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Gespräch N° 61 | Kabinett

Claudia Gamon

„Es ist scheiße, wenn du andere passiv in den Tod treibst“

Der Liberalismus fordert Zeit seines Bestehens die freie Entfaltung und Autonomie des Individuums und will staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränken. Doch welche Antwort hat der Liberalismus, wenn das Individuum sich nicht mehr selbst helfen kann? Welche staatlichen Eingriffe sind mit dem Gedanken der Freiheit selbst in Einklang zu bringen, um den Menschen so vielleicht noch mehr Freiheit zu ermöglichen? Was ist Freiheit überhaupt? Ist man frei, wenn man im Gasthaus überall rauchen kann und darf? Oder ist man vielmehr frei, wenn man in qualmfreien Lokalen sitzen kann? Über Chancengerechtigkeit, das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und sozialem Ausgleich und die Zukunft des Bildungswesens.
Dieses Gespräch führte Muamer Bećirović und erschien am 10. August 2019, fotografiert hat Bernhard Ibl.

Podcast

Kopf um Krone – zum Zuhören.
Kopf um Krone – zum Zuhören.
Claudia Gamon: „Es ist scheiße, wenn du andere passiv in den Tod treibst“
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Muamer Bećirović
Frau Abgeordnete, meine erste Frage ist: Ist Österreich ein gerechtes Land und wo sind die größten Gerechtigkeitsdefizite?

Claudia Gamon
Die Frage ist, wie man Gerechtigkeit definiert. Aber ich glaube, Österreich ist natürlich schon in vielen Bereichen ungerecht. Was mir immer politisch ein Anliegen war, war das Thema „Generationengerechtigkeit“. Wie geht die Politik mit der Welt für die nächsten Generationen um? Können diese noch unter denselben Bedingungen leben, wie es die Generationen davor konnten? Gerade das Thema „Pensionen“ ist für mich, wenn wir über das Thema „Innenpolitik“ reden wollen, ein Schmerzensthema, würde ich sagen. Aber soziale Gerechtigkeit gibt es vor allem auch im Bildungsbereich in Österreich nicht. Chancengerechtigkeit in diesem Sinne heißt, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, im selben Ausmaß erfolgreich zu werden, weil sie dieselben Chancen haben, eine gute Bildung zu kriegen, dieselben Chancen haben, mobil zu sein. Das gibt es halt einfach nicht. Hier gibt es ordentlichen Aufholbedarf, was das Thema „Gerechtigkeit“ betrifft. Da ist die Frage, mit was man sich vergleicht. Natürlich ist Österreich mit der Welt verglichen wahrscheinlich relativ gerecht, aber es gibt immer noch Dinge, die man verbessern kann.

