Gespräch N° 52 | Kabinett
Daniel Kapp
„Jeder hat seinen Grund, ein bisschen an der Wahrheit vorbeizureden“
„Wir wollen das nicht mehr zahlen, wir wollen das nicht, wir wollen jenes nicht!“
Daniel Kapp, Kommunikationsexperte und längst-dienender Pressesprecher der österreichischen Bundesregierung, hat das Gefühl, wir leben in einer sehr defensiven Zeit. Warum Angela Merkel „angerötelt“ und Sebastian Kurz ein Ausnahmefall ist, erzählt er im Gespräch mit Muamer Bećirović.
Daniel Kapp, Kommunikationsexperte und längst-dienender Pressesprecher der österreichischen Bundesregierung, hat das Gefühl, wir leben in einer sehr defensiven Zeit. Warum Angela Merkel „angerötelt“ und Sebastian Kurz ein Ausnahmefall ist, erzählt er im Gespräch mit Muamer Bećirović.
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Muamer Bećirović
Herr Kapp, beginnen wir mit der Frage: Woher kommt denn eigentlich diese Bewegung? Ich persönlich würde diese Nationalkonservatismus nennen. Wer ist denn konservativer: jene Gruppierungen oder Erdoğan?
Daniel Kapp
Da würde ich jetzt keinen Unterschied identifizieren. Ich weiß auch nicht, ob der Begriff Nationalkonservatismus wirklich den Nagel auf den Kopf trifft. Da sind konservative Facetten dabei. Worum es im Kern geht, ist, glaube ich, dass die Menschen grundsätzlich eine gewisse Verunsicherung in einer globalisierten Welt empfinden und hier der Rückgriff auf etwas scheinbar Vertrautes eine Verführung bietet. Es gibt politische Gruppierungen, die sich dieses Instrumentariums bedienen: ob das eine nationalkonservative oder nationalsozialistische Ausprägung ist, diese Spielarten sind unterschiedlich in der Praxis.
Muamer Bećirović
Ich möchte eine These in der Raum stellen: Sie haben die Globalisierung angesprochen. Was hat sie denn bewirkt? Sie hat Grenzen eingerissen. Dinge wie Tradition, Grenzen, Ungleichheit der Menschen, Autorität, Religion als Quelle der Werte, all diese Dinge sind am Abnehmen!
Daniel Kapp
Diese Dinge waren eine Weile lang am Abnehmen, aber wenn wir diesen Rückgriff auf fundamentalistische, Nationalidentität stiftende Elemente und analytisch betrachten, dann ist der IS, der Islamische Staat, der Rückgriff auf den Islam, auch als Identifikationsmerkmal einer Gruppe in Abgrenzung zu anderen genauso eine Facette der Phänomene, über die wir sprechen. Nein, ich sehe eigentlich die Trendwende eher daher, dass man sich auf vermeintlich Vertrautes zurückzieht: ob das ein fundamentaler Islam ist, ob das die quasi religiöse Überhöhung einer Nation zu einem Glaubenskonstrukt in der Kombination mit Religion in der Türkei ist oder die nationalreligiöse Untermauerung der Politik in Ungarn. HC Strache ist zeitweise damit aufgefallen, dass er das christliche Abendland propagiert hat, was ideengeschichtlich nicht zwingend im dritten Lager verankert ist.
Muamer Bećirović
Wieso, denken Sie, funktioniert das?
Daniel Kapp
Es funktioniert, glaube ich, weil tradierte bzw. moralische Instanzen im Laufe der Jahre erodiert sind. Viele Dinge sind bequem geworden und haben sich in gewisser Weise von der Bedürfnislage der Menschen weg entwickelt. Nehmen wir die Europäische Union: Ich selbst bin nicht nur persönlicher Profiteur der Europäischen Union, ich bin auch aus Überzeugung Europäer, da ich als Migrant innerhalb der Europäischen Union von Deutschland nach Österreich gekommen bin, wo ich seit dreißig Jahren lebe. Es fällt mir allerdings zunehmend schwerer, die Realität dieser Europäischen Union mit meiner Sehnsucht und Vision Europa in Einklang zu bringen.
Gehen wir in trockene Materie: die Datenschutzgrundverordnung. Super Thema: Datenschutz wollen wir alle. Die Verordnung trat am 25. Mai 2018 in Kraft, verspricht höheren Datenschutz, bringt aber in Wahrheit ein bürokratisches Monster mit sich, über das wir, glaube ich, alle noch sehr viel diskutieren werden. Die Verordnung wird auf unser Wirtschaftsleben einwirken. Nehmen wir ein Unternehmen mit sechs Mitarbeitern: Es wird wahrscheinlich eine Person in Teilzeit angestellt werden müssen, die unsere Adressdaten gesetzeskonform verwaltet. Jeder Datensatz, den wir haben, muss vermerkt werden, wenn er abgespeichert wird. Ob wir Ihre Genehmigung haben, diese Daten in der Adressdatei abzuspeichern? Für welche Zwecke wir sie haben dürfen? Dürfen wir Newsletter schicken? Nach welcher Rechtsgrundlage? Das müssen wir alles vermerken und protokollieren und das bei tausenden von Datensätzen! Dabei sind wir hier mit sechs Leuten nicht Google und nicht Facebook. Diese Unternehmen sind dazu in der Lage, mit großen Rechtsanwaltsfirmen und dem entsprechenden Mitteleinsatz alles rechtskonform zu gewährleisten. Das fällt uns Konsumenten auf, wenn wir die Allgemeinen Geschäftsbedingungen bestätigen müssen, bevor wir einen Service im Internet nutzen können. Derartig große Unternehmen werden damit das geringste Problem haben, über jene kleinen und mittleren Unternehmer hingegen fährt solch eine Gesetzgebung wie eine Dampfwalze.
Ein anderes Beispiel: die Hygienevorschriften-Verordnung, vor etlichen Jahren in Kraft gesetzt. Vor ihrer Inkraftsetzung gab es in Niederösterreich, glaube ich, 750 selbstständige Fleischhauer, heute gibt es ungefähr 200. Sicher haben andere Faktoren auch dabei eine Rolle gespielt, die Konzentration des Marktes zum Beispiel, aber eine solche Legislation beschleunigt diesen Prozess und entfremdet die Menschen. Da ist für Menschen nicht mehr nachvollziehbar, warum das so sein muss. Bei Interesse können wir etliche Punkte durchdiskutieren, bei denen der Mensch in Bezug zu den Kräften, die heutzutage die Lebensrealität gestalten, immer weniger Bezug erkennt.
Gehen wir in trockene Materie: die Datenschutzgrundverordnung. Super Thema: Datenschutz wollen wir alle. Die Verordnung trat am 25. Mai 2018 in Kraft, verspricht höheren Datenschutz, bringt aber in Wahrheit ein bürokratisches Monster mit sich, über das wir, glaube ich, alle noch sehr viel diskutieren werden. Die Verordnung wird auf unser Wirtschaftsleben einwirken. Nehmen wir ein Unternehmen mit sechs Mitarbeitern: Es wird wahrscheinlich eine Person in Teilzeit angestellt werden müssen, die unsere Adressdaten gesetzeskonform verwaltet. Jeder Datensatz, den wir haben, muss vermerkt werden, wenn er abgespeichert wird. Ob wir Ihre Genehmigung haben, diese Daten in der Adressdatei abzuspeichern? Für welche Zwecke wir sie haben dürfen? Dürfen wir Newsletter schicken? Nach welcher Rechtsgrundlage? Das müssen wir alles vermerken und protokollieren und das bei tausenden von Datensätzen! Dabei sind wir hier mit sechs Leuten nicht Google und nicht Facebook. Diese Unternehmen sind dazu in der Lage, mit großen Rechtsanwaltsfirmen und dem entsprechenden Mitteleinsatz alles rechtskonform zu gewährleisten. Das fällt uns Konsumenten auf, wenn wir die Allgemeinen Geschäftsbedingungen bestätigen müssen, bevor wir einen Service im Internet nutzen können. Derartig große Unternehmen werden damit das geringste Problem haben, über jene kleinen und mittleren Unternehmer hingegen fährt solch eine Gesetzgebung wie eine Dampfwalze.
