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Gespräch N° 45 | Kabinett

Hasnain Kazim

„Den Streit muss man suchen“

Sollte man lieber den Mund halten, bevor man von den falschen Leuten Applaus bekommt? Nein, sagt Hasnain Kazim. Der mehrfach preisgekrönte Spiegel-Redakteur diskutiert mit Muamer Bećirović die Frage, wie der türkische Präsident Erdoğan ein jahrzehntealtes Staatssystem in wenigen Jahre umkrempelte. Wie es ist, außerhalb der erlaubten Zone zu heiraten, warum Integration eine Bringschuld ist und wie es ist, mit dem Namen Muamer Bećirović in der ÖVP zu sein.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 28. November 2017, fotografiert hat Lukas Roberts.
Muamer Bećirović
Ich möchte mit dir über die türkische Geschichte zum einen und die Türkei selbst zum anderen sprechen. Ich glaube, dass es durchaus Bedarf gibt, nachvollziehen zu können, wie sich dieses Land derart entwickeln konnte, wie es heute ist. Im Groben stellen sich zwei Kernfragen. Wie schafft es ein einzelner Mann, also Erdoğan, eine ganze Nation, ein Staatssystem, das seit Jahrzehnten bestand, binnen zwanzig Jahren gänzlich umzukrempeln? Welche Entwicklungen führten dazu? Dazu müssen wir zunächst unmittelbar in die Zeit nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches blicken. Militärgeneral Atatürk riss die Macht an sich und hat eine regelrechte kulturelle Revolution gestartet, indem er den Religionsunterricht abgeschafft, islamische Bildungsstätten geschlossen und die Türkei weg vom osmanischen Erbe hin zum Westen ausgerichtet hat. Das war eine fundamentale Wende. Mich würde interessieren, ob du mit meinem Schluss übereinstimmst, dass es tatsächlich eine kleine Minderheit, eine Elite, war, die über die Köpfe der eigentlich konservativen Mehrheit hinweg geherrscht hat. Würdest du sagen, dass diese Elite der Mehrheit ihren Willen aufgezwungen hat?
Hasnain Kazim
Das würde ich so teilen und dem auch zustimmen. Wobei ich nicht sagen würde, dass es eine „kleine Minderheit“ war. Es gab schon viele, die das gut fanden. Andernfalls hätte es weitaus stärkere Proteste gegeben. Proteste hat es natürlich immer gegeben – und gegen diese ist man auch sehr brutal vorgegangen. Nur: Ich glaube schon, dass man sagen kann, dass Atatürk weite Teile der Bevölkerung nicht mitgenommen hat. Es war auch keine Revolution im klassischen Sinne – also von unten ausgehend –, sondern sie wurde aufgezwungen – von oben. Die Devise lautete: „Wir machen das jetzt so! Seht her! Der Westen ist das Erfolgsmodell, das Modell der Zukunft!“ Alles, was religiös angehaucht war, sämtliche Symboliken, Kopftücher, Fes (türkische Kopfbedeckung für Männer, Kegelstumpf mit Quaste; Anm.), die alte osmanische Sprache, die arabische Schrift wurden abgeschafft. All das wurde verboten, anstatt zu sagen, dass man sich vielleicht umorientieren sollte. Das Ganze ist auf eine brutale Art und Weise erfolgt. Leute sind für das Tragen eines Kopftuchs bestraft worden. Lehrer, die sich weigerten, der arabischen Schrift den Rücken zuzukehren, wurden entlassen. Das war ziemlich hart. Ich glaube, dass dieses Nicht-Mitgenommen-Werden sich über die Jahre in Frust gewandelt hat. Unter der Oberfläche war das immer zu spüren, erzählen mir viele Türken.  Es gibt auch gute  Romane, die genau das sehr anschaulich beschreiben. Und wenn man alte Zeitungsartikel der vergangenen Jahrzehnte liest, entdeckt man immer wieder Berichte über Unruhen, die aber immer vom Militär gewaltsam unterdrückt wurden.
Es war auch keine Revolution im klassischen Sinne – also von unten ausgehend –, sondern sie wurde aufgezwungen – von oben.Hasnain Kazim über Atatürks Vermächtnis
Muamer Bećirović
Als man in der Türkei mit demokratischen Wahlen anfing, gewann Adnan Menderes, der eigentlich ein islamistisch-konservativer Politiker war, die Wahlen mit einer absoluten Mehrheit. Er hat eine Rückkehr zum alten Erbe angestrebt, wurde aber schlussendlich weggeputscht.
Hasnain Kazim
Und am Ende wurde er umgebracht.
Muamer Bećirović
Er wurde gehängt, ja. Aber es ist schon irgendwie schwer zu erklären: Auf der einen Seite ist die breite, konservativ-islamisch eingestellte Mehrheit, die jemanden wählte, der für ihre Weltanschauung stand, …
Hasnain Kazim
Ich glaube, dass in der Türkei diejenigen, die die Macht hatten, nicht alleine diejenigen waren, die gewählt wurden, sondern auch an anderer Stelle saßen, nämlich im Militär. Die Armee war lange Zeit sehr stark. Wenn man im Gegensatz dazu die heutige Opposition hernimmt, die für Atatürks Erbe steht, kann man an ihr noch immer – obwohl man bald bereits seit 18 Jahren in Opposition ist – zu einem gewissen Grad Arroganz feststellen. Bei manchem Oppositionellen hört man noch immer heraus, wie abfällig über Frauen mit Kopftuch, über Leute vom Land gesprochen wird.
Muamer Bećirović
Wirklich?
Hasnain Kazim
Ja, das merkt man immer noch. Das hatte sich in Zeiten Erdoğans gewandelt, weil diese Leute merken, dass gerade jene, über die sie abfällig lachten, jetzt die Politik bestimmen. Damals sagten sie noch zu ihnen: „Wir enthalten euch bestimmte Machtpositionen vor. Bestimmte Ämter bekommt ihr schlichtweg nicht.“ Menderes selbst war schwierig. Er, wie viele andere auch, war der Überzeugung, dass eine Westorientierung auch Vorteile bringe. Selbst Erdoğan war anfangs dieser Ansicht. Insofern hat niemand von denen einen klaren Schnitt gemacht und gesagt: „Wir wenden uns jetzt von Atatürk ab und wenden uns wieder Richtung Osten, Richtung osmanischem Erbe zu.“ In anderen Worten: mehr Islam. Stattdessen gab es immer den Versuch, beides unter einen Hut zu bekommen. Das hat aber nicht geklappt. Genau das kann man seit einigen Jahren an Erdoğan sehen.
Hasnain Kazim