Muamer Bećirović
Johan Rawls, ein Harvard-Professor, hat die „Theorie der Gerechtigkeit“ definiert. Er hat sich gefragt: Wann sind ungerechte Verhältnisse denn gerecht? Er sagt, dass, wenn wir auf einer Insel leben würden, und keiner um seine Stärken und Schwächen Bescheid wüsste, wir uns dieselben Grundrechte zusichern würden, aber auch denselben Zugriff zu Ressourcen. Der eine würde im Laufe der Zeit erfolgreicher sein, der andere weniger. Er meint, es sei nur dann gerecht, wenn die Erträge der Starken und Erfolgreichen auch den Schwächeren zugutekommen würden. Meine Frage an dich ist: Kommen die Erträge der Starken denn heute optimal den Schwächeren zugute?
Claudia Gamon
Optimal sicher nicht. Das hat aber unterschiedliche Gründe. Es ist die Frage, ob wir philosophisch darüber reden wollen, oder gleich Tacheles, warum es nicht so ist. Allein schon, wenn man darüber nachdenkt, was wir uns im Staat leisten, das nicht bei den Menschen ankommt. Das ist schon ein Gerechtigkeitsthema, würde ich sagen. Es gibt dazu natürlich unzählige Beispiele, wo das Geld in Österreich überall versandet oder wie manche Parteien den Staat als ihren Geldbaum sehen, an dem man rütteln kann, wenn man wieder etwas braucht. Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Wenn man sagt, dass wir in einer gerechten Gesellschaft leben, dann muss man Menschen, die nicht dieselben Möglichkeiten haben, und nicht nur, wenn sie nicht wollen, sondern auch, wenn sie nicht können, die Möglichkeiten geben und sie unterstützen – unter anderem auch, um ihnen trotz alledem eine menschliche Würde, ein gutes Leben und die Chance auf Glückseligkeit, bis zu einem gewissen Grad, zu geben. Das sollte schon ein Anliegen sein. Deshalb sehe ich zum Beispiel auch das Thema eines athletischen Staates als ein Gerechtigkeitsthema, weil ich der Meinung bin, dass es nicht gerecht ist, dass der Staat das Geld mit beiden Händen herauswirft, während dieses nicht bei den Menschen ankommt, die es wirklich brauchen.
Dafür haben wir in guten Schulen viele Kinder, die vielleicht, wenn man die Maßstäbe anders ansetzen würde, dort nicht wären.Claudia Gamon über Chancengerechtigkeit
Muamer Bećirović
Wie sieht der athletische Staat denn konkret aus?
Claudia Gamon
Der athletische Staat kümmert sich darum, dass seine Leistung möglichst bei den Menschen ankommt. Das hat natürlich auch mit einer effizienten Verwaltung zu tun, das hat mit einem effizienten Förderwesen zu tun. Das hat generell damit zu tun, wie politische Entscheidungen getroffen werden; auch damit, dass man das nicht auf einer gefühlsmäßig-emotionalen Basis macht, sondern auf Evidenz. Im Gesundheitsbereich gibt es natürlich einige gute Beispiele, die man immer wieder hernehmen kann. Was bringt es dem Gesundheitswesen, wenn die Entscheidung, wo ein Krankenhaus stehen soll, nicht nach logischen Kriterien gefällt wird, sondern danach, wer wo Landeshauptmann ist, wo die Landesgrenze gezogen ist, und wer einen politischen Punkt damit machen kann, wo das Krankenhaus aufmacht. Das ist einfach nicht sinnvoll.
Muamer Bećirović
Warum ist die Sensibilität für Chancengerechtigkeit so gering? Die Parteien reden darüber, SPÖ, ÖVP und auch NEOS. Aber konkret können sie das nicht definieren. Ich erkläre mir das dadurch, dass die bürgerliche Klasse aus Verhältnissen kommt, in denen sie nicht weiß, wie es ist, aus benachteiligten Verhältnissen zu kommen. Können sich nur diejenigen „Freiheit“ leisten, weil sie sie sich eben leisten können? Also bist du deshalb liberaler, weil sie sich die Freiheit leisten können?
Claudia Gamon
Deine Vermutung ist jetzt, dass das Liberale nicht so sehen, oder wie?
Muamer Bećirović
Ja.
Claudia Gamon
Ganz im Gegenteil. Ich glaube, wenn es ein NEOS-Thema gibt, das uns von Anfang an immer begleitet hat, dann war das immer das Bildungsthema, und zwar aus dem Gedanken der Chancengerechtigkeit heraus. Alle Kinder sollen dieselben Chancen haben. Wenn man das rein rational berechnet sehen möchte, also allein volkswirtschaftlich, muss man einfach anerkennen, dass es so viele gescheite Kinder aus sozial benachteiligen Haushalten gibt, die nicht die Möglichkeiten kriegen, Nobelpreisträger zu werden, weil unser Bildungssystem ihnen nicht die Möglichkeit gibt. Dafür haben wir in guten Schulen viele Kinder, die vielleicht, wenn man die Maßstäbe anders ansetzen würde, dort nicht wären.