Ein anderes Beispiel: die Hygienevorschriften-Verordnung, vor etlichen Jahren in Kraft gesetzt. Vor ihrer Inkraftsetzung gab es in Niederösterreich, glaube ich, 750 selbstständige Fleischhauer, heute gibt es ungefähr 200. Sicher haben andere Faktoren auch dabei eine Rolle gespielt, die Konzentration des Marktes zum Beispiel, aber eine solche Legislation beschleunigt diesen Prozess und entfremdet die Menschen. Da ist für Menschen nicht mehr nachvollziehbar, warum das so sein muss. Bei Interesse können wir etliche Punkte durchdiskutieren, bei denen der Mensch in Bezug zu den Kräften, die heutzutage die Lebensrealität gestalten, immer weniger Bezug erkennt.
Es funktioniert, glaube ich, weil tradierte bzw. moralische Instanzen im Laufe der Jahre erodiert sind. Viele Dinge sind bequem geworden und haben sich in gewisser Weise von der Bedürfnislage der Menschen weg entwickelt.Daniel Kapp über den Wandel der Werte
Muamer Bećirović
… weil Sie das Beispiel erwähnen: Lässt sich denn der Konservatismus mit der Globalisierung in Einklang bringen? Wenn ich Franz Josef Strauß nehme: „Konservativ heißt, nicht nach hinten blicken, konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren“. Erhard Busek hat gesagt: „Konservativ sein bedeutet, an der Wirklichkeit zu überprüfen, ob sie in dieser Form noch weiter gehen kann“. Ich würde zwischen progressiven und weniger progressiven Konservativen differenzieren.
Daniel Kapp
Deswegen gefällt mir der Begriff in Zusammenhang mit Nationalismus auch nicht so gut. Konservatismus kann verschiedene Prägungen haben, wie Sie selber ansprechen. Er kann dieser progressive Konservatismus sein, der versucht, Gutes zu bewahren und Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen, sodass die Werte in der zeitgemäßen Art bewahrt bleiben. Nehmen wir das Beispiel Familie. Ich habe nie verstanden, warum manche konservativen Kräfte die gleichgeschlechtliche Ehe derart ablehnen. Es nimmt ja von der heterogenen sexuellen Ehe überhaupt nichts, wenn zwei, die zufällig schwul sind und einander mögen, sich zu zutiefst bürgerlichen Werten einer stabilen ehelichen Gemeinschaft bekennen. Da würde man den Wert der Solidarität der Partnerschaft in eine heutige Jetzt-Zeit übersetzen können.
Muamer Bećirović
… aber ist das denn nicht, primär da Sie das ansprechen, irgendwo ein Heimatverlust, auch in Bezug auf die Konservativen, die keine gleichgeschlechtliche Ehe wollen? Heimat ist nämlich für diese Personen das, wo derjenige nicht dazugehört, der dort nicht hingehört.
Daniel Kapp
Heimat kann auch etwas sehr Behütetes bzw. Fürsorgliches an sich haben. Mein Heimatbegriff liegt, glaube ich, in Anlehnung an Karl Jaspers: „Heimat ist dort, wo ich verstehe und verstanden werde“. Es gibt einen positiven Austausch.
Muamer Bećirović
Das sehen die meisten anders.
Daniel Kapp
Heimat muss ja nicht zwangsläufig der Ort sein, den ich dadurch definiere, dass ich andere davon fernhalte.
Muamer Bećirović
… aber so definieren ihn die meisten Leute, oder etwa nicht? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als die Moschee im 21. Bezirk erbaut wurde, gab es heftigen Widerstand. Zum ersten Mal hatten, glaube ich, die Menschen das Gefühl: „Jetzt dringt etwas Fremdes in meine wohlbehütete Zone ein“. Nur denken die Menschen heute, dass man das wieder loswerden kann und das wird nicht der Fall sein.
Daniel Kapp
Wenn man sich die Geburtenstatistik von Wien anschaut, dann muss man wohl davon ausgehen, dass im Jahr 2050 oder 2070 der Kebab genauso wie das Kipferl zu einer der Wiener Spezialitäten gehören wird und damit wird man sich hoffentlich auch gut arrangieren.
Muamer Bećirović
Meinen Sie?
Daniel Kapp
Hoffentlich, weil alles andere wäre ein massiver Konflikt, der hier veranlagt wäre.
Muamer Bećirović
… haben wir noch nicht.
Daniel Kapp
Wir haben noch keinen massiven Konflikt. Ich sehe nicht, dass wir Gewalt auf den Straßen erleben.
Muamer Bećirović
Entrüstung der Worte? Schauen Sie sich an, wie Strache spricht und schauen sie sich an, wie auch „meine“ ÖVP spricht.
Daniel Kapp
Wie spricht denn die ÖVP?
Muamer Bećirović
Es ist schon teilweise ein Sündenbockgesuche.
Daniel Kapp
Ich habe – zumindest was Sebastian Kurz betrifft – eigentlich immer die Wahrnehmung gehabt, dass er ein Sorgenthema anspricht.
Muamer Bećirović
Ja, das macht er!
Daniel Kapp
… was notwendig ist. Ohne das Thema zu befeuern: Nehmen wir die Frage der Flüchtlingsbewegung. Das war das Jahr 2014/15. Darüber nicht zu reden, wäre ein Fehler.
Wenn man sich die Geburtenstatistik von Wien anschaut, dann muss man wohl davon ausgehen, dass im Jahr 2050 oder 2070 der Kebab genauso wie das Kipferl zu einer der Wiener Spezialitäten gehören wird (…)Daniel Kapp über die Zukunft der Wiener Küche
Muamer Bećirović
Aber zu sagen: „In Wien kann man auf gewissen Straßen nicht gehen, weil man sich unsicher fühlt!“ oder „Leute ziehen von ihrer Straße weg, weil sie sich unsicher fühlen!“ befeuert das!
Daniel Kapp
Das ist wohl eine Realität, die so empfunden wird. Wenn man dem Ausdruck verleiht und dem Menschen seine Sorgen anspricht, glaube ich, kann man damit auch vernünftiger umgehen, anders, als wenn dies unterdrückt beiseitegeschoben wird. Oder wie es Strache macht: gezielt und bewusst befeuern!
Ich werde jetzt nicht dafür meine Hand ins Feuer legen, dass Sebastian Kurz bei jeder Positionierung die feine Grenze nicht überschritten hat, aber die Grundausrichtung seiner Politik ist nicht so. Sonst wären wir dort nicht engagiert.
Ich werde jetzt nicht dafür meine Hand ins Feuer legen, dass Sebastian Kurz bei jeder Positionierung die feine Grenze nicht überschritten hat, aber die Grundausrichtung seiner Politik ist nicht so. Sonst wären wir dort nicht engagiert.
Muamer Bećirović
Das stimmt.
Daniel Kapp
… wenn wir das Gefühl hätten, dass das sozusagen der Mainstream dieser Partei ist.
Muamer Bećirović
Ja. Ich denke, man zeichnet eine Utopie, die es nicht mehr gibt. Ich habe mit Stefan Petzner, einem alten Freund gesprochen, der mir interessanterweise gesagt hat, die Leute denken, dass der muslimische Nachbar verschwindet, wenn Strache kommt. Ich habe mit einer britischen Abgeordneten gesprochen, die dasselbe gesagt hat, obwohl Großbritannien ein multikulturelles Land ist. Die Leute wollen sich einfach nicht damit abfinden, ihre Heimat mit jemandem zu teilen.
Daniel Kapp
Die Frage ist vielmehr, ob es gelingen kann, eine neue gemeinsame Heimat zu finden.