© Lukas Roberts

Muamer Bećirović
Die Jahrzehnte nach der Hinrichtung Menderes‘ waren buchstäblich von politischer Instabilität geprägt. Es war ein Kampf zwischen Rechts und Links. Und hier begann ja auch die Zeit eines neuen Mannes, und zwar Necmetin Erbakans. Besonders spannend finde ich, dass das eben jene Bewegung ist, der auch Menderes entstammt. Erbakan war übrigens im Nachhinein sozusagen der politische Ziehvater Erdoğans. Und auch er hat eine radikale Rückkehr zum osmanischen Erbe verlangt – und auch er ist danach geputscht worden. Jeder, der auch nur ansatzweise die Verfassung in Frage gestellt hatte, war weg.
Hasnain Kazim
Das war in der Tat so, weil das Militär die Macht hatte – und zum Teil noch immer glaubt, dass es sie hat. Das Militär hatte sich einfach durchgesetzt und es damals auch geschafft. Aus Sicht der Militärs waren diese Putsche erfolgreich. Andererseits waren sie furchtbar für die Türkei, für die politische wie auch für die geistige Verfassung der türkischen Gesellschaft. Man spürt nach wie vor die Wunden des Putsches von 1980. Es ist ein bisschen wie ein Trauma, das jetzt mit dem Putschversuch im Juli 2016 wieder aufgelebt ist. Man konnte am Verhalten Erdoğans sehen, dass er irgendwann den Bruch mit Erbakan gewagt hatte, weil dieser ihm zu konservativ war.
Muamer Bećirović
Denkst du?
Hasnain Kazim
Ja.
Muamer Bećirović
Hat er den Bruch aus machttaktischen Gründen gewagt? Immerhin hat Erdoğan mit ihm erst gebrochen, als er erst später aus dem Gefängnis (Erdogan wurde wegen der Rezitation eines Gedichts in Haft genommen; Anm.) entlassen wurde. Oder ist das dem Umstand geschuldet, dass Erdoğan sich nicht mehr mit ihm identifizieren konnte?
Hasnain Kazim
Darüber kann man nur spekulieren. Da müsste man ihn schon persönlich fragen. Ob er da die Wahrheit sagen würde, weiß ich nicht. Betrachtet man, wie er bisher gehandelt hat, scheint es, als ob es ihm vor allem darum geht, selbst an der Macht zu bleiben. Ich glaube, seine Überzeugung ist eher die eines religiösen Mannes. Aber wenn man sich anschaut, wie er lebt, seinen Lebenswandel, wie er sich kleidet, wie er sich gibt, wohin er reist, lässt sich aufgrund dieser Indizien sagen, dass er durchaus religiös ist, aber er ist auch nicht der Superstrenggläubige. Ich glaube, er macht das aus Machtkalkulation.
Muamer Bećirović
Bei der Wahl zum Oberbürgermeister in Istanbul hatte Erbakan einen anderen als Erdoğan vorgesehen. Trotzdem hat es Erdoğan mit seiner Clique geschafft, dass er Oberbürgermeister wurde.
Hasnain Kazim
Da war der Bruch bereits zu sehen. Erdoğan fühlte sich zurückgesetzt und verraten. Er merkte dann, dass er sich von Erbakan trennen musste. Vielleicht war das Vehikel zu sagen, dass er ihm zu radikal, zu islamisch sei.
(…) er ist auch nicht der Superstrenggläubige. Ich glaube, er macht das aus Machtkalkulation.Hasnain Kazim über Erdoğans Bestreben
Muamer Bećirović
Aber war die Türkei bis zum Zeitpunkt der Machtübernahme Erbakans eine Demokratie?
Hasnain Kazim
Nein. Die Türkei war – wenn man so will – noch nie eine echte Demokratie, abgesehen von der Tatsache, dass Wahlen abgehalten wurden. Abseits dessen gab es die ganzen anderen Punkte, die zu einer Demokratie dazugehören, wie Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, Presse- und Meinungsfreiheit, auch vorher nicht. In den ersten Jahren mit Erdoğan an der Macht gab es eine Bewegung, bei der man merkte, dass es wirklich Richtung Demokratie ging. Die Pressefreiheit wurde besser, das Militär verlor an Einfluss und wurde auf seine eigentliche Funktion zurechtgestutzt, nämlich Landesverteidigung und Sicherheit, nicht aber Mitwirkung in der Politik. Das waren eben diese hoffnungsfrohen Dinge und auch die Gründe, warum Erdoğan anfangs von westlichen Politikern gefeiert wurde. Obama, zum Beispiel, besuchte sehr früh in seiner damals noch jungen Präsidentschaft die Türkei.  Dort hat er Erdoğan in Ankara auf einer Bühne die Hände geschüttelt. Das würde heute auf diese Weise kein Politiker mehr machen. Aber damals war noch 2009. Viele Türken werfen uns westlichen Journalisten heute vor, dass wir sie verraten hätten, obwohl wir früher so toll über sie geschrieben hätten. Was sie aber nicht sehen, ist die Veränderung, die stattgefunden hat. Es gibt einen Grund, warum man jetzt anders schreibt.
Muamer Bećirović
Wirklich? Hat man dich das gefragt, als du in der Türkei warst?
Hasnain Kazim
Klar. „Wieso schreibt ihr nur noch negativ? Früher habt ihr ihn doch geliebt. Jetzt seht ihr nur mehr das Negative“, heißt es. Naja, wir sehen schon auch das Positive. Darüber schreiben wir auch. Wir berichten ausführlich über die positiven Entwicklungen, die es unter Erdoğan gegeben hat, wie die Bemühungen um Reformen, um Demokratisierung, ebenso wie den wirtschaftlichen Aufstieg – wobei der auf sehr tönernen Füßen steht. Das ist alles sehr wackelig. Viel ist von Auslandsinvestitionen abhängig. Man sieht derzeit, dass viele Ausländer ihr Geld abziehen. Und das ist für die türkische Wirtschaft eine Riesengefahr. Das sehen die aber nicht. Das einzige, was sie bemängeln, ist, dass wir früher nett geschrieben hätten und dies jetzt plötzlich nicht mehr täten, dass wir – aus welchem Grund auch immer – nun gegen sie seien. Die verstehen den Grund dafür nicht. Sie wollen ihn auch nicht sehen. Andere werfen uns vor, wie hätten nicht früh genug die Gefahren gesehen, die von Erdoğan ausgingen. Gut, das kann man so sehen. Aber wir sind Journalisten, keine Propheten. Wir beschreiben, was ist.
Muamer Bećirović
Ich habe unlängst Urlaub in Istanbul gemacht. Vor allem hat mich die fast schon fanatische Liebe für Erdoğan interessiert. Ich habe aus Neugier einen älteren Herren angesprochen und ihn gefragt, ob er mir das erklären könne, da ich es gerne begreifen würde. Da antwortete er: „Siehst du die Straßen dort? Dort war früher überall Müll. Wir sind im Müll erstickt. Siehst du das Wasser? Das war früher dreckig beziehungsweise gab es kaum welches. Die Straßenbahnen gab es auch nicht. Bevor Erdoğan gekommen ist, gab es all das nicht, was du gerade siehst. Deshalb halten sie ihm die Treue.“ Wenn ich es pauschalieren darf, dann würde ich schon sagen, dass die türkische Bevölkerung loyal ist.
Hasnain Kazim
Ja, das stimmt. Ich kann das auch ein Stück weit nachvollziehen. Selbst heute kommt es vor, dass in der Innenstadt und den besseren Viertel einmal im Monat das Wasser ausfällt, aus Wasserknappheit, gerade wenn es längere Zeit nicht mehr geregnet hat. Aber normalerweise gibt es fließend Wasser aus der Leitung, das man sogar trinken kann. Klar, Müll war ein Riesenproblem. Die Müllabfuhr gab es eigentlich erst seit der Regierungszeit Erdoğans als Bürgermeister. Dass diese Fortschritte stattgefunden haben, stellt niemand in Frage. Nur was nützen sie einem, wenn plötzlich viele Freiheitsrechte weg sind? Das Problem ist dann, dass jeder, der das kritisiert, gewissermaßen gegen ihn ist, gleich als „Feind“ gesehen wird, der bekämpft werden müsse. Der durchschnittliche Türke sieht eben nur, wie es vor Erdoğan war und wie es heute ist. Er sieht, dass er mehr Geld im Portemonnaie, dass er Strom und Wasser hat. Insofern kann ich nachvollziehen, warum viele Leute Erdoğan mögen. Ich kann auch nachvollziehen, dass der Bauer in Anatolien sagt, dass es ihn nicht interessiert, ob Twitter oder Facebook gesperrt sind. Es gehe ihm besser, und dafür ist es ihm auch recht, Twitter für immer zuzumachen. Für den hat Twitter keinen Stellenwert. Aber wenn man sich das große, ganze Bild anschaut und was das für die Demokratie bedeutet, ist das natürlich ein Problem.
Muamer Bećirović
Keine Frage. Aber ich kann mir diese fanatische Liebe nicht erklären. Ich meine, in unseren westlichen Demokratien gibt es nichts Vergleichbares in der Form, dass Leute es ernst meinen, wenn sie sagen, dass sie für ihn eine Kugel fangen würden.
Hasnain Kazim