© Bernhard Ibl

Muamer Bećirović
Kämst du aus einem sozial benachteiligten Haushalt, wäre dann aus dir eigentlich eine Abgeordnete geworden? Ist es eigentlich so, dass sich liberales Gedankengut nur diejenigen leisten können, die aus keinem benachteiligten Hause kommen?
Claudia Gamon
Puh, keine Ahnung. Das ist eine komische Was-wäre-wenn-Frage.
Muamer Bećirović
Können sich liberale Gedanken denn nicht in dem Feld diejenigen leisten, die sich Freiheit sozusagen leisten können?
Claudia Gamon
Also unsere Mitgliederstrukturen und die Menschen, die ich hier kenne, sprechen eine andere Sprache. Das wäre ein akuter Gegenbeweis dafür. Man sagt mir oft, wir seien eine Akademikerpartei. Aber wenn man genauer hinschaut: Wir haben auch viele Abgeordnete, die nicht studiert, keinen akademischen Abschluss haben. Da könntest du stundenlang mit Sepp Schellhorn drüber reden.
Muamer Bećirović
Sicherlich. (lächelt)
Claudia Gamon
Ich glaube, was sicher hilft, ist ein bisschen aus seiner Blase herauszukommen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich eigentlich ein totales Landei bin. Ich merke schon, dass es einen Unterschied gibt, wenn ich mit Freunden aus Wien darüber spreche, die abgekapselt in Schulen aufgewachsen sind, wo man immer nur Freunde gehabt und Menschen kennengelernt hat, die ähnlich aufgewachsen sind wie man selbst.
Muamer Bećirović
Liegt das Bildungsdefizit nicht schlicht daran, dass man aus einem Haushalt kommt, dem die Bildung weniger relevant ist? Die Kritik am Bildungssystem verstehe ich, aber ist das substanziell Problematische nicht eigentlich im eigenen Haushalt zu suchen?
Claudia Gamon
Das ist ja der wesentliche Punkt. Du kannst nicht gesetzlich vorschreiben: „Eltern, lest euren Kindern am Abend bitte aus der NZZ vor!“ Das geht einfach nicht. Gerade beim Thema „Bildung“ sagen Konservative immer wieder – und ich überspitze das jetzt sehr bewusst: „Meine Kinder sind mein Eigentum und ich möchte absolut darüber bestimmen können, wie deren Bildungskarriere aussieht.“ Ich glaube, dass auch das den Kindern oft Chancen nimmt. Hier hat ein Bildungssystem, glaube ich, die Verantwortung und die Pflicht, auch Kindern Chancen zu geben, deren Eltern vielleicht einen anderen Pfad für sie vorgesehen haben. Denn das ist ein Freiheitsthema. Wie frei ist denn ein Kind, wenn die Eltern sagen: „Aus dir wird so-und-so!“, und das Kind gar nie die Möglichkeit hatte, die Welt der Möglichkeiten zu sehen? Das kannst du genau dann, wenn du ein Bildungssystem hast, das wirklich alle Möglichkeiten offenlässt. Ich glaube, Kinder mit 14 Jahren haben nämlich schon ein bisschen ein Gefühl dafür, wo sie hinwollen. Aber wo sie mit 14 Jahren hin können, wurde in Österreich meistens schon entschieden, als sie zehn waren.
Gerade beim Thema „Bildung“ sagen Konservative immer wieder – und ich überspitze das jetzt sehr bewusst: „Meine Kinder sind mein Eigentum und ich möchte absolut darüber bestimmen können, wie deren Bildungskarriere aussieht.“ Ich glaube, dass auch das den Kindern oft Chancen nimmt.Claudia Gamon über Bildung
Muamer Bećirović
Ich möchte vielleicht die Frage etwas refokussieren. Ich persönlich sehe schon Defizite im Bildungssystem, aber im Großen und Ganzen ist es okay, vor allem im weltweiten Vergleich. Wo ich mir aber denke, dass Defizite herrschen, ist vor allem im einzelnen Haus, in dem es schlicht und einfach das Bewusstsein nicht gibt: „Hey, Bursche oder Mädel, ich nehme dich mal zur Hand und bringe dir etwas bei!“ Welche Auswirkungen hätte denn – das fände ich spannend – so ein radikaler Schritt, bei dem die Kinder von acht bis 18 Uhr in der Schule sind und schlicht und einfach keine andere Wahl hätten, außer Bildung zu genießen? Das heißt, sie kämen am Abend nachhause, schliefen, und gingen schon wieder in die Schule? Wäre das eigentlich nicht die optimalste Lösung?
Claudia Gamon
Diese Vorstellung ist mir viel zu verknappt. Dass eine ganztägige Betreuungsform gerade auch Kindern aus sozial benachteiligten Haushalten hilft, ist – glaube ich – durch viel Evidenz belegt. Aber ganztägige Betreuung bedeutet ja nicht, dass die Kinder von acht bis 18 Uhr in der Schule sitzen und dort einen Frontalvortrag kriegen. Dort gibt es soziale Interaktion, verbringt man auch ein wenig seine Freizeit dort, macht Sport. Es ist also eine Vorstellung, in der das Schulwesen grundsätzlich anders funktioniert und die Schule kein Ort ist, in den du reingehst, um unglücklich zu sein, sondern du gerne hingehst, weil man lernen toll findet, weil man neugierig ist, weil dort die Freunde sind und so weiter und so fort. Dann ändert sich dieses Bild – glaube ich – schon. Aber einfach nur zu sagen, die Kinder würden abgeschoben und dann werde das schon gut gehen, das sehe ich nicht so.
Muamer Bećirović
Aber ist es nicht die Pflicht des Staates einzugreifen, wenn den Eltern das Kind egal ist, und zu sagen, dass wir es in die Hand nehmen, wie der akademische Verlauf oder Bildungsverlauf dieses Kindes ist?
Claudia Gamon
Ja genau, das würde ein gutes Bildungssystem machen. Aber es geht ja nicht darum, die Kinder wegzunehmen, sondern geht es darum, alle Chancen zu bieten. Nimm als Beispiel ein Kind, das aus bürgerlichem Haushalt kommt, bei dem die Eltern unbedingt wollen, dass das Kind Arzt wird. Der Bub wird auf das Theresianum geschickt und danach ist vorgesehen, dass er maturiert, um dann auf die Med-Uni zu gehen. Keine Ahnung, wie das Freizeitangebot am Theresianum ist, aber nimm eine super Schule, die ein super Nachmittagsangebot hat. Und da käme das Kind durch engagierte Lehrer drauf, dass es ein wahnsinniges Kunsttalent hat, und möchte dann unbedingt Maler werden. Hier würde sich die Freiheit für diesen jungen Menschen auftun. Das ist ja auch die Freiheit, zu wissen, wie groß die Welt ist, was es für Alternativen gibt, was man werden kann, was die eigenen Interessen sind. Das ist das, was ich unter gelebter Freiheit verstehe. Unter ihr weiß ich, dass es nicht nur das gibt, was mir meine Familie vorgegeben hat. Ich kann mich immer noch dafür entscheiden, wenn ich das für gut befunden habe, es meinem Charakter und meinen Interessen entspricht. Aber ich habe die Freiheit, noch etwas anderes zu machen. Das ist dann der Fall, wenn ein Bildungswesen mir diese Chancen aufgemacht hat.