Österreich hat in den Jahren der Monarchie Tschechen, Slowaken und Ungarn aufgenommen und assimiliert. Man erkennt dies zum Teil noch an den Nachnamen. Denkbar ist, dass das in drei, vier, fünf Generationen auch passiert. Wo gibt es hier Konflikte oder wo sind die Erschwernisse? Ja, es gibt sozusagen eine Aufspaltung in der Frage der Religiosität. Du hast eine nicht mehr so katholische Ursprungsbevölkerung und eine Immigrationsbevölkerung, die nicht nur eine andere Religion, sondern auch in manchen Teilen einen Bezug zu einer sehr konservativen Ausprägung dieser Religion hat. Das heißt, dazu hast du auch hier einen säkulareren Zug in Konflikt mit einem religiösen Element. Da sind verschiedene Schwierigkeiten zu bewältigen und das ist nicht nur damit getan, dass sich die sogenannte „Ursprungsbevölkerung“ damit zufriedengibt, sondern hier gilt es, die Balance auf beiden Seiten herzustellen. Ich erlebe es und beobachte, dass sich auch jemand, der sich über etliche Runden ausgegrenzt fühlt, irgendwann auf Identitätsmerkmale zurückzieht, wie bei männlichen Juden eine Kippa oder bei muslimischen Frauen ein Kopftuch. Das ist quasi ein „Jetzt erst recht!“ von den Migranten.
Österreich hat in den Jahren der Monarchie Tschechen, Slowaken und Ungarn aufgenommen und assimiliert. Man erkennt dies zum Teil noch an den Nachnamen. Denkbar ist, dass das in drei, vier, fünf Generationen auch passiert. Wo gibt es hier Konflikte oder wo sind die Erschwernisse? Ja, es gibt sozusagen eine Aufspaltung in der Frage der Religiosität. Du hast eine nicht mehr so katholische Ursprungsbevölkerung und eine Immigrationsbevölkerung, die nicht nur eine andere Religion, sondern auch in manchen Teilen einen Bezug zu einer sehr konservativen Ausprägung dieser Religion hat. Das heißt, dazu hast du auch hier einen säkulareren Zug in Konflikt mit einem religiösen Element. Da sind verschiedene Schwierigkeiten zu bewältigen und das ist nicht nur damit getan, dass sich die sogenannte „Ursprungsbevölkerung“ damit zufriedengibt, sondern hier gilt es, die Balance auf beiden Seiten herzustellen. Ich erlebe es und beobachte, dass sich auch jemand, der sich über etliche Runden ausgegrenzt fühlt, irgendwann auf Identitätsmerkmale zurückzieht, wie bei männlichen Juden eine Kippa oder bei muslimischen Frauen ein Kopftuch. Das ist quasi ein „Jetzt erst recht!“ von den Migranten.
Muamer Bećirović
Bei der Ausführung würde ich Ihnen zustimmen. Ich kenne nur niemanden, der ein gemeinsames Narrativ zu schaffen versucht und da sehe ich die Problematik. Es spielt sich immer auf „Wir gegen die anderen!“ und das hat auf langfristiger Ebene Konsequenzen. Ich kann zehn Jahre lang propagieren: „Der Muslim nimmt dir deine Sozialwohnung weg, er bekommt das Arbeitslosengeld etc.“.
Daniel Kapp
Ich kenne den rassistischen Dialog nicht so gut. Ist es jetzt der Muslim oder der Ausländer?
Wenn man den Menschen jahrelang erklärt – und das hat die Sozialdemokratie getan – „Ois is‘ Oasch!“, während man selber an der Macht ist, dann braucht man nicht verwundert sein, wenn die Leute irgendwann daran glauben, aber dann Strache wählen.Daniel Kapp über die Ursachen, warum sich Arbeiter zunehmend von der SPÖ hin zur FPÖ wenden
Muamer Bećirović
Der Ausländer. Drehen wir es, wie Sie wollen. Die FPÖ erzählt seit zwanzig Jahren: „Der Ausländer nimmt dir deine Sozialwohnung weg, er bekommt, aber arbeitet nicht, die Bildung ist schlecht, weil er dabei ist etc.“. Ich glaube, die Leute haben mittlerweile begonnen, das zu glauben. Ich sehe nirgendwo einen positiven Rückschluss, der auf etwas Besseres hoffen lässt, sozusagen auf ein gemeinsames Narrativ.
Daniel Kapp
Da kommen wir auf etwas Grundsätzliches zu sprechen, was ich mir erhofft habe und in dieser neuen Regierung noch nicht ganz sehe, sozusagen, dass wir wieder in einen Aufbruch kommen, in eine Aufbruchsstimmung: ganz grundsätzlich und sozusagen über verschiedene Bereiche, des Kulturellen, der Wirtschaft, des sozialen Lebens bis hin zur Frage der Migration. Ich habe das Gefühl, wir leben in einer sehr defensiven Zeit.
Ich habe damit stark „Zeit für Neues“ verbunden, das „Hakeln ma‘, tu‘ ma‘ was, mach‘ ma‘ was!“, damit etwas weitergeht und nehmen wir den Weg nach oben und nach vorne. Das ist etwas, was ich sehr stark mit Sebastian Kurz verbunden habe und an sich noch verbinde. Bei allen einsichtigen, notwendigen, tagespolitischen Kompromissen aber eine Perspektive zu fassen, die über das Defensive „Wir wollen das nicht mehr zahlen, wir wollen das nicht, wir wollen jenes nicht!“ hinausgeht, das ist scheinbar eine gesellschaftliche Grundstimmung, für die ich mitunter auch die ÖVP und die SPÖ verantwortlich mache. Wenn man den Menschen jahrelang erklärt – und das hat die Sozialdemokratie getan – „Ois is‘ Oasch!“, während man selber an der Macht ist, dann braucht man nicht verwundert sein, wenn die Leute irgendwann daran glauben, aber dann Strache wählen. Das drückt sich auch dadurch aus, dass die Arbeiterschicht inzwischen mehrheitlich FPÖ wählt.
Ich habe damit stark „Zeit für Neues“ verbunden, das „Hakeln ma‘, tu‘ ma‘ was, mach‘ ma‘ was!“, damit etwas weitergeht und nehmen wir den Weg nach oben und nach vorne. Das ist etwas, was ich sehr stark mit Sebastian Kurz verbunden habe und an sich noch verbinde. Bei allen einsichtigen, notwendigen, tagespolitischen Kompromissen aber eine Perspektive zu fassen, die über das Defensive „Wir wollen das nicht mehr zahlen, wir wollen das nicht, wir wollen jenes nicht!“ hinausgeht, das ist scheinbar eine gesellschaftliche Grundstimmung, für die ich mitunter auch die ÖVP und die SPÖ verantwortlich mache. Wenn man den Menschen jahrelang erklärt – und das hat die Sozialdemokratie getan – „Ois is‘ Oasch!“, während man selber an der Macht ist, dann braucht man nicht verwundert sein, wenn die Leute irgendwann daran glauben, aber dann Strache wählen. Das drückt sich auch dadurch aus, dass die Arbeiterschicht inzwischen mehrheitlich FPÖ wählt.
Muamer Bećirović
Sie meinen, die FPÖ ist deshalb so stark, weil die anderen so schwach sind.
Daniel Kapp
Das definitiv!
Muamer Bećirović
Das ist definitiv eine interessante These. Es wird hier ja auch über die Verteidigung der christlich-jüdischen Werte gesprochen oder gegen den Islam propagiert. Was mich interessieren würde: Selbst der Koran, die Bibel und die Tora führen ja irgendwo ein autoritäres Dasein. Das sind keine demokratischen Publikationen.
Daniel Kapp
Meschugge gibt es überall, auch in den verschiedenen Ausprägungen, in denen das Judentum gelebt wird.
Muamer Bećirović
Das haben wir, glaube ich, in Europa.