© Lukas Roberts

Hasnain Kazim
Ich war im Mai 2014 in Köln bei einer Veranstaltung, bei der Erdoğan aufgetreten ist. Ein Stadion, 15.000 Leute. Ich war da gerade untergetaucht, weil ich in der Türkei bedroht wurde. Trotzdem bin ich dorthin gefahren. Es war eine merkwürdige Erfahrung, weil mich viele Besucher dort erkannten und in mir den Feind sahen, der – aus ihrer Sicht – feindselig über Erdoğan schreibt. Ich bin von Tausenden von Leuten ausgebuht worden. Es gab Frauen, die Tränen in den Augen hatten, als Erdoğan auf die Bühne kam. Es gab Männer, die in der ersten Reihe standen und auf ihre Knie fielen. Das war schon schräg.
Muamer Bećirović
Das ist echt krass.
Hasnain Kazim
Das ist krass. Also ja, in dieser Form wird heute im Westen niemand verehrt, wobei ich keine Ahnung habe, wie Jörg Haider in Österreich verehrt wurde. Ich glaube, dass es auch eine sehr schräge Art war, aber bei Weitem nicht so fanatisch.
Muamer Bećirović
(lacht)
Hasnain Kazim
(wird von Muamer Bećirovićs Lachen angesteckt)
Muamer Bećirović
Nein, nein, auf diese Art wurde Haider nicht verehrt. Ich war in Kärnten und wollte mir auch dort dieses Phänomen erklären lassen. Dort hat jemand das ganze Bundesland in die Pleite getrieben und dennoch wird er von mindestens der Hälfte nach wie vor geliebt. Es ist rational nicht mal begreifbar. Ich war sehr neugierig auf die Antwort und habe unter anderem mit einer Taxifahrerin darüber gesprochen, wie sie sich das erkläre. Sie sagte mir, dass er für jeden Kärntner fassbar gewesen sei. Er sei ständig unter den Menschen gewesen, für jemanden da. Die Menschen merkten sich genau solche Dinge. Ob er das Land dabei in die Pleite geführt hat, ist dabei völlig wurscht. Er gab den Kärntnern ihren Stolz zurück.
Hasnain Kazim
Solche Phänomene gibt es schon immer mal wieder. Ich glaube, das hängt viel von der Persönlichkeit ab. Haider kann ich nicht beurteilen. Erdoğan ist eine Person, die für jemanden, der westlich sozialisiert ist, schwer nachvollziehbar ist. Aber er ist schon eine Vaterfigur. Er spricht, verglichen mit früheren Präsidenten und Premierministern, ein ganz einfaches, bodenständiges Türkisch – also gewissermaßen ein „Dorftürkisch“. Das verwendet er bis heute. Das pflegt er auch. Ich bin überzeugt dass er nicht dumm ist.
Muamer Bećirović
Definitiv nicht.
Hasnain Kazim
Bei Trump wäre ich mir da nicht so sicher. Bei Erdoğan  ist es, und das meine ich nicht abwertend, eine Art Bauernschläue, die super bei den Leuten ankommt, weil die denken, dass das einer von ihnen sei, dass er genauso rede wie sie, dass er ihre Sorgen verstehe. Das ist auch der Grund, warum die ganzen Korruptionsvorwürfe, die es gegen Erdoğan gibt, die ja begründet sind, ihm nichts anhaben. Es ist naheliegend, dass er sich ohne Ende bereichert, so wie auch seine ganze Familie, zum Beispiel sein Schwiegersohn. Ich habe die Leute gefragt, ob sie darin ein Problem sehen. Die Leute antworten dann, dass sie sie sehen, aber verweisen auch auf all das, was er für sie, die Türken, und für das Land getan habe. Und selbst wenn er sich dabei etwas in die Tasche steckt, sei ihnen das egal – so nach dem Motto: Hauptsache, er tut was für uns, dann kann er sich schon was nehmen.
(…) in dieser Form wird heute im Westen niemand verehrt, wobei ich keine Ahnung habe, wie Jörg Haider in Österreich verehrt wurde.Hasnain Kazim über den Kult um Erdoğan
Muamer Bećirović
Weißt du, woher dieses Phänomen rührt? Ich glaube, dass es darin liegt, dass frühere Machthaber nicht so waren.
Hasnain Kazim
Nein, überhaupt nicht.
Muamer Bećirović
Das soll also heißen, dass man sich früher die eigenen Taschen vollgestopft hat, aber nichts für die breite Masse übrigließ, während Erdoğan im Gegensatz dazu auch der breiten Masse etwas gibt.
Hasnain Kazim
Genau, ich mache etwas für die breite Masse und stecke mir dabei auch selbst etwas in die Tasche. Über Letzteres  wird dann hinweggesehen. Das sei in Ordnung. Man will darüber nicht viel wissen. Man wird als Journalist sofort angefeindet, sobald man sich an diese Korruptionsgeschichten heranwagt und etwas darüber schreiben will. Die türkischen Medien berichten nahezu gar nicht darüber – außer vielleicht „Cumhuriyet“. Ein paar kritische Medien gibt es noch. Doch diese werden auch sofort als „Feindpresse“ ausgemacht, anstatt zu sehen, dass die einfach nur ihren Job als Journalisten machen, die kritisch auf Sachen gucken. Und auch das ist ein Problem.
Muamer Bećirović
Erdoğan musste 1999, als er noch Istanbuler Bürgermeister war, wegen eines Gedichts für vier Monate ins Gefängnis. Das Gedicht selbst ist nach europäischen Maßstäben verfassungsfeindlich. Es gab aufgrund seiner Verhaftung Massenproteste. Das ist ein höchst emotionales Volk. Vergleichbares gäbe es bei uns nicht, wenn jemand verhaftet werden würde.
Hasnain Kazim
Ja, das stimmt. Deutschtürken und Austrotürken sind ja auch unglaublich von ihm fasziniert. Bei den Deutschtürken kann ich das insofern nachvollziehen, als sie oft das Gefühl haben, nie in Deutschland angekommen zu sein. Es lebt mittlerweile schon die vierte Generation in Deutschland, Großeltern und Eltern sind in Deutschland geboren, und trotzdem sagt man, dass sie irgendwie nicht angekommen seien. Und das werfen sie der deutschen Gesellschaft und deutschen Politik vor.  Integration ist aber auch immer eine Bringschuld – von beiden Seiten.  Wenn man auch nach vielen Jahren noch seltsames Deutsch spricht, sich nur in seinem türkischen Umfeld bewegt, ist das ein Problem. Das ist bei vielen natürlich nicht so. Aber selbst unter den vielen wunderbar integrierten Menschen gibt es viele, bei denen man zunehmend merkt, dass sie das Gefühl haben, nicht integriert zu sein. Und dann kommt einer wie Erdoğan und spricht sie an, als wären sie seine Leute. „Ihr gehört zu uns! Und wenn ihr irgendwann nicht mehr willkommen seid, dann kommt zurück in die Türkei“, lautet die Ansage. Neulich hat er ja gesagt: „Irgendwann werdet ihr in die Türkei zurückkommen und werdet sagen: ‚Was ist schon Deutschland? Wir sind viel moderner und besser. Genau dorthin will ich die Türkei bringen.‘“ Das kommt bei den Leuten natürlich gut an. Er gibt ihnen Selbstwertgefühl.
Hasnain Kazim