© Bernhard Ibl

Muamer Bećirović
(nickt zustimmend) Zum Thema „absolute Freiheit“ ein Gedankenspiel: Wenn Unternehmen absolute Freiheit besäßen, dann würde ein sicherlich nicht kleiner Teil keinen Kollektivvertrag zahlen, sondern würden das zahlen, was der Markt hergibt. Wäre das gerecht?
Claudia Gamon
Ich glaube nicht einmal, dass das so wäre.
Muamer Bećirović
Das 19. Jahrhundert sagt etwas anderes.
Claudia Gamon
Es gibt genügend Unternehmen, in denen es anders ist, gerade wenn man in einer Branche ist, in der man sehr hart um Mitarbeiter kämpfen muss. Das sind mittlerweile extrem viele, in denen man auch Fachkräfte braucht. Dort rennen einem die Leute nicht die Türen ein, sondern man muss sich um jeden bemühen, der bei einem arbeiten würde. Es werden daher gute Bedingungen angeboten.
Muamer Bećirović
Hier reden wir vom hochqualifizierten Bereich.
Claudia Gamon
Von jedem Bereich. Du unterstellst im Endeffekt, dass man, sobald man Unternehmer ist, kein Interesse mehr hätte, dass es anderen Leuten gut geht, sondern es nur mehr um Profitmaximierung ginge. Das ist, finde ich, fast eine karikaturhafte Darstellung des Kapitalismus.
Das ist ja auch die Freiheit, zu wissen, wie groß die Welt ist, was es für Alternativen gibt, was man werden kann, was die eigenen Interessen sind. Das ist das, was ich unter gelebter Freiheit verstehe.Claudia Gamon über gelebte Freiheit
Muamer Bećirović
Nein, überhaupt nicht. Ich finde, die soziale Marktwirtschaft hat so viel Wohlstand gebracht wie noch nie. Man könnte fast sagen, dass sie das erfolgreichste Wirtschaftsmodell ist.
Claudia Gamon
Um auf deinen Fall zurückzukommen: Es ist deshalb nicht gerecht, weil es in einer gerechten Gesellschaft einen Ausgleich von ungerechten Machtverhältnissen gibt. Wenn du der Arbeitgeber bist und dir viele Mitarbeiter gegenüberstehen, dann ist das ein ungleiches Machtverhältnis. Deshalb finde ich ja auch die Organisation von Gewerkschaften und ein System von Kollektivverträgen sehr sinnvoll, um auch zu sagen, dass zur Gerechtigkeit auch bis zu einem gewissen Grad dazu gehört, dass man ein wenig über das Thema „Machtverhältnisse“ drübergehen kann. Schlussendlich ist ein Unternehmer immer in einer anderen Position, weil er viel Macht hat, Menschen einstellen kann, und da er ebenso Arbeitgeber ist, trägt er auch viel Risiko. Wir müssen jetzt nicht die halbe BWL-Einführungsvorlesung wiederholen. Ich finde das österreichische System in dem Fall nicht ganz verkehrt. Ich habe eher ein Problem mit der Art und Weise, wie ausgeprägt das ungleiche Machtverhältnis der Sozialpartnerschaft ist.
Muamer Bećirović
Ich verstehe schon. Das heißt, du selbst plädierst für einen starken Staat, der durchaus durchsetzungsfähig ist.