Daniel Kapp
Das verwundert mich manchmal. Ich glaube, dass das Judentum, was die Diaspora betrifft, in Israel ein anderer Diskurs ist, weil es dort auch um die Gestaltung des öffentlichen Raumes geht. Hier in Österreich prägt das Judentum die Gesellschaft in ihren religiösen Vorstellungen nicht, abgesehen davon, dass die Kultusgemeinde massiv kritischen Diskurs gegenüber der FPÖ führt. Das heißt, der religiöse Jude beschäftigt sich hier mit sich selber, der möchte Raum und Ruhe haben und hat keinen missionarischen Anspruch. Die Schwierigkeit beim Islam, glaube ich, ist, dass man so pauschal gar nicht über ihn reden kann. Du hast selbst in Saudi-Arabien inzwischen eine Diskussion darüber, wohin die Reise geht, die Wahhabiten, Liberalen, doch nicht Liberalen, ganz abgesehen von Schia und Sunniten. Du hast keinen Papst, den du ansprechen und sagen kannst: Was ist jetzt mich euch? Wohin geht die Reise? Der islamische Staat dürfte in seiner sozusagen territorialen Ausprägung eigentlich Geschichte sein. Menschen erleben Terrorismus, der für sich in Anspruch nimmt, islamisch zu sein. Jetzt empfinden wir das als Bedrohung. Für sie ist alles irgendwie eins.
Muamer Bećirović
Was wir als Europäer, glaube ich, den Muslimen voraus sind, ist: Wir haben aufgehört, die heiligen Schriften wörtlich zu nehmen.
Daniel Kapp
Ja und auch im Judentum hast du eine sehr lange Diskussion über die Interpretation des Gemeinten. Gehen wir nach Amerika: Dort gibt es genug Wahnsinnige, die meinen, es muss genauso geschehen, wie es dort steht.
Offenbar besteht eine zutiefst menschliche Neigung darin, wenn die Dinge besonders kompliziert werden, nach etwas ganz Einfachem zu suchen, was Orientierung bietet, sodass man irgendetwas Sinnstiftendes bzw. Gemeinschaftsbildendes ist. Ich würde sagen, ein Mangel an Selbstbewusstsein würde dem zugrunde liegen.
Offenbar besteht eine zutiefst menschliche Neigung darin, wenn die Dinge besonders kompliziert werden, nach etwas ganz Einfachem zu suchen, was Orientierung bietet, sodass man irgendetwas Sinnstiftendes bzw. Gemeinschaftsbildendes ist. Ich würde sagen, ein Mangel an Selbstbewusstsein würde dem zugrunde liegen.
Meschugge gibt es überall.Daniel Kapp über Fanatiker
Muamer Bećirović
Ich würde Ihnen hierbei zustimmen. Das Problem ist jedoch, dass wir den Leuten nicht erklären, was Sache ist, sondern ihnen sagen: „Wir bekommen das schon hin“.
Daniel Kapp
Aber wir wissen ja nicht, was Sache ist!
Muamer Bećirović
Das wissen wir sehr wohl! Wir wissen, dass 2050 ein Drittel der Österreicher in Pension ist. Was machen wir mit den Ausländern? Wenn wir die nicht haben, wird es problematisch. Wir wissen, dass wir 8 Prozent muslimische Bevölkerung haben. Was sollen wir mit denen machen?
Worauf ich hinaus will, ist: Man sagt den Leuten nicht die bittere Wahrheit, trotz der faktischen Wahrheit, wie die Zukunft von den Daten her ausschauen wird, sondern man zeichnet eine Utopie: „Ich, Strache, checke das mit den Ausländern!“
Worauf ich hinaus will, ist: Man sagt den Leuten nicht die bittere Wahrheit, trotz der faktischen Wahrheit, wie die Zukunft von den Daten her ausschauen wird, sondern man zeichnet eine Utopie: „Ich, Strache, checke das mit den Ausländern!“
Daniel Kapp
Das ist vielschichtiger. Ich kann mich erinnern: Es gibt diese Pensionskommission, ich weiß nicht mehr genau wie sie technisch heißt, die sozusagen gesetzlich und wissenschaftlich evaluiert, wodurch die Finanzierung des Pensionssystems funktioniert. Im Finanzministerium haben wir unter Josef Pröll dieses interne Papier in die Hände bekommen und Rudolf Hundstorfer ist damals rausgegangen und hat gesagt: „Die Pensionen sind gesichert“. Ich habe jetzt die genauen Zahlen nicht im Kopf, aber es ging darum, dass dieser Behauptung eine Rechnung zugrunde lag, die von einem Zuzug von einer Million Migranten nach Österreich ausging, die allerdings alle in erwerbsfähigem Alter sein mussten, damit diese Annahme funktioniert. Das war aber keine Prognose, sondern eine Berechnung, damit das klappt. Auf der Grundlage sagt man: „Unsere Pensionen sind sicher, wir müssen nichts machen“. So hat offenbar jeder seinen Grund, ein bisschen an der Wahrheit vorbeizureden. Ich habe damals dieses Papier in die Hand genommen, bin zu ein oder zwei österreichischen Zeitungen gegangen und habe gesagt: „Schaut, das wäre doch interessant!“. Die Zeitungen: „Das fassen wir nicht an, das ist uns eine zu heiße Bombe.“
Muamer Bećirović
Ernsthaft?
Daniel Kapp
Ja. Schauen Sie, diese Dinge sind klar, da bin ich schon bei Ihnen. Das stimmt: Wir wissen schon, was grundsätzlich Sache ist, Werteorientierung …
Muamer Bećirović
Nein, ich rede von den Fakten. Ich habe jetzt fünfzig Gespräche hinter mir. Ich treffe zahlreiche Abgeordnete und im Geheimen wissen sie alle, was kommt, aber keiner will es den Leuten sagen. „Etwas sagen, was gegen den Zeitgeist spricht, das kann ich als Mandats- und Verantwortungsträger doch nicht machen“. Natürlich kann ich sagen, ich rufe jemanden von der „Krone“ an und sage: „Die Flüchtlinge sind schuld!“ und dergleichen. Die Frage ist nur, wo das hinführt.
Daniel Kapp
Den Zusammenhang brauchen wir nicht so hinzustellen, weil wir schon ein wenig präziser sein müssen in der Analyse dessen, was in den letzten paar Jahren passiert ist und was die Debatte über Migration enorm verschärft hat. Ich erinnere mich an den Staatssekretär Sebastian Kurz, der immer genau das getan hat, wovon wir immer geredet haben. Er hat gesagt: „Schau! Es gibt legale Migration nach Österreich. Mit der müssen wir solide, redlich und ehrlich umgehen.“ Er hat sogar zu dieser Zeit geschafft, den Diskurs ein bisschen zu drehen.
Dann sind wir in das Jahr 2014/15 gekommen und das hat alle überfordert. Das ist auch nicht mit den Maßstäben der normalen und bis dahin bekannten Migration zu bewerten. Wem ich zu dieser Zeit den Vorwurf mache, sind die Verantwortungsträger, die gewusst haben, dass das auf uns zukommt, schon lange vor den Medien.
In den Wochen und Monaten davor habe ich mit führenden Generälen aus der Landesverteidigung gesprochen und habe salopp gesagt: „Ihr habt doch einen der besten Nachrichtendienste für Osteuropa, das Heeresnachrichtenamt. Ist es denn nicht passiert, dass ein paar Wochen, bevor es in der Zeitung stand, irgendeiner von euren Agenten mitbekommen hat, dass da etwas auf uns zukommt und dass der einen Bericht geschrieben hat und dieser irgendwann beim Verteidigungsminister gelandet ist und der sich gedacht hat: ‚Oh, scheiße! Vielleicht sollten wir den Bundeskanzler Werner Faymann anrufen!‘ und dass sich der Bundeskanzler nach diesem Anruf gedacht hat: ‚Oh, scheiße! Vielleicht sollte ich den Vizekanzler informieren. Wir setzen uns zusammen und schauen, was wir tun, zwei oder drei Monate bevor die Flüchtlinge am Zaun klopfen.‘ und dann aus dem Gespräch rauskommen könnte, dass man sagt: ‚Rufen wir doch Angela Merkel an!‘ – ‚Du, meine Leute sagen mir, das kommt auf uns zu. Wie seht ihr das? Was machen wir?‘, und dann hätten wir noch immer zwei Monate Zeit, bevor es in der Zeitung steht!“
Dieser eine General nimmt die Brille herunter und sagt zu mir: „Was heißt zwei Monate? Sechs Monate, ein Jahr vorher haben wir sie darauf aufmerksam gemacht, dass das auf uns zukommt.“ Man hat sich jedoch weggeduckt, weggeschaut – „Das ist viel zu kompliziert“. Das ist ein grundsätzliches Problem, dass Parteien in den letzten Jahren zum Teil eine Personalauswahl bzw. Strukturen hatten, die es den „Geschmeidigsten“ ohne Ecken und Kanten ermöglichte, an die Spitze zu kommen.