© Lukas Roberts

Muamer Bećirović
Er war ja auch in Wien. Damals habe ich als Junger für das „Biber“-Stadtmagazin geschrieben, hatte noch eine journalistische Karriere im Blick. Mein Chefredakteur schickte mich mit der Anmerkung hin, dass ich mir das mal anschauen solle. Ich habe in meinem Leben noch nie Derartiges gesehen. Innerhalb von zwei Stunden waren tausende Menschen da. Eine ganze Arena war voll. Dann gab es eine Hymne von ihm und sie lagen ihm buchstäblich zu Füßen. Von dort habe ich eine prägende Erkenntnis gewonnen: Sie fühlen sich von den Politikern Österreichs wie etwas Minderwertiges behandelt. Sie spüren, dass sie als weniger wert wahrgenommen werden, als der Rest der österreichischen Bevölkerung und auf sie herabgeblickt wird. Erdogan sprach und hat der Masse dort das Gefühl gegeben, etwas wert zu sein, dass er auf sie stolz sei, wie sie sich hier in Österreich ein neues Leben aufgebaut hätten. Schau, ich weiß nicht, wie das bei euch in Deutschland ist – ich glaube, ihr seid da ein bisschen weiter, aber bei uns in Österreich wirst du keinen ranghohen Politiker hören, der Austrotürken Wertschätzung entgegenbringt. Es gibt bei uns niemanden, der das wirklich gerne in irgendeiner Form in der Öffentlichkeit sagt und ein gemeinsames Narrativ formuliert. Der Ton ist ein verdammt rauer.
Hasnain Kazim
Auch die SPÖ nicht?
Muamer Bećirović
Nein. Nicht mit dieser Direktheit. Das hörst du in der Direktheit nicht. In Deutschland schon, wobei der ehem. Kanzler Kern das mittlerweile versucht.
Hasnain Kazim
Klar. In Deutschland gibt es auch relativ viele Politiker mit türkischen Wurzeln, insbesondere bei den Grünen. Die Grünen haben ja mit Cem Özdemir eine Führungsfigur.  Allerdings haben sie sich dadurch, dass sie sich in den Wahlkampf in der Türkei eingemischt und offen die pro-kurdische HDP unterstützt haben, in eine schwierige Position gebracht. Damit haben sie sich auch in der Türkei zur Partei gemacht. Daher sagt Erdoğan: „Ihr mischt euch bei uns ein, ich mische mich auch bei euch ein.“ Jetzt sagt er ganz klar, nicht die CDU, nicht die SPD, nicht die Grünen zu wählen – interessanterweise nur diese drei. Warum er die FDP auslässt, weiß ich nicht. Die Linkspartei kann er auch nicht gut finden, da diese ganz klar pro PKK ist. Auch das finde ich schwierig. Die AfD kann er auf jeden Fall nicht unterstützen. Die sind ja recht ausländerfeindlich.
Muamer Bećirović
In der Zeit, in der Erdoğan Ministerpräsident wurde, gab es Reformen Richtung EU. Die Beitrittsverhandlungen begannen. Wirtschaftsreformen wurden durchgeführt. Ich frage mich, ob er wirklich gewillt war, einen europäischen Weg einzuschlagen. Wie lautet deine Einschätzung?
Hasnain Kazim
Das ist schwierig zu beurteilen. Ich habe vor kurzem ein Buch über die Türkei geschrieben, das am 25. September 2017 rauskam („Krisenstaat Türkei. Erdogan und das Ende der Demokratie am Bosporus“; Anm.). Ich habe darin versucht, herauszuarbeiten – aber letztlich bleibt es eine Vermutung –, ob Erdoğan ein Demokrat ist. Es gab ja viele Leute, die schon damals gesagt haben, dass er keiner sei und die Türkei deswegen nicht in die EU dürfe. Das hielt ich damals für einen Fehler. Und diese Leute sagen jetzt: „Seht her! Wir haben recht behalten!“ Aber es ist Kaffeesatzleserei zu sagen, er wäre anders geworden, wenn man die Türkei aufgenommen hätte, wenn man mit ihr anders umgegangen wäre. Ich glaube nicht, dass Erdoğan je ein überzeugter Demokrat ist.
Muamer Bećirović
Das glaube ich auch nicht.
Hasnain Kazim
Denn wenn er einer wäre, würde ihm all das, was er jetzt tut und macht, im Herzen wehtun. Das tut kein Demokrat. Demokrat ist man aus Überzeugung. Und das ist er definitiv nicht. Man schmeißt nicht einfach so Prinzipien weg und sagt: „Wenn nicht so, dann halt anders.“ Auf der anderen Seite ist er für mich auch kein Hardcore-Islamist. Vor meiner Zeit in der Türkei habe ich vier Jahre in Pakistan gelebt und von dort berichtet. Ich weiß, wie solche Leute ticken. In Pakistan und Afghanistan ist das eine ganz andere Nummer. Dort gilt die Scharia unter ständigem Verweis auf den Koran.
Muamer Bećirović
So ist Erdoğan nicht.
Hasnain Kazim
Er ist weder so, noch kleidet oder gibt er sich so.
Muamer Bećirović
Er instrumentalisiert sie aber hin und wieder. Vor Menschen, die für ihr politisches Machtstreben Religionen instrumentalisieren, habe ich die größtmögliche Skepsis. Mit Argumenten des Jenseits versuchen, politische Handlungen für das Diesseits zu legitimieren, ist niederträchtig.
Hasnain Kazim
Ich glaube schon, dass er im Herzen gläubig ist. Er geht in die Moschee. Er glaubt. Andererseits wird immer wieder deutlich, dass ihm das Materielle, das Weltliche, das Diesseitige wichtig ist  – Stichwort Korruption. Ich glaube, er ist Pragmatiker. Es geht ihm darum, an der Macht zu bleiben. Es geht ihm darum, reich zu sein, Geld zu haben, seine Familien in guten Positionen zu wissen. Ich glaube, er hat all das getan, weil er überzeugt war, dass es gut für die Türkei und auch gut für ihn sei. Er hat es sichtlich genossen, dass er unter anderem von Obama hofiert wurde. Na gut, Merkel und Sarkozy waren nicht immer so für ihn, aber letztlich wurde er auch von ihnen besucht und war selbst ein gern gesehener Gast in Europa. Jetzt zu merken, dass er das nicht mehr ist, verletzt ihn halt.
Demokrat ist man aus Überzeugung. Und das ist er definitiv nicht.Hasnain Kazim über Erdoğans Verhältnis zur Demokratie
Muamer Bećirović
Der deutsche Altkanzler Gerhard Schröder sagte in einem Interview über die Türkei, dass es auch anders hätte kommen können, wenn wir die Türkei näher an uns gebunden hätten. Er ist ziemlich überzeugt davon. Ich glaube, dass er damit Teil einer Minderheit in Deutschland ist, oder? Wir sind ja momentan eher auf so einem Trip, bei dem auf die Türkei herabgeschaut wird.
Hasnain Kazim
Ja.
Muamer Bećirović
Der Grundtenor bei uns ist, dass die Türken keine Demokraten sind und zurückgeblieben sind. Hast du den Eindruck, dass dem so ist?
Hasnain Kazim
Dass man so herabschaut?
Muamer Bećirović
Ja.
Hasnain Kazim
Ja, den habe ich.
Muamer Bećirović
Berechtigt?
Hasnain Kazim
Nein. Ich finde, auf Menschen herabzuschauen, ist grundsätzlich schlecht und eine Unart. Ich kann jedoch dieses Befremden verstehen. Diese stelle ich auch selbst fest, wenn Deutschtürken mit großer Mehrheit Erdoğan, also ein autoritäres System, wählen, sie selbst aber Freiheit, Frieden und Sicherheit in Deutschland genießen. Das finde ich schon kritikwürdig und habe das entsprechend  kommentiert. Dafür habe ich dann viel Applaus von AfD-Fans bekommen. Das wollte ich zwar überhaupt nicht, aber gut, ich kann bestimmte Dinge, von denen ich überzeugt bin, sie auch argumentativ darlegen kann, ja nicht verschweigen, nur damit ich von den falschen Leuten keinen Applaus kriege. Das ist mir dann auch egal. Aber ja, Herabblicken halte ich für falsch, und es ist etwas, das es bereits vor Erdoğans Zeit gab: dass auf sie herabgeblickt wird. Deshalb fühlen sich so viele Menschen mit Wurzeln in der Türkei in Deutschland nicht angekommen. Ich halte die harsche und scharfe Kritik an Erdoğan für berechtigt und für absolut sinnvoll. Aber leider nutzen viele Leute ihre Kritik als Ventil, um ihrer Abneigung gegenüber Türken und allem Fremden, vor allem islamischen, freien Lauf zu lassen. Das ist das Problem. Es war immer schon so, dass, wenn man sich als Mieter für eine Wohnung beworben hat, jemand namens Muhammad, Hasnain oder Ali Nachteile gegenüber einem Adalbert Müller hat. Wir können uns normal kleiden, Deutsch sprechen, so viel wir wollen, aber sobald man den Namen am Telefon sagt, ist man nicht mehr in der Auswahl für die Wohnung. Dieses Herabblicken war schon immer da. Es ist leider durch diese ganze Erdoğan-Geschichte verstärkt worden.
Muamer Bećirović
Das stimmt. Aber kommen wir gleich auf den Punkt. Ich will nur noch kurz die Geschichte abhandeln. Erdoğan hat ja mit Abdullah Gül 2007 einen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt, bei dem sich das Militär dagegenstellte, weil es meinte, dass eine Frau mit Kopftuch nicht First Lady werden könne. Hat er schon damals versucht, das Militär von seiner Machtposition herunterzustoßen? Er hat ja mit der Gülen-Bewegung, die im Polizeiapparat, im Justizapparat, aber auch im Medienapparat sehr präsent war, zusammengearbeitet, um an die Macht zu kommen. Schlussendlich ist er gemeinsam mit ihnen das Militär losgeworden.
Hasnain Kazim
Ja genau.
Hasnain Kazim