Claudia Gamon
Den „athletischen Staat“ nennen wir das …
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© Bernhard Ibl

Muamer Bećirović
… der durchaus Durchsetzungskraft hat. Wenn ich dem Unternehmer absolute Freiheit überließe, dann bin ich mir ganz sicher, dass ein beträchtlicher Teil den Menschen weniger zahlen würde, als es der Kollektivvertrag vorsieht. Nehmen wir ein Beispiel: In einer Bäckerei oder einer großen Bekleidungsfirma verdient eine Person 1100 Euro für 40 Stunden netto. Jetzt kann ich fragen, ob das gerechte oder weniger gerechte Verhältnisse sind. Was ich nur kritisiere, ist, dass wir da fast schon von einem Existenzminimum reden. Das heißt, wenn der Unternehmer selbst keinen Profit machen würde, gibt es in dem Fall aber auch viele Aufstocker, die arbeitstätig sind, aber trotzdem aufstocken …
Claudia Gamon
… in der Mindestsicherung.
Muamer Bećirović
Genau. Die Frage, die ich mir stelle, ist: Wenn der Unternehmer mehr verdient, und es zulassen würde, diesen Leuten mehr zu bezahlen, warum tut er es dann nicht?
Claudia Gamon
Also das sind jetzt extrem viele Themen zusammen. Allein schon die Behauptung, der Unternehmer würde das nicht tun, basiert ja in dem Fall auf einem Bauchgefühl oder anekdotischer Evidenz.
Muamer Bećirović
Historischer Evidenz.
Claudia Gamon
Ich kann ja nicht einen Blick auf die Welt von vor 150 Jahren hernehmen, um jetzt politische Systeme zu bewerten.
Mehr Wettbewerb ist als Prinzip zu verstehen, bei dem gute Ideen vorankommen. Alles ist ständig im Wettbewerb!Claudia Gamon über den Wettbewerb
Muamer Bećirović
Nein, überhaupt nicht. Aber glaubst du, dass die Leute vor 150 Jahren weniger tugendhaft waren als heute?
Claudia Gamon
Ich glaube, dass sich die Welt immer weiterentwickelt hat und wir auf der ganzen Welt noch nie so gut gelebt haben wie jetzt. Hier muss man schon auch einmal den Punkt machen. Denn die Menschheit ist schon von Jahr zu Jahr gescheiter geworden, was den guten Umgang miteinander angeht, wie man eine Gesellschaft gut bauen kann, wie man möglichst viel Chancengerechtigkeit schafft. Deshalb tue ich mir sehr schwer mit solchen historischen Vergleichen, weil damals sehr vieles scheiße war. Das ist ja das Tolle am Fortschritt und daran, dass man lernt, wie gut es ist, miteinander umzugehen.
Muamer Bećirović
Gibt es denn Gesellschaftsbereiche, bei denen du sagst, dass der Wettbewerbsgedanke dort keinen Platz hat? Nehmen wir jetzt als Beispiele Krankenhäuser, Wasserversorgung, bei denen du sagen würdest: „Dort ist dem Wettbewerb die Grenze gesetzt!“
Claudia Gamon
Mehr Wettbewerb ist als Prinzip zu verstehen, bei dem gute Ideen vorankommen. Alles ist ständig im Wettbewerb! Du hast ja in jedem Fall immer ein Modell, das besser funktioniert. Wenn du sagst, du vergleichst zum Beispiel Gesundheitssysteme in der Welt mit einander – was produziert das beste Input-Output-Verhältnis? Dann ist das auch ein Wettbewerb, weil du den Vergleich hast – und du kannst dich immer noch entscheiden, ob du ein anderes Modell haben willst und Dinge anders leben möchtest. Also ich weiß schon, worauf du hinauswillst, aber ich wüsste jetzt auch kein Beispiel, bei dem du das österreichische Gesundheitswesen hernehmen …
Muamer Bećirović
… oder Pensionssystem zum Beispiel. Man könnte es wie in den Vereinigten Staaten organisieren, wo es Privatfonds gibt, oder ich kann es auch mit Umlagen gestalten.
Claudia Gamon