Dann sind wir in das Jahr 2014/15 gekommen und das hat alle überfordert. Das ist auch nicht mit den Maßstäben der normalen und bis dahin bekannten Migration zu bewerten. Wem ich zu dieser Zeit den Vorwurf mache, sind die Verantwortungsträger, die gewusst haben, dass das auf uns zukommt, schon lange vor den Medien.
In den Wochen und Monaten davor habe ich mit führenden Generälen aus der Landesverteidigung gesprochen und habe salopp gesagt: „Ihr habt doch einen der besten Nachrichtendienste für Osteuropa, das Heeresnachrichtenamt. Ist es denn nicht passiert, dass ein paar Wochen, bevor es in der Zeitung stand, irgendeiner von euren Agenten mitbekommen hat, dass da etwas auf uns zukommt und dass der einen Bericht geschrieben hat und dieser irgendwann beim Verteidigungsminister gelandet ist und der sich gedacht hat: ‚Oh, scheiße! Vielleicht sollten wir den Bundeskanzler Werner Faymann anrufen!‘ und dass sich der Bundeskanzler nach diesem Anruf gedacht hat: ‚Oh, scheiße! Vielleicht sollte ich den Vizekanzler informieren. Wir setzen uns zusammen und schauen, was wir tun, zwei oder drei Monate bevor die Flüchtlinge am Zaun klopfen.‘ und dann aus dem Gespräch rauskommen könnte, dass man sagt: ‚Rufen wir doch Angela Merkel an!‘ – ‚Du, meine Leute sagen mir, das kommt auf uns zu. Wie seht ihr das? Was machen wir?‘, und dann hätten wir noch immer zwei Monate Zeit, bevor es in der Zeitung steht!“
Dieser eine General nimmt die Brille herunter und sagt zu mir: „Was heißt zwei Monate? Sechs Monate, ein Jahr vorher haben wir sie darauf aufmerksam gemacht, dass das auf uns zukommt.“ Man hat sich jedoch weggeduckt, weggeschaut – „Das ist viel zu kompliziert“. Das ist ein grundsätzliches Problem, dass Parteien in den letzten Jahren zum Teil eine Personalauswahl bzw. Strukturen hatten, die es den „Geschmeidigsten“ ohne Ecken und Kanten ermöglichte, an die Spitze zu kommen.
Wem ich zu dieser Zeit den Vorwurf mache, sind die Verantwortungsträger, die gewusst haben, dass das auf uns zukommt, schon lange vor den Medien.Daniel Kapp über die Verantwortung der Verantwortlichen im Hinblick auf die Flüchtlingskrise ab 2015
Muamer Bećirović
… ist doch immer noch so.
Daniel Kapp
Gilt das für Sebastian Kurz?
Muamer Bećirović
… eine Ausnahme, aber alle anderen?
Daniel Kapp
Wer sind denn alle anderen?
Muamer Bećirović
Wenn ich mir anschaue … du hast schon recht … (verhaspelt sich) also Sie haben schon recht …
Daniel Kapp
(scherzend, sich vorstellend) Hallo, Daniel!
Muamer Bećirović
(darauf eingehend) Muamer, hallo! (beide lachen) Dann hätten wir das auch besiegelt!
Daniel Kapp
(scherzend auf Bećirović und sich verweisend) Parteifreunde! [beide sind Mitglieder der Österreichischen Volkspartei; Anm.]
Muamer Bećirović
Du hast schon recht. Wir haben an der Spitze Leute, die definitiv zu etwas taugen. Wenn ich mir aber alle Nachkömmlinge dahinter anschaue, dann bröckelt die Fassade aber schon ziemlich. Die politische Klasse ist generell …
Daniel Kapp
Reden wir jetzt von JVP, oder … ?
Muamer Bećirović
Ich rede von Leuten, die potentiell das Zeug dazu hätten, morgen ein Land zu regieren.
Daniel Kapp
(seufzend) Jetzt kommen wir in ein weites Feld. Was macht die Politik für einen Menschen noch attraktiv? Ich kenne die Spitzenpolitik aus quasi erster Beobachterreihe und Halbteilnehmer, weil ich jahrelang Pressesprecher von verschiedenen Regierungsmitgliedern, zuletzt Josef Pröll, Vizekanzler und Finanzminister, war. Das ist eine Intensität und ich bin der längstdienende Pressesprecher der Bundesregierung. Das musst du mal zehn Jahre durchdrücken. Wenn ich heute daran zurückdenke, was mir Spaß gemacht hat, war das die Relevanz. Man hat Einfluss gehabt und Wahrnehmung. Möchte ich den persönlichen Preis noch einmal zahlen, dieses 24/7? Ich habe allein in meiner Spanne von der Bundespartei bis in die Kabinette in den 15 Jahren eine Beschleunigung erlebt. Das hört sich ein bisschen nostalgisch an, aber zu Beginn meiner Zeit war relativ übersichtlich, wann die Tageszeitungen schließen, wann Redaktionsschluss ist, bis wann man die Geschichte auf den Markt gebracht haben muss, damit sie in den Abendausgaben oder am nächsten Tag in der Zeitung stand. Du wusstest, es gibt das Morgenjournal, das Mittagsjournal und das Abendjournal. Am Dienstag gibt es den „Report“ [ORF-Sendungsformat; Anm.], am Mittwoch gibt es die OTS, die Vorausmeldung von den „News“. Dann kommt das „Format“, am Wochenende das „Profil“ und dann bist du noch beim „Journal“ zu Gast, „Pressestunde“ und „Im Zentrum“ [allesamt ORF-Sendungsformate; Anm.] oder wie das so ist. Das war circa der Rahmen der politischen Woche. Am Wochenende erschien am Sonntag die „Kleine Zeitung“, der „Kurier“ und die „Krone“. That was it! Inzwischen sind wir beim 24/7-News-Cycle, wo in einem durch Informationen gesendet werden, wo aber abgesehen von dieser Medienmaschine auch noch über Twitter, Facebook etc. überall etwas daherkommt.
Muamer Bećirović
… aber das hat doch nicht zu großen Einfluss, wie wir alle denken.
Daniel Kapp
… aber ganz sicher!
Muamer Bećirović
Wenn ich mir anschaue: Sich zu entschleunigen bzw. rauszunehmen und etwas nachzudenken, das wäre doch erfrischend für die Leute, oder?
Daniel Kapp
Nehmen wir zum Beispiel Norbert Darabos. Nobert Darabos hat vor einigen Jahren mehrere Modelle im Verteidigungsministerium gerechnet, wie das Bundesheer in Zukunft aufzustellen ist. Da war die Frage: „Wehrpflicht? Ja/Nein?“. Lassen wir beiseite, dass auf ein von der SPÖ präferiertes Modell im Vorhinein möglicherweise hingerechnet worden wäre. Gehen wir davon aus, es wurden objektiv fünf Modelle auf den Tisch gelegt. Dann macht er eine Pressekonferenz, auf der die executive summary dieser Studien und eigentlich auch schon eine Schlussfolgerung präsentiert werden. Dazu gibt es eine APA-Meldung. Vielleicht haben die anderen Parteisekretariate Beobachter zu dieser Pressekonferenz geschickt, schicken dann die Unterlagen rein und dann hast du anderthalb bis zwei Stunden Zeit, bis du dazu Stellung nimmst. Keiner hat sich diese fünf Studien angeschaut, weil man auf die Aussagen von Darabos reagiert, die in der Öffentlichkeit sind, und weiß schon von Grünen über Neos über FPÖ und ÖVP, wie sie dazu stehen. Stell dir vor, du machst es so, dass du sagst: „Danke, dass der Darabos mit seinem ganzen Ministerium vier Monate diese Modelle berechnet hat. Geben Sie uns zehn Tage Zeit. Wir treffen uns in zehn Tagen wieder, dann sagen wir Ihnen, was wir davon halten!“. Da wäre vielleicht im „Standard“ und in der „Presse“ eine Kolumne, die sagt: „Interessant, neuer Politikstil!“. Ansonsten hast du ab Donnerstag die Diskussion „Die ÖVP hat keine Meinung!“
Muamer Bećirović
(verdutzt) Wirklich?