© Lukas Roberts

Muamer Bećirović
Als er das Militär loswurde, hat er zu diesem Zeitpunkt geplant, auch Gülen sofort loszuwerden? Er hat ja unmittelbar danach begonnen seine Schulen, die ja der Gülen Bewegung gehörten, einzuverleiben.
Hasnain Kazim
Zum Militär hat er schon immer ein schlechtes Verhältnis gehabt. Als er in den Neunzigerjahren Oberbürgermeister von Istanbul werden wollte, hat das Militär gesagt, dass er gefährlich sei, dass man ihn nicht wählen solle. Das Militär war entsetzt, als Erdoğan dann plötzlich doch gewählt wurde. Insofern war das Verhältnis immer angespannt. Dass das Militär ihn nicht mochte, weil er Islamist ist und kein Atatürk-Verfechter, setzte sich dann natürlich auch während seiner Zeit als Premierminister fort. Interessanterweise hatte er ein lebenslanges Politikverbot. Das hat ihn aber überhaupt nicht bekümmert.
Muamer Bećirović
Das hat er ja dann aufgehoben gehabt.
Hasnain Kazim
Genau, er hat weitergemacht und Abdullah Gül vorgeschickt. Aber dann gab es 2001 oder 2002 eine Einladung von George W. Bush nach Washington, die interessanterweise nicht an Gül, sondern an Erdoğan gerichtet war. Alle wussten, dass Erdoğan eigentlich der starke Mann, der wahre Boss ist. Das Militär hat er geschickt entmachtet. Er hat die Gülen-Bewegung dazu genutzt. Das waren seine Freunde. Sie war ein Teil der AKP. Wie es dann zum Bruch kam, darüber gibt es bis heute unterschiedliche Angaben. Was genau  führte zum Bruch? Fethullah Gülen ist ja schon Ende der Neunziger in die USA gegangen, Erdoğan war da noch nicht so mächtig.  Zwischen den beiden Männern kam es dann erst später zum Bruch, 2009 vielleicht oder 2010.
Muamer Bećirović
Das Militär hat so oft gegen alles, was sich nur irgendwie erhoben hat, geputscht, nur gegen Erdoğan nicht.
Hasnain Kazim
Naja, er hat ja immer die Theorie vertreten, dass das Militär ständig plane. Erdoğan behauptet ständig, dass das Militär immer wieder Versuche – Putsch kann man das nicht nennen – gestartet habe, ihn zu entmachten. Tatsächlich wurden immer wieder Prozesse gegen Militärs geführt. Ich glaube schon, dass etwas an diesen Versuchen dran ist, Erdoğan loszuwerden. Das gipfelte im vergangenen Jahr in diesem Putschversuch. Es gibt jetzt auch immer die Warnung, dass jederzeit wieder ein Putsch passieren könnte. Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Wenn man mit Militärs spricht, merkt man, dass die unglaublich unzufrieden mit Erdoğan sind.
Muamer Bećirović
Heute auch noch?
Hasnain Kazim
Heute auch noch, ja.
Muamer Bećirović
Wirklich?
Hasnain Kazim
Zumindest jene, die noch reden. Die meisten kritischen Stimmen wurden ja ausgetauscht, an den entscheidenden Stellen im Militär sitzen nur noch regierungstreue Leute. Alle möglichen  Offiziere sind im Gefängnis. Trotz allem gibt es noch immer eine Gruppe, die sehr gegen Erdoğan ist und die Situation nicht gut findet.
Muamer Bećirović
Ich glaube, dass das Militär nichts unternahm, weil Erdoğan Wahlen über Wahlen einfach gewonnen hat. Erdoğan hatte einen breiten Support in der Bevölkerung.
Hasnain Kazim
Es ist natürlich schwierig gegen die Bevölkerung. Man hat 2016 gesehen, dass es Leute gab, die sich auf der Straße vor die Panzer stellten. Erdoğan hatte zuvor aus seinem Urlaub per Videochat im Fernsehen die Leute aufgerufen, auf die Straßen zu gehen. Ich glaube, diejenigen, die den Putsch geplant hatten, haben ihn einfach schlecht geplant. Ich muss ganz klar sagen, dass ich auch froh bin, dass er nicht geklappt hat. Ich bin gegen Militärputsche. Das muss ich deshalb sagen, weil Erdoğans Anhänger sonst sofort sagen, dass wir Journalisten auf Seite der Putschisten stünden. Das sind wir nicht! Aber man hat gesehen, welche Unterstützung Erdoğan in der Bevölkerung genießt, wenn man sich die Massen anschaut, die seinem Aufruf gefolgt sind, spätabends auf die Straße zu gehen. Das hat dann dazu geführt, dass der Putschversuch nicht geklappt hat.
Muamer Bećirović
Erdoğan hat unmittelbar danach begonnen, die Gülen-Bewegung zu zertrümmern und alle Kritiker und “Feinde“ aus dem Staatsapparat zu entfernen. Er hat Staatsanwälte, Richter, Lehrer, Beamte, Polizisten entlassen – also quer durch die Bank alles, was ihm in die Quere kam. Hat er tatsächlich ausschließlich Gülen-Leute entlassen oder war es eher nach dem Zufallsprinzip?
Hasnain Kazim
Zufällig war das nicht. Es waren schon die betroffen, die er weghaben wollte.
Muamer Bećirović
Aber das waren Zehntausende, Hunderttausende.
Ich muss ganz klar sagen, dass ich auch froh bin, dass er nicht geklappt hat. Ich bin gegen Militärputsche.Hasnain Kazim über den Putschversuch im Juli 2016
Hasnain Kazim
Das spricht sehr klar dafür, dass es fertige Listen gab, wer die Gegner sind und wer nicht. Die Erdoğan-Regierung denkt sehr klar in Freund-Feind-Schemata. Da gilt man manchmal von vornherein als Feind. Ich als Journalist zum Beispiel. Für mich war das insofern eine besondere Erfahrung, weil ich direkt aus Pakistan kam und manche AKP-Politiker mir den Eindruck vermittelten, ich als jemand mit Wurzeln in Pakistan, einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, müsse gewissermaßen von Haus aus größeres Verständnis für  Erdoğans Politik haben. Offensichtlich erwarteten sie, ich müsse weniger kritisch sein.
Muamer Bećirović
Wirklich? Haben sie das?
Hasnain Kazim
Das war am Anfang sehr klar zu spüren. Umso größer war die Enttäuschung, als sie merkten, dass ich kritisch berichte. Und um nochmals auf die Feind-Freund-Thematik zurückzukommen: Es muss diese Listen vorher gegeben haben. Viele Leute auf diesen Listen waren Gülen-Anhänger.
Muamer Bećirović
Das ist ja eine breite Bewegung.
Hasnain Kazim
Die Gülen-Bewegung ist eine weit verbreite Bewegung. Das sind fromme Leute, die aber durchaus säkular denken und wirtschaftlich stark sind. Man sagt sich, dass man im Diesseits hart arbeiten, Geld verdienen, die Wirtschaft voranbringen solle, gleichzeitig soll man aber fromm sein. Diese Leute sagen, dass sie für die Trennung von Religion und Staat sind. Es gibt viele, die mit Politik, geschweige denn mit dem Putsch, nichts zu tun haben, und trotzdem heißt es, dass man sie jetzt beseitigen müsse. „Boydak“, der größte Möbelhersteller der Türkei, der weltweit exportiert, gilt als Gülen-nah. Jetzt haben viele, die dort gearbeitet haben, ein Problem. Bei „Turkish Airlines“ sind Leute entlassen worden, denen man vorwirft, Gülen-nah zu sein. Das ist schon ziemlich absurd. Aber Erdoğan hat seine Chance genutzt. Er hat den Putschversuch ja als „Geschenk Gottes“ bezeichnet, um alle kritischen Stimme loszuwerden.
Muamer Bećirović
Aber ich begreife das nicht. Er hat es ja nicht nötig. Machttechnisch gibt es keinen, der ihm auch irgendwie das Wasser reichen könnte.
Hasnain Kazim
Das liegt an seiner Persönlichkeitsstruktur. Er könnte ja heute auch noch wahnsinnig beliebt sein im Westen. Er könnte das alles total locker nehmen. Er könnte sich humorvoll mit den Kritikern auseinandersetzen, sie ein bisschen abwatschen. Er könnte sich lustig machen über sie und auch sich selbst mit Humor nehmen. Er könnte es so geschickt machen.
Muamer Bećirović
Genau, aber er macht es so plump.
Hasnain Kazim
Er ist ein aufbrausender Choleriker. Er ist jemand, der in Freund-Feind-Kategorien denkt. Seine Anhänger finden das alles in Ordnung und kommen ständig mit dem Einwand, dass das halt seine Persönlichkeit sei und dass man diese so zu akzeptieren habe. Ich finde, dass das kritikwürdig ist.
Muamer Bećirović
Ja, selbstverständlich.
Hasnain Kazim
Mich wundert, dass so viele Menschen Erdoğans Art akzeptieren. Die Türkei könnte viel, viel weiter sein, wenn Erdoğan sich ändern würde.
Muamer Bećirović
Es gab in der türkischen Geschichte noch nie eine vernünftige Koalitionsregierung. Die Parteien können nicht miteinander. Sie hassen einander wie die Pest!
Hasnain Kazim
Im Juni 2015 hat die AKP erstmals seit ihrem Regierungsantritt die Regierungsmehrheit verloren. Sie musste sich also mit einem Koalitionspartner zusammentun. Es war von vornherein klar. dass das nicht funktionieren würde. Man stellte sich sehr rasch auf Neuwahlen sein. Noch im Juni 2015 begann der Terror in der Türkei, und Erdoğan machte klar: Ihr müsst der AKP die alleinige Regierungsfähigkeit zurückgeben, andernfalls kann ich nicht für die Sicherheit des Landes garantieren. Im Grunde genommen erpresste er die Wähler.
Hasnain Kazim