… oder ich nehme weder das eine noch das andere und mache ganz etwas Verschiedenes, wie es zum Beispiel die Schweden gemacht haben. Das ist, was wir uns gerne hernehmen würden. Bei diesen politischen Vergleichen finde ich immer ganz lustig, wenn dann Leute beispielsweise sagen, sie wollten das amerikanische System. Ganz ehrlich: Wenn man sich politische Vergleiche hernimmt und aus einem anderen Land ein Beispiel ansieht, dann will ich natürlich die Dinge hernehmen, die funktionieren, und nicht alles Vertrottelte abschreiben und kopieren.
Muamer Bećirović
Eh klar.
Claudia Gamon
Ja, irgendwie logisch. Deshalb glaube ich bezüglich des Pensionssystems: Jeder Experte, der in dem Fall nicht der SPÖ nahesteht, sagt, dass das österreichische Pensionssystem nicht nachhaltig und generationengerecht ist. Es wird uns wahrscheinlich sowohl in die Altersarmut führen als auch in die Budgetkatastrophe. Ein Worst-Case, wie man es bauen kann. Und dann ist einerseits die Frage: Wie es sein kann, dass diese Realität noch nicht politische Realität geworden ist und von allen Beteiligten anerkannt wird? Wenn es denn so wäre, dann könnte man sich endlich Gedanken darüber machen, was wir dann tun. Wir haben unser Modell sehr stark an das schwedische Modell angelehnt, unter anderem auch deshalb, weil wir berücksichtigt haben, dass die Schweden vor ihrer Reform ein System hatten, das dem österreichischen Modell sehr ähnlich war. Die Schweden sind aus diesem System herausgekommen und haben das System nachhaltig gebaut. Dann pickt der politische Gegner natürlich gerne einen Teil heraus und sagt: „Das ist wie hier und da und hat dort zu einer Katastrophe geführt!“ Das ist so unsachlich und destruktiv. Das ist etwas, das mich an der ganzen politischen Debatte so furchtbar ärgert.
Muamer Bećirović
Ich sehe bei den NEOS auf der einen Seite das Bedürfnis nach größtmöglicher Freiheit, und auf der anderen Seite doch den sozialen Ausgleich. Was ich mich bei euch immer frage, ist: Wo zieht ihr die Trennlinie bei der Freiheit in einer Balance zwischen Gerechtigkeit oder sozialem Ausgleich?
Wenn man sich politische Vergleiche hernimmt und aus einem anderen Land ein Beispiel ansieht, dann will ich natürlich die Dinge hernehmen, die funktionieren, und nicht alles Vertrottelte abschreiben und kopieren.Claudia Gamon über politisches Copy-und-Paste
Claudia Gamon
Hast du ein Beispiel, an dem du uns aufhängen willst?
Muamer Bećirović
Nehmen wir zum Beispiel den Mindestlohn. Jetzt kann ich sagen, dass ich als Unternehmer so viel zahle, wie ich will. Ich zahle das, was der Gesetzgeber als Mindestlohn vorsieht. An dieser Stelle würde mich interessieren, wo ihr denn ganz präzise die Trennlinie zieht, wann der Unternehmer den Mindestlohn zu zahlen hat und wann ihm freigestellt ist, wie viel er zahlen will?
Claudia Gamon
In dem Fall ist es aus einer volkswirtschaftlichen Überzeugung heraus, dass die Evidenz einfach sagt, dass ein Mindestlohn nicht dazu führen wird, dass alle mehr gezahlt kriegen. Ich glaube, dass wir uns in Österreich oft schwer damit tun, uns darüber zu unterhalten, was wir eigentlich wollen und dann ein entsprechend gutes Instrument zu führen, was uns dort hinbringt. Wenn das Ziel ist, dass alle Menschen möglichst gute Jobs haben, die gut bezahlt sind, von denen man leben kann, und dass es zusätzlich ein Auffangnetz für jene gibt, die gerade keinen Job oder keine Möglichkeit haben, einen zu finden, oder keine Möglichkeit haben, zu arbeiten, dann hast du auf der politischen Menükarte unterschiedliche Maßnahmen, die dir dazu zur Verfügung stehen, und du hast für jede Maßnahmen eine Reihe an Evidenz, ob sie denn überhaupt zu diesem Ziel führt oder nicht. Jetzt gibt es relativ viele Belege dafür, dass ein Mindestlohn dieses Ziel nicht erfüllen kann, sondern, dass die Frage einfach wesentlich komplexer ist.