Daniel Kapp
… aber sicher! Wenn ich mir zum Beispiel Sebastian Kurz anschaue: Der macht das nicht schlecht. Und der Preis dafür ist, dass jetzt schon versucht wird, ihm den Begriff „Schweigekanzler“ umzuhängen. Ich sage: So einfach ist das nicht! Ich glaube, gerade in Bezug auf Sebastian Kurz wird das à la longue wertgeschätzt werden, auch wie Van der Bellen, der eine gewisse Zurückhaltung gehabt und dann etwas gesagt hat, wenn er etwas zu sagen hatte.
Grundsätzlich: Wenn du den Platz in den Medien selber nicht mit Themen füllst, tut es jemand anderes. Daher haben Parteizentralen und Parteistrategen den Druck, dieses Raubtier ständig zu beliefern und zu füttern.
Grundsätzlich: Wenn du den Platz in den Medien selber nicht mit Themen füllst, tut es jemand anderes. Daher haben Parteizentralen und Parteistrategen den Druck, dieses Raubtier ständig zu beliefern und zu füttern.
Wenn du den Platz in den Medien selber nicht mit Themen füllst, tut es jemand anderes.Daniel Kapp über den unersättlichen Hunger der Boulevardmedien
Muamer Bećirović
Zurück zum Heimatbegriff oder woher das Emporsteigen des, wie ich ihn nenne, National-konservatismus. Ich habe mit Abgeordneten gesprochen und jeder sagt mir unter vier Augen …
Daniel Kapp
Was tust du dem Konservatismus an, dass du ihn national brandest. Konservatismus ist zum Beispiel auch die Gewerkschaft. Beschreiben wir das Phänomen und nicht eine Ideologie dahinter. Es ist das „Nicht verändern wollen“. Aber hier soll es nationalbetont sein …
Muamer Bećirović
Ja, genau!
Daniel Kapp
Nur damit ich weiß, wovon wir reden.
Muamer Bećirović
Genau davon reden wir. Ich habe mit einigen Abgeordneten gesprochen …
Daniel Kapp
… also nicht von den progressiven Trachtengruppen …
Muamer Bećirović
… genau, aber auch mit denen. Jeder sagt mir unter vier Augen: „Wir sind anderer Meinung, aber wir sagen sie den Leuten nicht!“
Daniel Kapp
Was sagen sie nicht?
Muamer Bećirović
Zu sagen: Wir sind verdammt, miteinander auszukommen, zwischen den Gruppen, die zuziehen, und diejenigen, die schon da sind, …
Daniel Kapp
Mein Eindruck ist, dass… – ich bin nicht der Pressesprecher von Sebastian Kurz – aber, dass er das regelmäßig gesagt hat, dass er diese Erwartung in beide Richtungen formuliert hat.
Muamer Bećirović
Jeder vierte in Österreich wählt die FPÖ. Das ist eine Partei, von der ich persönlich keine wirtschaftliche Kompetenz, keine Sozialkompetenz, gar keine Kompetenz kenne, außer die drei Führer, die da unterwegs sind und da frage ich mich, wie zum Teufel kommt es dazu, dass …
Daniel Kapp
Wer ist der Dritte?
Muamer Bećirović
HC Strache, Kickl und Hofer. Es wundert mich einfach, dass das funktioniert. Wir reden hier von jedem vierten. Das ist ja kein Witz.
Daniel Kapp
Da komme ich aber auch wieder darauf zurück, dass es ein Grundempfinden der Leute gibt, das mit dem Versagen der bisher regierenden Parteien zu tun hat. Ich erinnere mich an den Stolz, den Österreich hatte, als man EU-Mitglied wurde. Dieser Stolz ist sukzessive einer Frustration gewichen. Jetzt kann man sich hinstellen und sagen: „Das sind die Bösen der ‚Kronen-Zeitung‘, die immer agitiert haben.“ Man kann sich vielleicht auch fragen: „Redet ihr ordentlich mit den Leuten, sodass sie euch verstehen oder ist jeder, der euren technokratischen Ansätzen nicht folgt, gleich ein Feind Europas?“ Aber Moment: Muss das so sein mit der Datenschutzgrundverordnung? Muss das mit der Hygieneverordnung genauso sein? Warum?
Muamer Bećirović
In Bezug auf Deutschland: wenn ich mir die Diskurse anschaue, die im Parlament geführt werden, und die, die in der Presse geführt werden … Diese sind inhaltlicher als jene bei uns. Was mir aber trotzdem auffällt, ist, dass es trotzdem nichts bringt. Die AfD ist bei 16 Prozent, sie hat die SPD überholt. Wir reden von einer traditionsreichen Partei von Willy Brandt, Schmidt, Schröder hin zu einer Bananentruppe.
Daniel Kapp
Ja, aber dafür kann die AfD ja nichts. Die Partei kann ja nichts dafür. Das ist der Punkt. Die AfD kann nichts dafür, dass die SPD sozusagen am Sand ist. Ich gebe dir ein Beispiel: Die ÖVP ist seit rund dreißig Jahren in der Regierung. Jetzt habe ich mir gedacht: Witzig, Sebastian Kurz hat es doch wieder mal geschafft, so zu tun, als wäre das etwas Neues. Dann ist mir aber in den Sinn gekommen, dass sich die ÖVP doch immer wieder in mehreren Schüben einem Update unterzogen hat, einem schwierigen Prozess, ob das Joschi Riegler war, ökosoziale Marktwirtschaft seinerzeit, ob das Wolfgang Schüssel war, ob das Josef Pröll mit dem „Perspektivenpapier“ war, wo jedes Mal hinausgefahren wurde in die Partei – das weiß ich beim Pröll, weil ich es selbst miterlebt und mitorganisiert habe – wo wir in Innsbruck, Salzburg, Vorarlberg auf der „Perspektiventour“ waren und dort Abend für Abend mit Leuten aus der Partei diskutiert haben, mit Leuten, die parteinahe waren und mit Leuten, die parteifern waren.