© Lukas Roberts

Muamer Bećirović
Liegt das nicht an der Mentalität? In Österreich können sich Rot und Schwarz – ungeachtet aller ideologischen Verfeindung – hinstellen und zunächst einmal überlegen, welche Punkte zusammengehen, um dann festzustellen, dass das Bleiben an der Macht über Zusammenarbeit auch ganz nett sein könnte.
Hasnain Kazim
Naja …
Muamer Bećirović
Aber die Türkei tickt einfach nicht so.
Hasnain Kazim
Ja.
Muamer Bećirović
Dort heißt es „entweder alles oder nichts“.
Hasnain Kazim
Ja, das ist so. Ein Stück weit kann ich das durchaus nachvollziehen. Kompromisse haben oftmals beachtliche Kehrseiten. In Österreich sind die Großen Koalitionen schon wahnsinnig lähmend. Jahrzehnte der Großen Koalition, und was ist das Ergebnis?
Muamer Bećirović
Ja, stimmt …
Hasnain Kazim
In der Türkei entspricht das nicht der Mentalität. Schau dir die MHP an, …
Muamer Bećirović
… die Nationalisten.
Hasnain Kazim
Die Nationalisten sind geradezu faschistisch. Erdoğan macht ihnen Versprechungen und Hoffnungen, dass sie irgendwann einmal mit ihm an der Macht sein werden. Daher stimmen sie mit ihm und vertreten in Wahrheit in vielen Bereichen seine Politik. Das ist keine Opposition. Auch die größte Oppositionspartei, die CHP, ist nicht immer wirklich Opposition. Nach dem Putschversuch, den sie zurecht kritisierte, stellte sie sich allen Ernstes Hand in Hand mit Erdoğan auf die Bühne. Da frage ich mich: Ist das klug? Ist es  aus Sicht von Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der CHP, klug, als Oppositionsführer auf die Bühne zu gehen und Erdoğan die Hand zu reichen, ihn damit zu stärken? Ich halte das für einen großen Fehler. Aber er vermittelte den Eindruck: „Schaut, die ganze Welt ist gegen uns, daher müssen wir Türken zusammenstehen!“ In solchen Situationen steht ein Kılıçdaroğlu von der CHP lieber gemeinsam mit Erdoğan auf der Bühne, anstatt sich von Erdoğan vorwerfen zu lassen, er sei auf der Seite der Feinde. Dieses Freund-Feind-Denken spiegelt sich in Erdoğans Bild von „der Türkei gegen den Rest der Welt“, einer Welt, die die Türkei zu spalten versuche, wider. Wie oft habe ich schon gehört, ich sei ein Spion Deutschlands, dass alle Journalisten Spione seien, und dass wir in Wahrheit nichts anderes versuchten, als die Türkei zu spalten, die Gräben zu vertiefen. Aus diesem Grund würden wir so berichten, wie wir berichten. Das ist absurd. Aber die Leute glauben das.
Muamer Bećirović
Absolut. Spannend ist auch diese Fülle an Macht, die Erdoğan mittlerweile innehat. Keine Persönlichkeit in der türkischen Geschichte war so mächtig wie Erdoğan heute. Ich glaube, dass selbst Atatürk seinerzeit nicht so mächtig war. Erdoğan regiert ja buchstäblich alleine. Es gibt auch keine Gewaltenteilung mehr. Wobei er interessanterweise teils ziemlich gewichtige Kritiker innerhalb der AKP hatte. Davutoğlu zum Beispiel, und auch sein Präsidentschaftskandidat und Präsident Gül selbst, waren sozusagen die „gestandenen“ Männer innerhalb der Partei, nicht? Ich meine, Davutoğlu hat ein Jahr das Verfassungsreferendum, mit dem Erdogan seine Macht einzementieren wollte, hinausgezögert. Das zeigt schon, dass es größere Meinungsverschiedenheiten unter den mächtigen Leuten innerhalb der AKP gibt.
Hasnain Kazim
Die gibt und gab es auch früher schon. Ein paar Leute aus der AKP erzählen das.
Muamer Bećirović
Wirklich?
Hasnain Kazim
Ja. Sie seien unzufrieden, meinten sie.  Natürlich wollen sie nicht namentlich genannt werden, aus Angst vor Erdoğan. Sie sagen, sie sehen sehr wohl, wie Erdoğan mit seiner Politik bei den Massen ankommt und Wahlen gewinnt. Da sind sie äußerst pragmatisch. Am Ende zählt nur das Wahlergebnis, sagen sie. Und da die gut sind für Erdoğan, stellt er seine Kritiker kalt.
Muamer Bećirović
Ja, es gibt keine mehr.
Hasnain Kazim
Davutoğlu weg, alle weg! Als dann Yıldırım Nachfolger von Davutoğlu als Premierminister wurde, hat er in seiner Rede zu seiner Einführung sinngemäß gesagt, dass er immer treu an Erdoğans Seite stehen werde. Ich habe mich fremdgeschämt. Das war dermaßen peinlich, dass ich mich gefragt habe, wie ein derart gestandener Mann, der gerade Premierminister der Republik Türkei geworden war, so reden konnte, als würde er ihm gerade zu Füßen liegen. Solche Ja-Sager holt Erdoğan sich massenweise. Er hat nur noch Ja-Sager um sich.
Solche Ja-Sager holt Erdoğan sich massenweise. Er hat nur noch Ja-Sager um sich.Hasnain Kazim über das Verstummen von Erdoğan-Kritikern
Muamer Bećirović
Wenn er einmal gehen sollte, dann wird er ein Machtvakuum hinterlassen, das kein Mensch in der Türkei füllen kann. Eine Koalitionsregierung, wie wir sie kennen, ist in der Türkei schon allein aufgrund des Hasses der einzelnen Parteien zueinander scheinbar unmöglich. Das neulich eingeführte Präsidialsystem ist glasklar ein autokratisches System. „Check and balances“ ist buchstäblich nicht vorhanden.
Hasnain Kazim
Das Parlament hat sich mit der Zustimmung für das Präsidialsystem und weiteren Verfassungsänderungen selbst entmachtet. Damit entsteht eine neue politische Kultur. Im türkischen Parlament gab es regelmäßig Schlägereien, die – ironisch gesprochen – sehr schöne Bilder hergaben. Das ist halt die Art und Weise, wie sich diese Personen miteinander auseinandersetzen. Jetzt herrscht aber tatsächlich ein Ein-Mann-System. Keine Ahnung, was geschieht, wenn Erdoğan einmal geht.  Es kursiert seit langem das Gerücht, er sei sehr krank. Wenn er mal geht, kann ich mir vorstellen, dass jemand aus seiner Familie folgen wird. Sein Sohn und sein Schwiegersohn sind beide schon in Machtpositionen, aber ob sie es schaffen, in seine Fußstapfen zu treten, weiß ich nicht.
Muamer Bećirović
Fakt ist, dass der Staatspräsident nun der mächtigste Mann in der Türkei sein wird. Allein schon die von der neuen Verfassung eingeräumten Befugnisse zeugen fast schon diktatorischer Macht. Aber kommen wieder auf Österreich und Deutschland zurück. Vor kurzem wurde in Österreich der Integrationsbericht präsentiert und es wurde festgestellt, dass die Zahl der Austrotürken, die sich in Österreich wohlfühlen, um zehn Prozent zurückgegangen ist. Das ist sehr besorgniserregend.
Hasnain Kazim
Ich verstehe schon, dass viele Türken, in dem Fall Austro- und Deutschtürken, sich jetzt beschweren, sich ständig für Erdoğan rechtfertigen zu müssen, obwohl sie ihn gar nicht gewählt haben. Aber diejenigen, die Erdoğan gewählt haben, müssen sich schon fragen, wie sie das eigentlich miteinander vereinbaren. Das ist eine Auseinandersetzung, der sich die Betreffenden stellen müssen. Es ist nicht einfach, hier eine Balance zu schaffen: Einerseits diese Diskussion und die entsprechenden Antworten einzufordern, gleichzeitig nicht auf alle Menschen mit Wurzeln in der Türkei herabzublicken. Ich glaube auch, dass die Austro- und Deutschtürken selbstbewusster sein müssen. Ich höre zum Beispiel sehr oft, wenn ich kritisch über diesen Themenkomplex schreibe, dass ich ein „Büttel der Deutschen“ sei. Dann heißt es, ich sei der „Hauspakistani“ – abgewandelt vom Begriff „Haustürke“. Als „Haustürke“ versteht man jemanden, der als „Sklave“ von den Deutschen gehalten wird. Jetzt ist es der „Hauspakistani“, der alles tue, nur um den Deutschen zu gefallen. Dann frage ich mich: Warum verstehen diese Leute, die mich so nennen, sich immer noch als Türken, obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind? Warum fangen sie nicht an, sich selbst als Deutsche zu verstehen? Warum fordern diese Leute ihre Anliegen nicht ein? Warum gehen diese Leute nicht in bestimmte Positionen, Parteien, Medien, wohin auch immer, und machen einfach ihren Job als Mitglieder der Gesellschaft in Deutschland, die sie ja sind?
Muamer Bećirović
Das sage ich auch. Ich sage das auch den Jungen. Die sagen mir dann, dass sie zum Beispiel zwar gern in einen Club kommen wollen würden, der Türsteher sie aber nicht lasse, weil sie „Schwarzköpfe“ sind. Das ist wirklich „serious shit“ (eine aus dem Englischen entlehnte Redewendung, die sich insbesondere in jüngeren Kreisen großer Beliebtheit erfreut – in etwa: „ernsthafte Sache“; Anm.). Wenn so etwas einem studierten Mann geschieht, der seinen Beitrag zur Gesellschaft leistet, ist klar, dass unglaublich große Frust entsteht. Eine Lösung dafür sehe ich nicht. Damals gab es keine Lösung dafür, heute auch nicht. Dieses Herabschauen spüren sie stark und aus Stolz und Trotz pfeift man auf Partizipation.
Hasnain Kazim
Die Gefahr sehe ich. Das Problem ist aber, dass man das eine nicht mit dem anderen gegenrechnen kann. In der Debatte, wie feindselig Deutschland sei, kommt von Deutschtürken zum Beispiel oft eine Referenz zu den NSU-Morden. Dieser Fall ist natürlich monströs, und was geschehen ist, ist absolut kritikwürdig. Nur kann man das mit der Kritik an Erdoğan aufrechnen? Nein. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Hasnain Kazim