Muamer Bećirović
Absolut. Eine generelle Maßnahme ist er wahrscheinlich nicht, weil die Sache von Branche zu Branche unterschiedlich ist. Aber ich möchte gerade auf das ganz Spezifische gehen. Nehmen wir als Beispiel ein Unternehmen, das Zeitungsträger beschäftigt. Jetzt kann der Unternehmer sagen, er könne es sich nicht leisten, sie nach dem Mindestlohn zu zahlen, weil Mitarbeiter Jobs dadurch verlören oder man Jobs streichen müsste. Auf der anderen Seite ist der Mindestlohn immerhin das Mindeste. Wo ziehe ich die Balance?
Claudia Gamon
Auf einer ganz philosophischen Ebene geht es dabei um ein Verständnis davon, was der Staat machen muss, was die Politik machen muss. Ich bin nicht der Meinung, dass die Politik Entscheidungen darüber treffen sollte, wie hoch die Löhne sind. Wir entscheiden ja auch nicht darüber, wie hoch die Preise sind. Ich finde, es ist ein gutes System, dass sich das Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Österreich in vielen Bereichen gemeinsam ausmachen, unter anderem auch, weil dort die Lebensrealität der Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgebildet ist. Allein schon der Glaube, dass im Nationalrat mehr Menschen eine Ahnung davon hätten, was angemessen für irgendeine Branche ist, ist irre.
Muamer Bećirović
Verstehe. Es geht ja auch immer bis zu einem gewissen Grad über den Leistungsbegriff, bei dem es heißt, dass derjenige, der etwas leistet, mehr haben sollte, als derjenige, der das nicht tut.
Claudia Gamon
Ja. Aber ich möchte vielleicht noch etwas dazusagen. Was uns NEOS schon immer wichtig war, ist, dass du trotz alledem, wenn das Leben einfach ungut zu dir war, und du ein Unglück hast, es immer jemanden gibt, der dich auffängt. Das muss ein Sozialsystem leisten können. Das muss auch eine Art Mindestsicherung leisten können. Jetzt wissen wir aber auch, dass in Österreich das System, das für viele nicht leisten konnte. Ich bin mir sicher, dass die Variante, die von der Regierung jetzt vorgeschlagen wird, wenn überhaupt, eine Verschlechterung ist. Das ärgert mich auch an der ganzen Sache, weil diese Regierung (bezieht sich auf die Regierung Kurz 2017-2019; das Gespräch wurde vor Bekanntwerden der sogenannten „Ibiza-Affäre“ rund um die FPÖ aufgenommen; Anm.) immer davon spricht, dass der, der arbeite, nicht der Dumme sein solle. Aber dann will ich doch ein Sozialsystem bauen, das auf jeden Fall ein Sprungbrett in den Arbeitsmarkt und dadurch auch in die Selbstbestimmtheit ist. Der Grund, warum wir Liberale auch diese Themen so stark miteinander verknüpfen und es erstrebenswert finden, dass ein Sozialsystem dir zwar einerseits die Angst nimmt, und dir das Gefühl gibt, du seist gut aufgehoben, aber andererseits auch wirklich ein Sprungbrett zurück in den Arbeitsmarkt ist, ist, weil wir das Thema „selbstbestimmtes Leben“ so in den Vordergrund stellen. Wir möchten nicht, dass jemand von einem Staat auf Dauer abhängig sein muss, sondern, dass er selbstbestimmt sein Leben leben kann, weil das auch Freiheit bedeutet.
Muamer Bećirović
Aber wie lässt sich die größtmögliche Freiheit mit der Gerechtigkeit ausbalancieren? Das ist eigentlich die Frage.
Claudia Gamon
Ich sehe die größtmögliche Freiheit nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeit.
Das heißt, wenn du mehr Verantwortung für den Nächsten übernimmst, wächst deine Freiheit in Summe, weil du weniger vom Staat abhängig bist und wir dadurch alle weniger vom Staat abhängig sind.Claudia Gamon über die Beziehung von Pflicht und Freiheit