Wie schaffen wir das Update unserer Werte? Hier auch die Familienpolitik als Beispiel. Ich erinnere mich, dass sich in Salzburg bei einer Diskussion ein paar „g‘standene Männer“ aufgestellt und aufgeregt haben, was es mit dem neuen schlechten Familienbild auf sich habe, wir bräuchten Ehe, Familie usw. Eine Frau ist aufgestanden und hat gesagt: „Ich habe es so satt, dass wir diese verlogene Diskussion führen! Wenn ich hier in den Raum schaue, weiß ich, wer von euch ein uneheliches Kind hat, wer seine Frau betrügt, wer geschieden und wiederverheiratet ist. Ich weiß, wessen Sohn schwul ist. Wir wissen es alle voneinander. Dann reden wir doch endlich einmal von der Realität, in der wir uns bewegen, und nicht von irgendwelchen Phantasien!“
Wie schaffen wir das Update unserer Werte? Hier auch die Familienpolitik als Beispiel. Ich erinnere mich, dass sich in Salzburg bei einer Diskussion ein paar „g‘standene Männer“ aufgestellt und aufgeregt haben, was es mit dem neuen schlechten Familienbild auf sich habe, wir bräuchten Ehe, Familie usw. Eine Frau ist aufgestanden und hat gesagt: „Ich habe es so satt, dass wir diese verlogene Diskussion führen! Wenn ich hier in den Raum schaue, weiß ich, wer von euch ein uneheliches Kind hat, wer seine Frau betrügt, wer geschieden und wiederverheiratet ist. Ich weiß, wessen Sohn schwul ist. Wir wissen es alle voneinander. Dann reden wir doch endlich einmal von der Realität, in der wir uns bewegen, und nicht von irgendwelchen Phantasien!“
Demgegenüber die SPÖ, die sich in ihrer ruhmreichen Tradition auf einer stolzen Arbeiterbewegung ausgeruht hat und dem Selbstverständnis unterlegen ist, dass sie per definitionem progressiv ist, weil sie sie ist.Daniel Kapp vergleicht die Fähigkeit zur Selbstkritik innerhalb von ÖVP und SPÖ
Muamer Bećirović
Genau, aber die Realität …
Daniel Kapp
Diese Diskussionen haben wir in der Partei über Schübe hinweg schmerzhaft einmal mehr, einmal weniger erfolgreich geführt, zuletzt der Gernot Blümel mit dem „Evolution“-Prozess. Demgegenüber die SPÖ, die sich in ihrer ruhmreichen Tradition auf einer stolzen Arbeiterbewegung ausgeruht hat und dem Selbstverständnis unterlegen ist, dass sie per definitionem progressiv ist, weil sie sie ist. Jetzt geht ihr das Feuer aus. Das ist das Problem, das die SPD in Deutschland hat. Das ist das Problem, das die SPÖ hier hat. Man hat sich immer wieder mit einem feinen neuen Spitzenkandidaten zu helfen gewusst und sozusagen mit bestimmen Methoden im Wahlkampf „drübergeturnt“. Das ist diesmal nicht aufgegangen.
Muamer Bećirović
Ziehen wir das noch ein bisschen weiter. Du fokussierst das eher auf die Schwäche der Großparteien, dass die so stark sind [damit sind Parteien wie FPÖ und AfD gemeint; Anm.]. Ich glaube, es hat aber irgendwo für mich zumindest den Eindruck, dass das mit einem Werteverfall zu tun hat. Wenn ich mir das größte Verbrechen der Menschheit anschaue: die Shoa im zwanzigsten Jahrhundert, wo wir die Aufklärung hinter uns haben. Das heißt, wir haben einen zivilisatorischen Fortschritt gemacht und plötzlich befinden uns im zwanzigsten Jahrhundert, trotz des Wissens, des Fortschrittes, den wir im neunzehnten Jahrhundert gemacht haben, und fallen wieder zurück. Ich habe das Gefühl, dass es einen Werteverfall gibt.
Daniel Kapp
Da holst du ein parteipolitisches Thema bzw. parteipolitische Fragestellungen. Kommen wir zurück auf die Parteien und die Frage des Werteverfalls, ohne den Rückgriff auf die Shoa zu machen: Ja, die moralischen Instanzen, wie wir sie über Jahrzehnte gewohnt waren, tun sich schwerer, auch die katholische Kirche – auch ein Ausfluss der Aufklärung. Jetzt verblasst das in seiner Strahlkraft auf das Verhalten der Menschen. Wir haben eine Individualisierung. Ich komme aus einer Kultur und Prägung, die sehr familienorientiert ist: die Familie, eine relevante zivilisatorische und disziplinierende Kraft. Wir haben aber in unseren westlichen Gesellschaften eigentlich eine Grundströmung, die die Individualisierung präferiert. Das heißt: Egal wo du herkommst, du allein bist Maßstab dessen, was du sein willst. In meinem kulturellen Hintergrund bis hin nach Vorarlberg, da gibt es ja auch die Frage: „Nicht: Wer bist du, sondern: Wem g‘hörscht du?“
Muamer Bećirović
(lächelnd) … was machst? …
Daniel Kapp
(lächelnd) … wer passt auf dich auf? Bei wem gehe ich mich beschweren, wenn du dich nicht benimmst? Da sind wir in einem Umbruch. Wir haben tatsächlich insgesamt keine neue Orientierung. Der Islam ist ja so vielschichtig: Wir haben den bosnischen Islam. Wir haben den türkischen Islam. Das sind ja auch jeweils national verschiedene kulturelle Facetten. Da ist aber sicher auch dieses transzendentale Ordnungsprinzip stärker, das hier im Westen eher negiert wird und das Individuum zum Maßstab gemacht wird, bis hin zur Beschneidungsdebatte.
Muamer Bećirović
Ich freue mich über das Durchdringen des Kapitals, weil es früher drauf ankam, in welchem gesellschaftlichen Stand du dich bewegt hast. Heute geht es darum, dass du dich von unten nach oben arbeiten kannst und Religion wahrscheinlich etwas obsolet geworden ist.
Daniel Kapp
… aber wo sind die Quellen unserer Moral? Diese Frage kann offenbar kaum mehr jemand beantworten. Wir delegieren das zu Ethikkommissionen. Wir haben eine Entwicklung, die ich faszinierend und beängstigend finde, dass wir auf der einen Seite über Artificial Intelligence Maschinen beibringen, den Menschen bestmöglich zu simulieren, selbstfahrende Autos. Wir bringen Drohnen bei, autonome Tötungsentscheidungen zu treffen und dabei vertretbaren Kollateralschaden zu bewerten, das Ganze in einem Bemühen nach Perfektion und Verantwortungslosigkeit, weil die Maschine entschieden hat und das richtig sein muss . Auf der anderen Seite zwingen wir den Menschen in immer binäreres Verhalten, zwischen 0-und-1-compliance: Er hat Vorschriften, an die er sich halten muss. Was auf der Strecke bleibt, sind aber Moral und Anstand, die dann gefordert sind, wenn du nicht weißt, was genau richtig ist. Das ist der Moment, in dem du Verantwortung übernehmen musst.
Muamer Bećirović
… aus meinem Gewissen …
… aber wo sind die Quellen unserer Moral? Diese Frage kann offenbar kaum mehr jemand beantworten.Daniel Kapp über den Mangel an Orientierung
Daniel Kapp
… aus meinem Gewissen heraus, das Richtige zu tun. Wenn ich compliance und regulation habe, halte ich mich an das, was mir vorgegeben ist. Zugespitzt, weil du vorher die Shoa angesprochen hast: Ich habe nur Befehle befolgt. Diese beiden Entwicklungen führen dazu, dass der Mensch der Maschine untergeordnet wird, in ein binäres Muster. Dafür haben wir eine Ethikkommission, aber eine Quelle für unsere Moral scheint unsere Gesellschaft pauschal nicht zu finden. Dann kommt der Islam rein und sagt: „Hah! Ich habe eine Antwort!“ und die Leute denken sich: „Nah, ich weiß auch ned, ob ich das so wü‘!“. Das ist so die Gemengelage.
Muamer Bećirović
Dieser Ausführung würde ich zustimmen, wenn man sich die Eliten anschaut.
Daniel Kapp
Was sind die „Eliten“ heute eigentlich noch?
Muamer Bećirović
Die politische Elite aus den USA zum Beispiel. Politische Eliten hat es immer gegeben, das ist klar. Worauf ich hinaus will …
Daniel Kapp
… Elite als Beschreibung einer Sphäre und nicht einer Qualität?
Muamer Bećirović
… exakt, einer Sphäre …
Daniel Kapp
… politische Kaste!
Muamer Bećirović
Politische Kaste, ja, genauso ist es. In den USA haben wir dies eigentlich über Jahrhunderte gehabt: Du hast zwei Parteien und aus diesen Dunstkreisen sind Leute zum Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte kommt einer komplett außerhalb von der breiten Masse und gewinnt. Früher war es ja so …
Daniel Kapp
… es gab diese Phänomene schon …
Muamer Bećirović
Ja, aber nicht in dieser Intensität. Ich glaube, dass das noch nicht das Ende ist. Ich glaube auch, dass die AfD ihren Peak noch nicht erreicht hat. Wir reden von einer charismatische Gurkentruppe. Wenn die einen Haider gehabt hätten, dann wäre es spannend dort.
