÖVP-Wählerschicht oder seine Parteikollegen ansprechen. Ein Beispiel: Er ist für ein generelles Rauchverbot in allen Lokalen. Ein Politiker wird immer im Interesse seiner Klientel agieren, aber manchmal muss er diese Interessen hinter sich lassen, um weiter zu kommen.
Muamer Bećirović
Ein weiteres Zitat, das ich sehr interessant fand: »Wenn den Entwicklungsländern in Asien, Lateinamerika und Afrika durchgreifend geholfen werden soll, dann müsste das zu Lasten des Lebensstandards in den wohlhabenden Ländern passieren, aber hier würden die Regierungen abgewählt, wenn sie eine wesentliche Verringerung des Lebensstandards in Kauf nehmen sollten. Deswegen tun sie es nicht, hier liegt einer der geborenen Fehler in der Demokratie.«
Karlheinz Töchterle
(nachdenklich) Hm. In dem Fall stimme ich dieser Prämisse vollinhaltlich zu, wobei man uns nicht jegliche Schuld an den schlechten Lebensbedingungen in diesen Ländern geben darf. Wir haben das Glück, eine nachhaltigere Entwicklung gehabt zu haben, die Ansätze dafür kann man sehr weit zurückverfolgen, meiner Meinung nach sogar bis in die griechisch-römische Antike. Wir haben das Glück einer stärkeren, besseren, rationaleren Entwicklung gehabt, die schon auch oft auf Kosten der dritten Welt gegangen ist. Am krassesten war es zu Zeiten des Kolonialismus, jetzt durch unsere Rohstoffsucht, unsere Ernährungsweise, unser Fleischkonsum. Dies ist mir alles bewusst. Von unseren Demokratien zu verlangen, dass unser Lebensstandard heruntergeschraubt wird, um ihn irgendwo anders zu erhöhen, ist ein moralisch hochangesetzter Standard. Viele sind ja solidarisch, tragen auch ihren Teil dazu bei. Natürlich könnten wir auch mehr tun. Die Menschen hier verdienen immer noch mehr als anderswo, wir leben vergleichsweise in Saus und Braus. Auch wenn viele Menschen bei uns statistisch unter der »Armutsgrenze« leben, haben sie dann doch in vielen Fällen ein Handy, ein Fernsehgerät oder ein Auto. Wir nehmen das nicht wahr, weil es neben uns immer Menschen gibt, die noch größeren Luxus haben. Von all denen zu verlangen, dass sie ihren Lebensstandard reduzieren sollen, um den Armen zu helfen, ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Das Resümee, welches ich nun ziehe, ist zwar nicht sehr human, aber unsere Bereitschaft, die Welt auf eigene Kosten zu retten, ist einfach gering. Ich verstehe auch, wieso das so ist. Hier hilft Bildung, Sensibilisierung. Wenn ich das wieder auf die Politik umwälze, dann spart man zuerst an der Entwicklungshilfe, bevor an den eigenen Sozialausgaben gespart wird, weil man wiedergewählt werden will. Man mag das bedauern, aber das ist die Realität, und sie ist verständlich.
Muamer Bećirović
Sind Ihrer Meinung nach Demokratien gefährdet?
Karlheinz Töchterle
Die Ideale der Demokratie sind permanent in Gefahr und müssen ständig neu errungen werden. Die Demokratie ist aber mittlerweile ein so gefestigter Wert in der westlichen Welt, dass ich sie nicht existenziell gefährdet sehe. Ich sehe nur, dass an ihr weiter gearbeitet werden muss. Sie wird dann in Gefahr sein, wenn es den Menschen ganz schlecht geht, wenn dann jemand kommt, der die »Heilsbotschaft« verkündet. Ein Beispiel dafür ist Hitlers Machtergreifung. Die Demokratie muss einen gewissen Wohlstand sichern und schützen, auch wenn es sehr materialistisch klingt.
Muamer Bećirović
Sichern Demokratien den Frieden?
Karlheinz Töchterle
Demokratien sind sicher friedensaffiner als jede andere Verfassungsform, weil Krieg kein vernünftiger Mensch haben will. Den wollen doch nur verhetzte Menschen.
Muamer Bećirović
Einspruch, Herr Töchterle: Global gesehen führen doch Krieg unter anderem auch Demokratien, allem voran die USA. Da ist China doch um einiges friedlicher.
Karlheinz Töchterle
So allgemein kann man das sicher nicht sagen. Die USA allerdings sind eine aggressive Demokratie, das ist richtig. Sie sind es zwar manchmal auch aus demokratiepolitischen und moralischen Gründen, zumeist aber geht es hier wie immer um Macht und Geld. Es gibt keine stärkeren Motive als diese. Die Macht des Geldes darf man niemals unterschätzen. Die Amerikaner können es als mächtigstes Land dieser Welt nicht dulden, dass ihnen gewisse Einflusssphären abhandenkommen oder jemand anderem zufallen. Deshalb sind sie aggressiv.
Karlheinz Töchterle (65) ist Altphilologe und war Rektor der Uni Innsbruck. Von 2011 bis 2013 war er Minister für Wissenschaft und Forschung.