© Bernhard Ibl

Muamer Bećirović
Das heißt, du meinst: Wenn jeder die größtmögliche Freiheit für sich erreicht hat, bedeutet das automatisch, dass es gerecht ist.
Claudia Gamon
Ich glaube, wir sind jetzt ein bisschen in das Philosophische abgebogen. Ich versuche, ein Beispiel dafür zu finden. Eine größtmögliche Freiheit ist halt auch immer relativ. Wir Liberale sehen Freiheit auch immer in Relation zur Freiheit des anderen. Wenn die Freiheit des anderen eingeschränkt ist, dann ist meine Freiheit vielleicht gar nichts wert. Ich habe einmal ein Paper im Zusammenhang mit der FDP gelesen, in diesem ist es um die liberale Gesellschaft gegangen und wie man sich überhaupt so ein Gesellschaftsbild vorstellt. Es ging auch darum, auf einer ganz theoretischen Ebene erklären zu können, wie viel Staat es braucht. Die Idee war, dass du in einer Bürgergesellschaft lebst, in der sich jeder auch mit Freude für die Freiheit des anderen einsetzt, weil man weiß, dass in Summe, wenn wir uns mehr um einander kümmern, sich der Staat weniger um uns kümmert und er uns ein bisschen weniger auf die Nerven geht. Das heißt, wenn du mehr Verantwortung für den Nächsten übernimmst, wächst deine Freiheit in Summe, weil du weniger vom Staat abhängig bist und wir dadurch alle weniger vom Staat abhängig sind. Das ist super theoretisch und ist auch nicht auf alle Beispiele anzuwenden, aber ich mag den Gedanken dahinter einfach. Ich halte es eben nicht für liberal, zu sagen, ich möchte die größtmögliche Freiheit und der Rest ist mir egal, sondern der ganzheitliche Liberalismus beschäftigt sich auch mit der Freiheit aller, die an der Gesellschaft teilhaben.
Muamer Bećirović
Ist das dann nicht eher der soziale Liberalismus und weniger der klassische? Soweit ich den Liberalismus kennengelernt habe, kennt er keine Tugenden. Er hat Gesetze, an die sich Menschen zu halten haben, aber er vermittelt keine Tugenden.
Claudia Gamon
Aber ich bin ja trotzdem nicht frei von Moral.
Muamer Bećirović
Das habe ich nicht gesagt. Ich rede eher über den ideologischen oder philosophischen Aspekt. Für einen Christlich-Sozialen ist es die Schöpfung und es gibt einen Gott, der sagt, man habe auf den anderen zu achten. Bei den Sozialdemokraten ist es: „Wir kommen aus der unteren Kaste, und wir haben auf einander aufzupassen!“ Was ist es bei den Liberalen?
Claudia Gamon
Das empfinde ich als das Schöne an den Liberalen in diesem Sinne. Ich glaube, wir haben alle eine gemeinsame Basis, aber es hat sicher jeder seinen persönlichen Lieblingsphilosophen, den er sich hernimmt, an dem er sich am ehesten orientieren möchte. Das ist vielleicht der Unterschied zum Christlich-Sozialen: Wir haben nicht eine Bibel. Es gibt ganz viele Bücher, auf die wir uns gerne beziehen. (Bećirović lacht) Daher könnte ich auch nicht eine Definition des politischen Liberalismus hernehmen, da dieser sich über die Zeit sehr gewandelt hat. Ich glaube auch, dass sie der Zeit entsprechen muss. Eine politische Philosophie ist nichts wert, wenn sie nicht in die Zeit passt.
Muamer Bećirović
So wie dich richtig verstanden habe: Es muss jedes Mal neu überprüft werden, wie die größtmögliche Freiheit mit der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen ist.
Claudia Gamon
Ja. Es ändert sich ja auch manchmal die Perspektive. Nehmen wir das Thema Rauchverbot als Beispiel. Ich glaube, für eine Weile lang war das für Liberale ein rotes Tuch im Sinne von „Meine Freiheit ist eingeschränkt!“. Aber man lernt immer dazu und erkennt einfach, weil die Gesellschaft mittlerweile anders darauf reagiert, dass es scheiße ist, wenn du andere Leute passiv in den Tod treibst. (Bećirović lacht).