Daniel Kapp
Spannend finde ich auch, dass für die FPÖ – offenbar genauso wie für die AfD – gewisse Maßstäbe nicht gelten. Du hast ja mangelndes Charisma angesprochen, aber dort herrscht Chaos! Die hauen sich ja untereinander die „Goschen“ ein, aber sie bedienen ein Empfinden des Frustes und da komme ich wieder darauf zurück: Was für ein erbärmliches Schauspiel haben FDP, CDU und SPD in den letzten Monaten in Fragen der Regierungsbildung geliefert? Zum einen dieser selbstgerechte Schnösel Lindner, der nicht mitmacht [deutet mit beiden Händen eine Bewegung an, die typischerweise einem beleidigten, verwöhnten Mädchen zugeschrieben wird; Anm.]. Ich halte es marketingtechnisch auch für einen Fehler, dass er hingeht und sagt: „Ich muss als Notbremse für diesen schwarz-grünen Wahnsinn in diese Regierung, um Schlimmeres zu verhindern.“ Was hat er jetzt? Jetzt gibt es schwarz-rot, wobei Angela Merkel als eher wirtschaftsliberal-orientierter Mensch schon leicht „angerötelt“ ist. Das haben wir Lindner zu verdanken. Dann folgt dieses erbärmliche Schauspiel in der SPD in den Verhandlungen: Merkel gibt wesentliche Schlüsselresorts ab und dann diese Debatte um die „Bild“-Zeitung, die sich nur lustig macht und ein Hund in die Abstimmung hineingeht. Das ist das Alternativangebot? Da ist es vorstellbar, dass einfach gestrickte Menschen sagen: „Bei dem Kasperltheater sag ich’s ihnen jetzt rein!“ und das ist offenbar nur so eine radikale Ausdrucksweise, die vielleicht gehört werden könnte. Das war in Österreich auch lange der Fall: Egal was du gewählt hast, es kam die Große Koalition heraus. Diesen Vorwurf mache ich an die Grünen sehr deutlich: Es ist nett, obergescheit zu sein, aber bitte seid so lieb und redet mit den Menschen, sodass sie euch wählen, damit man eine Alternative zur FPÖ als Juniorpartner in einer Regierung hat. Ich komm darauf zurück, dass das Erstarken von AfD oder FPÖ for that matter mit dem Versagen der ehemaligen Großparteien zu tun hat.
Muamer Bećirović
Interessanterweise befinden wir uns in einer gesellschaftlichen Krise: Es hat noch nie so gebröckelt wie in den letzten fünfzig Jahren. Zugleich aber befindet sich die politische Kaste in einer unglaublich großen Krise.
Daniel Kapp
Es ist erstaunlich, dass es eine Krise gibt. Du meinst also, wenn es schon in der Bevölkerung eine Krise gibt, dann sollten zumindest die Politiker happy sein.
Muamer Bećirović
Genauso ist es. (Kapp lacht)
Es ist nett, obergescheit zu sein, aber bitte seid so lieb und redet mit den Menschen, sodass sie euch wählen, (…)Daniel Kapp über das Scheitern der Grünen
Daniel Kapp
Das hat bei Marie Antoinette schon nicht funktioniert! (beide lachen) Die war eine Weile lang glücklich, aber dann war es aus. Nein, es gibt eine gewisse Orientierungslosigkeit, das glaube ich schon. Die Herausforderung für Kurz ist, hier als Kanzler das positive leadership noch stärker herauszuarbeiten, als er das bisher tut.
Muamer Bećirović
… aber die Leute mit Ecken und Kanten, von denen wir beide sprechen, die haben wir zwar an der Spitze, haben wir mit Kern, haben wir mit Strache, haben wir mit Kurz, aber langfristig?
Daniel Kapp
Wo hat Kern Ecken und Kanten?
Muamer Bećirović
… ich finde schon.
Daniel Kapp
Ecken und Kanten heißt ja, Restrisiko nehmen. Ich kann zwar pointiert reden, aber Ecken und Kanten bedeutet: Ich stell mich da jetzt raus und greif auch ein Projekt an, von dem ich weiß, dass es mich möglicherweise politisch massiv schwächen kann, aber mache es trotzdem, weil es notwendig ist. Das ist jetzt kein Aufruf zum politischen Selbstmord, aber es ist schon ein Appell, den einen oder anderen opportunistischen Kompromiss, der einen im Tagesgeschäft vielleicht über die nächste Runde rettet, vielleicht doch hintanzustellen und zu sagen: Was ist das big picture? Was ist der Film, den wir da schauen? Worum geht es in der Substanz? Es kann ja auch nicht der Erfolg der neuen Volkspartei sein, sich darin erschöpfen, dass „die Roten“ jetzt von den Fleischtrögen weg sind und andere an den Fleischtrögen sind. Das kann es ja auch nicht sein, aber so wird es auch nicht sein. Ich kenne das selber: Jetzt geht es gerade nicht, weil da sind Landtagswahlen in Niederösterreich. „Ah, da müss‘ ma‘ noch warten, bis Tirol gewählt hat. Ah, da müss‘ ma‘ noch warten, bis Salzburg gewählt hat.“ Irgendwann stellt sich dann die Frage: Worum ging es jetzt?
Muamer Bećirović
Zusammenfassend: Die Schwäche der politischen Klasse ist einer der Hauptgründe dafür, dass es diese Gruppierungen [damit sind rechtspopulistische Parteien wie AfD oder FPÖ gemeint; Anm.] gibt.
Daniel Kapp
Ja, das würde ich so sagen.
Muamer Bećirović
Eine Frage noch: Du hast mit ziemlich krassen Leuten zu tun, erfreulicheren und weniger erfreulichen. Was mich interessieren würde: Müssen „die Guten“ manchmal „etwas Böses“ tun, damit „die Guten“ gewinnen?
Daniel Kapp
(seufzt und überlegt eine Weile) Das ist sozusagen die Diskussion um den kategorischen Imperativ, oder? Ich war jahrelang in einer Jesuitenschule. (beide lachen) Beantwortet das vielleicht die Frage? (scherzend) … aber nein, du spielst an auf…?
Muamer Bećirović
… deine Erfahrungen im politischen Bereich …
Daniel Kapp
„Böses“ sollte man grundsätzlich nicht machen.
Muamer Bećirović
… aber damit „die Guten“ gewinnen?
Daniel Kapp
Was ist „böse“?
Muamer Bećirović
… Schlechtes, nicht Gutes.
Daniel Kapp
… „Böses“ geht gar nicht: dass man Dinge ausreizt, ja; dass man an Grenzen geht, ja; aber „Böses“ selber? Nein.
Lügen und nicht völlig transparent sein oder Dinge im Raum stehen lassen, da ist ein weites Feld (…)Daniel Kapp über den Unterschied von Lüge und Enthaltung
Muamer Bećirović
Machiavelli hat sinngemäß gesagt: „Wenn jeder danach trachten würde, moralisch korrekt zu handeln, dann würde er gegen jene untergehen, die nicht danach trachten moralisch korrekt zu handeln. “
Daniel Kapp
Ich versuche schon, moralisch korrekt zu handeln.
Muamer Bećirović
… aber in der politischen Kaste, so nach zehn, zwanzig Jahren, die du drin bist?
Daniel Kapp
Gib mir Beispiele dafür, was „böse“ ist!
Muamer Bećirović
Gibt es Lügen? Das ist doch „böse“!
Daniel Kapp
Lügen würde ich nicht. Lügen würde ich gerne versuchen, zu vermeiden.
Muamer Bećirović
… aber es gibt doch einen Grund, wieso man der politischen Kaste das Schlimmste oder zumindest Morallosigkeit vorwirft.
Daniel Kapp
Da ist schon viel Projektion dabei. Lügen und nicht völlig transparent sein oder Dinge im Raum stehen lassen, da ist ein weites Feld und in dem bedient man sich freilich auch in der Politik.