© Lukas Roberts

Muamer Bećirović
Nicht wenige werfen ein, dass die Sache bis dato noch immer nicht aufgeklärt wurde.
Hasnain Kazim
Das Gerichtsverfahren läuft noch. Ich selbst verfolge es als Zeitungsleser und kann nicht mehr dazu sagen. Aber die Kollegen, die sich damit auseinandersetzen, sagen, dass sich der Vorwurf, die Morde seien institutionell unterstützt worden, der Verfassungsschutz sei gar beteiligt gewesen, nicht belegen lässt. Solang es keine Beweise dafür gibt, kann man das nicht behaupten. Manche Türken stellen das aber als Tatsache dar.
Muamer Bećirović
Ist eine gewisse Grundarroganz vorhanden? Ich selbst beobachte, dass es eine solche zu einem gewissen Grad auch in meiner Partei (Muamer Bećirović ist Mitglied der „Neuen Volkspartei – Liste Sebastian Kurz“; Anm.) gibt. Nicht nur in meiner, sondern in allen Parteien. Wir Europäer halten uns gegenüber dem Rest der Welt für viel weiterentwickelter und besser.
Hasnain Kazim
Ja.
Muamer Bećirović
Ich würde schon sagen, dass es eine unterschwellige Abneigung, bei manchen sogar mehr als das, gegen Türken gibt.
Hasnain Kazim
Ja, gibt es mit Sicherheit. Bei manchen Leuten gibt es …
Muamer Bećirović
Ich denke, dass das auch auf einen erheblichen Anteil der Bevölkerung zutrifft.
Hasnain Kazim
Ja – zumindest was Deutschland anbelangt. In Österreich kenne ich mich noch nicht gut genug aus, um das beurteilen zu können. In Deutschland gibt es eine Abneigung, die sich in einem herablassenden Blick äußert. Bei jemandem wie mir ist der Migrationshintergrund sichtbar. Der Migrationshintergrund eines Ole Nordström  ist zwar auch einer, wird jedoch nicht als solcher wahrgenommen. Bei einem Kazim hingegen sehr wohl. In meinem Fall kennen mich viele Leute mittlerweile. Man weiß, dass ich für „Spiegel Online“ und den „Spiegel“ schreibe, dass ich Journalist bin. Daher gibt es auch Respekt meiner Person gegenüber. Aber wenn man weniger bekannt ist oder sich sprachlich weniger wehren kann, ist es schon schwerer. Ich kann den Leuten nur raten, selbstbewusster aufzutreten. Sie müssen Dinge einfordern und sich bei Problemen beschweren, sich artikulieren. Man muss kämpfen, aber bitte nicht mit Fäusten. Das hat man früher auf der Schule getan, auf dem Pausenhof. Da habe ich damals immer den Kürzeren gezogen, weil ich körperlich schwach war. Wobei, ich habe mich sehr selten geprügelt. Ich war also pragmatisch. Heute weiß ich, dass ich mit Worten stark bin. Ich weiß, wie man sich wo beschweren kann, welche Dienstwege es gibt, welche Rechte ich habe. Deshalb sage ich, dass die Leute lernen müssen, wie dieses System funktioniert. Erst dann kann man sich auch wehren.
Muamer Bećirović
Wieso stößt man in Amerika auf großen Anklang, wenn man sagt, dass es kein „schwarzes Amerika“, kein „weißes Amerika“, sondern lediglich die „Vereinigten Staaten von Amerika“ gebe. Wieso ist das in Österreich oder Deutschland nicht so?
Hasnain Kazim
Interessante Frage, ich weiß es auch nicht. Ich frage: Was genau ist die deutsche oder österreichische Leitkultur? Gibt es eine solche überhaupt? Das ist ein Thema, das mir zum Hals raushängt. Ich kann dieses Gerede von der Leitkultur nicht mehr hören. Schon klar, wenn man die Sprache nicht beherrscht, wird es schwierig. Auf der anderen Seite kommt dann ein Staatssekretär Jens Spahn (CDU; Anm.) und regt sich über Kellner auf, die Englisch sprechen. Manche Leute ticken schon sehr hinterwäldlerisch. Auf deine Frage bezogen, warum es so etwas hier nicht gibt: Multikulti gilt heutzutage ja mittlerweile eher als etwas Negatives. Ich selbst kann das nur schwer nachvollziehen. In den USA tragen die Menschen ungeachtet ihrer Herkunft viel Verantwortung – nicht nur für ihre eigene ethnische Gemeinde, sondern für die Gesamtgesellschaft. Wenn ich mir manche Journalisten anschaue, die für deutsche Medien aus den USA berichten, merke ich, dass die gar keine Ahnung haben, was in den jeweiligen Communitys geschieht. Es gibt dort eine große pakistanisch-indische Gemeinde, es gibt eine nigerianische, japanische, chinesische, und was es sonst noch so alles gibt. Aber kaum jemand von außen hat Einblick in diese Gruppen. Dabei ist das auch alles Amerika. Das sind für sich einzeln genommen gewissermaßen kleine, in sich geschlossene Gesellschaften, kleine Blasen oder Parallelgesellschaften, wenn man so will. Im Berufsleben kommt man zwar mit anderen Gruppen in Berührung, aber ich kenne kaum jemanden, und ich spreche jetzt vor allem von der südasiatischen Community, der außerhalb seiner Gemeinde heiratet. Und da merkt man, dass die Integration nicht so weit reicht, dass die Menschen in Erwägung ziehen, über die Herkunft hinaus zu heiraten. Ich habe eine deutsche Frau. Ich bezeichne mich selbst als Deutscher. Meine Frau ist halt deutsch-deutsch. Ich bin pakistanisch-deutsch. Sie ist weiß und blond, ich braun und schwarzhaarig. Das kommt bei vielen pakistanischstämmigen Amerikanern sehr komisch an. Die sagen dann so etwas wie „Puh, der hat jetzt außerhalb der erlaubten Zone geheiratet, warum tut er so etwas?“ Diese Frage hat sich mir nie gestellt. Ich bin in Deutschland geboren, aufgewachsen, mein soziales Umfeld kommt aus allen möglichen Ländern. Die meisten meiner Freunde und Bekannten sind weiß und deutsch, weil die meisten Menschen in Deutschland derzeit so sind. Beim Militär war das besonders interessant: Ich war damals einer der ganz wenigen, der einen Migrationshintergrund hatte. Da war ich schon ein Exot.
Und da merkt man, dass die Integration nicht so weit reicht, dass die Menschen in Erwägung ziehen, über die Herkunft hinaus zu heiraten.Hasnain Kazim über die Grenzen der Integration
Muamer Bećirović
Aber wenn du dir anschaust, welchen Einfluss Erdoğan vor allem auf die Glaubensgemeinschaft und die türkischen Vereine in Österreich, aber auch in Deutschland, hat, muss man sagen, dass dieser zurückgedrängt gehört. Er benutzt sie für außenpolitische Zwecke. Welcher Islam ausgelebt wird, haben die österreichischen Muslime zu entscheiden und da bedarf es an keinen Belehrungen aus Ankara. Dagegen müssen wir noch stärker vorgehen.
Hasnain Kazim
Wer präsentiert denn überhaupt den Islam in Österreich oder in Deutschland? Das beanspruchen manche Verbände, aber ich frage mich oft: mit welchem Recht? Ich selbst bin konfessionslos und in einem protestantischen Umfeld großgeworden, in einem Dorf, das konservativ-protestantisch war, habe aber schiitische Wurzeln. Wenn du mich fragst, was mir am vertrautesten ist, dann ist das der Protestantismus, und zwar von meiner Kindergartenzeit an. Ich habe damals an den weihnachtlichen Krippenspielen teilgenommen und war immer der dunkle der drei Heiligen, die auf dem Weg zum Jesuskind waren. Natürlich bin ich auch mit dem schiitischen Islam vertraut, weil ich ihn von meiner Verwandtschaft in Pakistan kenne. Wäre ich nun also ein praktizierender Muslim, warum sollte mich ein Religionsverband vertreten und mir religiöse Vorgaben machen, der von türkisch-sunnitischen Muslimen dominiert wird? Warum sollen die für alle Muslime, für den Islam, für den Glauben jetzt irgendwie der Maßstab sein? Gut, die Mehrheit der Muslime in Deutschland mag türkisch-sunnitisch sein. Aber ich glaube schon, dass die deutsche Politik, was das anbelangt, zu sehr auf diese eine Gruppe hört. Ich denke, wir müssten die Angelegenheit einfach viel breiter sehen. Immerhin ist auch der Islam sehr vielfältig, egal welche Gruppe hier nun die Mehrheit stellt. Ich glaube auch, dass man schauen muss, wer sie finanziert, welchen Einfluss die Türkei nimmt. Wieso werden Predigten, die in Deutschland gehalten werden, in Ankara geschrieben? Ich finde, das geht nicht.
Muamer Bećirović
Ja, sehe ich auch so.
Hasnain Kazim
Ich finde, diese Forderung in Deutschland, dass Predigten auf Deutsch gehalten werden sollten, nachvollziehbar. Auf der anderen Seite müssen wir prüfen, ob sie mit dem Gleichheitsprinzip vereinbar ist. Warum dürfen beispielsweise russisch-orthodoxe Kirchen auf Russisch predigen? Wir müssten die Forderung für alle durchsetzen, da sie sonst einseitig wäre. In Wahrheit ist die Forderung ja gegen den Islam gerichtet. Ich kann trotzdem nachvollziehen, dass die Finanzierung einer sehr großen Migrantengruppe mit Geldern aus dem Ausland Probleme hervorruft.
Muamer Bećirović
Sobald du beginnst, Kritik an der Mehrheitsgesellschaft zu üben, wird es wieder heikel, weil einem dann vorgeworfen wird, dass man sich wieder für die entgegengesetzte Richtung einsetze.
Hasnain Kazim
Ist es schwierig, mit deinem Namen in der ÖVP zu sein?
Muamer Bećirović
Hin und wieder widerfahren einem komische Dinge. Ich kenne Leute mit Migrationshintergrund, die sind ganz angepasst, ecken nicht an. Ich hingegen ecke schon gern an, lasse das auch die Leute spüren. Als Resultat gibt es ein skeptisches Beäugen. Das hat auch mit meiner Natur zu tun. Ich bin ein äußerst unbequemer Streiter für neue Gedanken. Angepasst wäre ich wohl in keiner Partei. (lacht)
Hasnain Kazim
Das ist ja das Interessante daran. Wenn du nämlich zum Beispiel „Alois Kachelgruber“ hießest, dich genauso wie jetzt kleidetest, genauso sprächest, und das machtest, was du machst,  würdest du nicht in dieser Ecke stecken.
Muamer Bećirović
Durchaus, ja. Da würde man mich auch nicht sofort mit dem Integrationsthema in Verbindung bringen. Ich werde jedenfalls penibel dafür sorgen, dass man mich in keine Schublade stecken kann.
Hasnain Kazim
Mit deinem Namen dürfte das schwierig sein.
Muamer Bećirović
Da bin ich mir sicher.
Hasnain Kazim
Wie nehmen dich die Leute wahr? Als Christen? Oder als Muslim?
Muamer Bećirović
Muslimisch. Die Einzelfälle, mit denen ich mich hin und wieder konfrontiert sehe, beschäftigen mich, weil sie mich intellektuell beleidigen. Diese Einzelfälle hast du in jeder Partei. Da muss ich meine Partei in Schutz nehmen. Wenn die nur wüssten, dass mein Wille weiterzumachen, dadurch ins Unermessliche steigt. Denen zeige ich es noch.
Hasnain Kazim
Migrantenkinder sind alles andere als eine homogene Gruppe. Wir sind verschieden, auch wenn andere das bestreiten. Aber wir alle müssen gegenhalten, nachfragen, kritisieren. Ich habe meine Argumente, denen man auch widersprechen kann – das ist auch in Ordnung. Aber ich finde, den Streit muss man suchen.